Freitag, 19. Dezember 2008

The Missing Christ

Gelesen:
Jean-Bernard Pouy, 1280 Ames
Jim Thompson, Pop. 1280


Because it was realy pretty god-danged sad, now, wasn't it? It was a god-danged sorry state of affairs. Really downrigt sad.

Jim Thompsons Buch Pop. 1280 hat in der französischen Übersetzung von Marcel Duhamel den Titel: 1275 Ames. In Jean-Bernard Pouys Roman 1280 Ames wird Pierre Gondol, Antiquar und Literaturdetektiv, beauftragt, die verlorengegangenen fünf Seelen zu suchen. Die fünfte und letzte ist am schwersten aufzutreiben, erst auf der buchstäblich letzten Seite zeigt sich, es ist Le Christ qui manque aux hommes, et qui a peu à peu DISPARU.

In Chandlers Philip Marlowe wird gern eine Reinkarnation des Christus gesehen, bei Thompsons Held Nick Corey liegt diese Idee nicht unmittelbar und auf den ersten Seiten nahe, und doch: Darüber belehrt, seine Wiedergabe von Population 1280 mir 1280 Souls sei falsch, da man beim Zensus notgedrungen die Neger habe mitzählen müssen, die bekanntlich keine Seele haben, führt Corey als Gegenbeleg seine schwarze Amme und seine verschiedenen schwarzen Geliebten ins Feld, Caritas und Amor also, die zwei Grundformen der Liebe. Er erfährt daraufhin, Saugen an einem Euter beseele keine Kuh und Sodomie nicht das Schwein. Der zaghafte Versuch einer Religion der Liebe ist umgehend gescheitert, die Welt will keine Erlösung.

Einige merken, daß Nick Corey sich tarnt und den Ignoramus mimt, und auch der findige Leser merkt schnell, alles Handeln ist darauf abgestellt und Teil eines großen Plans, die Wiederwahl im Amt des Sheriffs zu sichern. Aber auch diese Wahrheit ist Tarnung und bloße Ablenkung, hinter dem großen Plan steht der Plan eines Größeren. Der mit dem Angebot der Liebe gescheiterte und auf alttestamentarische Tugenden zurückgefallene Gott hat seinen eingeborenen Bastard Nick Corey gen Pottsville & Gomorrha in Potts County entsandt, die Sünder zu verderben, und Corey weiß um seine Mission. Aber hinter der zweiten Wahrheit schaut wieder die erste hervor. Wenn es um die Durchführung seines Plans geht, räumt Corey nicht nur Sünder, sondern auch halbwegs Gerechte aus dem Weg. Der große Plan und der Plan des Größten geraten durcheinander. Corey ist der Gesandte Gottes, aber man hat einander schon bald aus den Augen verloren, und wiederum doch nicht ganz: Or maybe I mean this that I'm the Saviour himself, Christ on the Cross come right here to Potts County, because God knows I was needed here. I shuddered, thinking how wonderful was our Creator to create such downright hideous things in the world, so that something like murder didn't seem at all bad by comparison. I'm the High Sheriff of Potts County, all I can do is follow the pointin' of the Lord's finger. Blasphemius filius Dei. - Die Grundzüge des Heilsgeschehens sind auch denen, die das Buch nicht gelesen haben, aus Bertrand Taverniers nach Afrika verlegten Verfilmung Coup de Torchon (Der Saustall) bekannt.

Nicht wenige sehen in Chandler, Hammett und eben James Meyers Thompson die klassische Triade des amerikanischen Schwarzen Romans. Jim Thompson steht uns vor Augen als die überaus feine Gestalt des sehr reichen und sehr alten Richters Grayle in der Verfilmung des Chandlerromans Farewell my Lovely von Dick Richards aus dem Jahre 1975. Richter Grayle-Thompson betritt den Salon, findet dort Mrs. Grayle-Rampling und Marlowe-Mitchum, den Detektiv, in einer eindeutigen Situation, schaut nur einen Augenblick traurig ins Leere, wie in eine falsche Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten ist, und verläßt das Zimmer wieder. Nur zwei Jahre später ist Thompson, der ganz und gar andere Bücher geschrieben hat, als der Richter Grayle oder sonst jemand sie hätte schreiben können, gestorben, gar nicht einmal so sehr alt, mehr oder weniger verhungert, wie es heißt.

Sonntag, 14. Dezember 2008

Descartes

Gelesen: Durs Grünbein, Der cartesische Taucher
Teils gelesen, teils wiedergelesen: Descartes, Discours de la Méthode

And I take the one who finds me back to where it all began
when Jesus was the honeymoon and Cain was just the man.

Den Discours de la Méthode, Éditions Garnier Frères, 2, 90 DM, wie heute noch zu lesen ist, habe ich gekauft in einer Zeit, als sie alle noch gleichmäßig vortraten und Stimme und Recht einforderten: Plato, Cusanus, Descartes, Kant, Hegel, Schopenhauer, Marx, Heidegger, Adorno, Sartre und Lévi-Strauss, der inzwischen hundert Jahre alt geworden ist, diese und andere noch, die den Juror, der für sich selbst die endgültige Wahrheit suchte, völlig überforderten. Als dann aus der historischen Perspektive sich einerseits ein Relief ergab und andererseits die Wahrheit sich als essentiell schwankend erwies, wurde vieles weniger dringlich und auch der Discours wanderte in eine der entlegensten Ecken der Bibliothek, ein kleines Wunder, daß er wieder hervorgezogen werden konnte. Es ist nicht so sehr Grünbeins Rettungsversuch des verfemten Rationalisten, der des Verlangen nach erneuter Bekanntschaft hervorrief, sondern die kleine schwarze Gestalt, die er auf den verschiedensten Bildern der niederländischen Meister entdeckt, vornehmlich in den Winterlandschaften der Kleinen Eiszeit, bei Teniers d.J., bei den Bruegels, bei Jan van der Heyden, und bei der es sich jeweils, wie er sich und uns glauben macht, um Descartes handeln könnte. Den kleinen, schwarz gekleideten fremden Mann besser kennen zu lernen, schien es wert, sich dem Staub abgelegter und vergessener Bücher auszusetzen.

In der Vergessenheit und falschen Erinnerung war der Discours zu einer Art der Kritik der Vernunft im Embryonalzustand geworden, Grünbein hält dafür, daß die Nähe zu Montaigne größer ist als die zu Kant. Descartes plaudert den auch zu Anfang angenehm leicht aus seinem tatsächlichen und aus seinem intellektuellen Leben. In der kleinen Eiszeit der Vernunft bewegen sich die Moleküle der Vernunft in übersichtlicher Weise, vier Schritte braucht es für die Erkenntnis, vier Regeln für die Moral, das reicht. Dann aber wird es ernst und doch kantmäßiger, der Rechner wird heruntergefahren: Cogito ergo sum. Beim Restart benötigt Descartes dann aber doch externe Hilfe, Gott, der Klarheit & Distinktheit der Ideen in der Weise belohnt, daß es dann auch die richtigen sind. Die Freunde der Aufklärung unserer Tage glauben in ihrer Mehrzahl nicht mehr an Gott, seltsamerweise aber daran, daß er über kurz oder lang Demokratie und Toleranz in der Weise belohnen wird, daß alles gut wird. Er aber, der laut Cusanus jenseits aller Unterscheidungen ist , also auch jenseits der von Sein und Nichtsein und der auch im Nichtsein spürbar höher ist als alle Vernunft, wird uns diesen Gefallen ganz sicher nicht tun.

Descartes gibt sich betont bescheiden, die Bescheidenheit ist aber wohl ein wenig aufgesetzt. Letztlich hält er sich für Gulliver, der im Land der Liliputaner die Fesseln seiner Erkenntnis sprengen will, und ist doch selbst, wie wir alle unausweichlich, ein Angehöriger des Stammes Liliput, der die eigentlichen Fesseln gar nicht spürt. Grünbein sieht in zwar als die kleine schwarze Gestalt in der Peripherie der Bilder, widmet das abschließende Gedicht im Buche aber Jürgen Habermas und nicht etwa Niklas Luhmann, wie Descartes selbst es vielleicht getan hätte, wenn unter den Wissenschaften, die er in seiner Jugend studieren konnte, auch bereits die Soziologie gewesen wäre. Aber auch die Soziologie wurde wohl erst nach und als eine der Antworten auf Descartes möglich. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn bereits Descartes, in diesem frühen Stadium, den bekannten Stoßseufzer hätte seufzen können: Nie wieder Vernunft!

Und doch, die kleine schwarze Gestalt am Bildrand, losgelöst vom Geschehen und von den Vielen, auf eigenem Weg in der Weiße des Schnees und in der Eiseskälte der Welt. Auf Bruegels Bild von der Winterjägern vielleicht der, der kaum sichbar auf dem Hauptweg fast schon das Dorf erreicht hat, oder der, der weiter rechts hinter dem den letzten Weiher begrenzenden Damm ins Feld hinausstrebt.

Freitag, 12. Dezember 2008

Der Schatten


Wir richteten uns ein in dem weitläufigen Quartier. Ein jeder würde seine herrliche Unterkunft finden und niemand den anderen beneiden müssen. Uns in den verwinkelten Anlagen dann gegenseitig zu besuchen, würde nicht einfach sein und auf den Gängen viel Freude und Gelächter hervorrufen. Umso leichter war es für alle, den großzügigen Gemeinschaftstrakt zu erreichen. Die zwei Rechnungen auf dem Vertiko nahm ich an mich, das ging schon in Ordnung so. Zum Teil waren wir eng befreundet, zum Teil aber auch nur bekannt untereinander. Wie radikal würden die politischen Ansichten der beiden Buchhändler sein, und wie rücksichtslos würden sie sie vertreten wollen. Eine Wolke zog vor die Sonne und ein Schatten lief durch den Raum. Die beiden Rechnungen legte ich besser zurück an ihren Platz, so viel Großzügigkeit mochte dann doch unangebracht sein. F. war, das fiel mir plötzlich auf, im Verhältnis zu mir außergewöhnlich klein. Das mochte an dem unregelmäßigen schwarzen Steinfußboden liegen, aber auch als ich mich bewußt in eine Senke stellte, überragte ich F. noch deutlich. Er lachte, sein verwittertes Kevin Costnergesicht blieb freundlich, es focht ihn nicht an, mochte es nun wahr sein oder nicht. Ich schaute ihm nach, wie er sich durch den Raum und zwischen den anderen hindurch auf die Küche zu bewegte. Mein Vertrauen war zurück, es würde ein schöner Aufenthalt werden.

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Fontane

Wiedergelesen: Cécile
Es ist hier mehr Tragödie zu Haus, als Sie wissen.

Hat man einmal begonnen, seinen Favoriten kleine Denkmäler zu setzen, stellt sich bald die Gerechtigkeitsfrage ein: der und der darf nicht vergessen werden, und wo bleiben die Dichterinnen – ein schönes Beispiel dafür, daß sich Gerechtigkeit oft nur in den Köpfen ihrer Spender abspielt, während die, denen sie zuteil werden soll, davon nicht einmal angeweht werden.

Cécile, der Name läßt an die fast transparenten Frauengestalten Sebalds denken, auch an Mme. Landau und Marie de Verneuil, es läßt an Marienbad denken und an Deauville. St. Arnaud, das klingt wie Landau und hat die Höhe von de Verneuil. Der Kurort freilich, in dem hier große Teile des Geschehens sich abspielen, heißt Thale und liegt im Harz, man hat sich also wohl doch getäuscht mit seinen Assoziationen. Herr von Leslie-Gordon aber, der weltkundige preußische Schotte, weiß sofort, was wir nur ahnen: Cécile de St. Arnaud gehört nicht nach Thale, sondern nach Brighton oder Biarritz.

Ein Hauch von Guermantes also, mehr aber nicht, Fontane selbst fühlt sich offenbar wohl im Harz am Fuße des Hexentanzplatzes. Der zum nahezu Metaphysischen erweiterte Glanz der Belle Epoque, der, bei aller rücksichtslosen Bloßstellung ihrer realen Trivialität, über Prousts Gesellschaft liegt, fehlt bei Fontane. Und noch eins, wenn schon eine Verbindung zu Proust hergestellt wurde: In der Recherche fehlen Dialoge in wörtlicher Rede fast vollständig, und die wenigen, auf die wir stoßen, können auf ein Niveau sinken, bei dem auch ein Lektor des Basteiverlags ins Grübeln geraten möchte. Fontanes Romane leben, im krassen Gegensatz dazu, von der ungeschmälert vorgeführten kunstreichen Causerie, die einen Schein von Unverzichtbarkeit und Ewigkeit hat: Je cause, donc je suis et ne dois pas mourir. Und es ist ja wahr, die Causerie ist die reine Gegenwart, und in der reinen Gegenwart gibt es den Tod nicht, sum ergo sum. Die Personen plaudern denn auch unverändert weiter, wenn sie allein sind, Fontane fordert ihnen sehr viel ab hinsichtlich der stilistischen Tadellosigkeit ihrer Selbstgespräche.

Von Cécile geht von Beginn an eine Störung der fortwährenden Plauderei aus, bestimmte, im einzelnen aber zunächst nicht bestimmbare Themenfelder dürfen offenbar nicht berührt werden, ein Geheimnis aus der Vergangenheit stört die reine Gegenwart und zerstört sie schließlich. Die direkte Kommunikation unter Anwesenden verläßt die Ebene der Causerie, greift zurück in Vergangenes und will Zukunft und tritt allmählich insgesamt zurück zugunsten Formen indirekter Kommunikation, Depeschen und Briefe. Die Illusion ewiger Gegenwart im Geplauder, vermutlich nahe an dem, was Benn als das immerfort Pläsirliche bei Fontane gescholten hatte, ist verscheucht. Gegen Ende mutiert die Erzählung vollends zum Briefroman und der Tod fordert umfassend sein Recht ein. Hinter der Schwerelosigkeit der Gegenwart stand fortwährend die Kälte der Regeln und Gesetze, dahinter möglicherweise die Liebe, von der in diesem Buch Cécile und der Hofprediger wissen. Effis Briests Schlußwort zu diesem Schichtenmodell ist allen bekannt: So gut wie jemand sein kann, dem die Liebe fehlt.

Fontane gehört zu den Erzählern des 19. Jahrhunderts, die eine Welt vor Augen haben, die fast im Lot zu sein scheint, das letzte Zurechtrücken aber nicht möglich. Die Einsicht, es sei den Menschen nicht gegeben, eine Lüge zu beseitigen, ohne zehn Wahrheiten zu umzustürzen, wird er kaum von sich gewiesen haben. So beläßt er es im letzten Satz des Romans mangels Besserem beim Frieden Gottes, der über alle Vernunft ist. Religiöse Inbrunst ist kein auffälliges Merkmal Fontanes, eher hat er, wenn er Gott sagt, eine vakante Stelle im Auge, für es keinen hinreichend seriösen Nachfolger gibt. Wie hatten wir bei Updike aus einer ganz anderen Welt im Jahre 2020 gelesen: Our minds harry God from every covert, and yet he lives within. He is killed, and killed, and yet not. – Soviel scheint sich dann doch nicht getan zu haben in mehr als hundert Jahren. Sebald, dessen transparente Frauen uns erst zu Cécile gebracht hatte, schließt die Akten allerdings endgültig bereits im Jahre 2013. Viel Zeit ist also nicht mehr, man hört es ohnehin von verschiedenen Seiten.


Samstag, 6. Dezember 2008

Terre des Hommes

Erst neulich hatte ich einen Traum, dessen Eigentümlichkeit darin bestand, daß er, wenn auch auf eine zunehmend befremdliche Art, behaglich stimmte und den Charakter des Albtraums erst nach dem Erwachen vollends offenbarte. Mit Freunden hielten wir uns zur Erholung in einem bayerischen oder österreichischen Feriengebiet auf, und aus einer kleinen Mißstimmigkeit heraus oblag es mir, einen Rucksack zurück ins Hotel zu tragen. Damit war ich naturgemäß auf einem dieser langen Wege, die nie zum Ziel und Ende führen. Das Hotel war nicht zu finden, und dann fehlte der Zimmerschlüssel oder besser, der Schlüssel zu unserem Ferienbungalow, denn unversehens und gleichsam im Rücken des Geschehens hatte sich die Berglandschaft, soweit das Auge reichte, in ein riesigen und großzügig ausgestattetes, von einer gläsernen Kuppel überdachtes und zum Horizont hin es abschließendes Erlebnis- und Wellnessressort verwandelt. Überall animierende Trachtengruppen und Eventvorrichtungen, in der Hauptsache aber allenthalben Feriengäste, die, dabei bestenfalls die kürzesten und stumpfsten Worte wechselnd, pausenlos beschäftigt waren, sogenannte lukullische Glanzlichter in sich hineinzustopfen. Am Hosenbein hing mir nun schon sahnemariniertes Krebsfleisch, denn schließlich hatte ich mir keinen anderen Weg mehr zu bahnen gewußt als den mitten durch das sahnemarinierte Krebs- und Garnelenfleisch, die Lobster und die Langusten hindurch. Unsere Gruppe hatte sich, wenn wohl auch in veränderter Zusammensetzung, inzwischen wieder vereint, und in unserem Schrecken erkundigten wir uns nach dem Weg zur Dachterrasse, auf der wir Frieden zu finden hofften. Als wir aber die gewiesene Tür nach draußen aufstießen, ging es uns nicht anders als Chaplin, als er am Morgen die Tür seines über Nacht verrückten Blockhauses öffnete, und wir schauten auf ein verödetes und vom Leben entvölkertes Land wie in einen Abgrund.

Freitag, 5. Dezember 2008

Kafka

Wiedergelesen: Beim Bau der chinesischen Mauer

C’est comme relire un paragraphe de Kafka. On ne comprend pas pourquoi c’est si extraordinaire.

Es gibt diejenigen, die das Übliche ein wenig oder auch deutlich schöner ausdrücken als üblich, und diejenigen, die das Übliche mit traumwandlerischer Sicherheit und, da sie gar nicht anders können, gleichsam unter Zwang umgehen. Die Erstgenannten sind die Beliebten, die anderen die Wahren. Bei den Erstgenannten kann man nicht umhin mitzudenken, da sie, wie auch wir, den tagtäglich begangenen Denkwegen folgen. Bei den anderen sollte man den ernsten Versuch unternehmen, nicht zu denken, sondern sich ganz der reinigenden Kraft der Prosa zu überlassen.


Man hat in der Zeitung gelesen von den neuesten Überlegungen die Finanz- und Wirtschaftskrise betreffend, man hat gelesen, das europäische Parlament habe mit großer Mehrheit eine Initiative beschlossen, Werbung zu verbieten, die Frauen an der Herdplatte zeigt, hat sich die Augen gerieben und gewundert, welche faschistoide Gestalt die real existierende Emanzipation inzwischen angenommen hat. Und dann liest man vom Bau der chinesischen Mauer, die kargen präzisen Sätze: Da hielt eine Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen. In der Mitte trafen sie einander, der Schiffer flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr; um ihm ganz nahe zu kommen, umarmte er ihn. Ich verstand die Reden nicht, sah nur wie der Vater die Nachricht nicht zu glauben schien, der Schiffer die Wahrheit zu bekräftigen suchte, der Vater noch immer nicht glauben konnte, der Schiffer mit der Leidenschaftlichkeit des Schiffervolkes zum Beweise der Wahrheit fast sein Kleid auf der Brust zerriß, der Vater stiller wurde und der Schiffer polternd in die Barke sprang und wegfuhr. – Die falschen Kleider sind herabgerissen, die Wahrheit wird sich, wenn je, hier zeigen.

Prosa lesen, Prosa leben: man beginnt dann doch zu denken, so gut es geht. Die Chinesische Mauer unterscheidet sich grundlegend von Kafkas bekanntesten Werken, der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß. Das sind Werke der Enge. Gregor Samsa verläßt sein Zimmer nicht mehr bis zu seinem Tod. Josef K’s restliches Leben spielt sich ab in seinem untergemieteten Zimmer, auf Dachböden und Hintertreppen, das des Landvermessers in Schankräumen und Notunterkünften. Die Tür zum Gesetz mag sich auf endlose Hallen und weiten öffnen, die Schwelle kann nicht überschritten werden, die Schloßanlage mag unermeßlich sein, Genaues wird man nie wissen. Die Chinesische Mauer ist demgegenüber eine Erzählung unglaublicher Weite.

In der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß wird ein Einzelner durch ein ihm und uns unverständliches Ereignis unwiderruflich aus einem bislang wohl hinreichend normalen Leben gerissen. Insbesondere Josef K. ist bis zum Ende recht unverzagt und hält fest am Glauben, er könne zurückkehren in die Normalität. Tatsächlich aber sind sie alle bereits verloren in dem Augenblick, da ihr jeweiliger Prozeß eingeleitet wird.

Die Chinesische Mauer ist, verglichen mit der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß, dem Landarzt oder der Strafkolonie, eine in verschiedener Hinsicht behagliche Erzählung Kafkas. Tief im Süden des chinesischen Reiches macht sich ein erzählendes, von den Geschehnissen selbst weitgehend unbehelligtes Ich eher abstrakt-philosophische Gedanken über den Bau der Mauer im äußersten Norden. Fast möchte man glauben, Luhmann habe einen Kerngedanken seiner Theorie, wonach Gesellschaften nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen bestehen, bei der Lektüre dieser Kafkaerzählung gewonnen. Die Nachrichten aus dem Norden erreichen den Erzähler, falls überhaupt, nur verfälscht und im desaktualisierten Zustand, die persönliche, ihm zugedachte Botschaft des Kaisers wird nicht den kleinsten Bruchteil des Weges überwinden. Die Große Mauer ist in gewisser Hinsicht weniger ein Bauwerk als ein Medium sich verdichtender Kommunikation zur Erzeugung von Gesellschaft.

Inzwischen hat die kommunikative Dichte der Welt in ungeheuerlichen Maße zugenommen, die Nachrichten unserer Regierung erreichen uns im Sekundentakt, wenn es ein muß über den Liveticker. Aber die fortwährend bedrängende Nähe und Enge der Gesellschaft verdeckt nur die unzugängliche Ferne und Gewalt ihrer Systeme. Die Entwicklung nimmt Kafkas Erzählung nichts von ihrer bedrängenden Intensität, ihr Sinn begibt sich mühelos in eine andere Dimension. Der Bau der Mauer war immer schon zugleich der Bau der Menschenwelt und der Bau der Welt. Der Kaiser ist in dichter demokratischer Nähe verschwunden, die vordem größte und doch recht nahe, mit dem Namen Gott bezeichnete Ferne aber ist hinter den fünfzehnmilliarden Lichtjahre entfernten Rand des Universums gerückt, von dort sind jetzt die Nachrichten an uns unterwegs, ohne daß Hoffnung besteht, sie könnten uns je erreichen.

Kafkas Erzählung hat aber nicht nur die Behaglichkeit des abstrakten Gedankens, sondern auch die der Idylle. Eine anrührendere Vater-Sohn-Konstellation wird man lange ein zweites Mal wird suchen im Werk. Er hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes - wie gern wohl hätte Kafka den Brief an den Vater in dieser Weise verfasst.

Der Vater sagte also etwa: damit bricht die Erzählung ab, oder endet sie vielleicht so? Sind wir aufgerufen, unsererseits die Worte des Vaters zu ersinnen und nachzusprechen? Oder haben wir es mit dem Hund zu tun, der in die Küche lief, und es fehlt nur ein kleines Verbindungsglied, das uns wieder zum Anfang führt?

Samstag, 22. November 2008

Lemberg sehen


An Ende eines schönen Festes mit vielen guten Freunden, bei dem sich nicht endgültig klären ließ, ob es nun am holländischen Meer oder am Rhein auf der Höhe Königswinter/Bonn stattgefunden hatte, begaben wir uns, so wie wir es immer gern und voller Behagen bei Fontane lesen, in Gruppen durch die Nacht nach Haus. Ich konnte den Weg zunächst mit meinem sehr guten Freund Chr. und dessen Sohn M. gemeinsam machen. Nach einiger Zeit freilich langten wir an der Stelle an, wo Chr.s jüngerer Bruder mit den Fahrrädern auf die beiden wartete. Mein geheime Hoffnung, sie würden die Räder schieben und mich noch eine Weile begleiten, konnte sich angesichts der sehr fortgeschritten Stunde vernünftigerweise nicht erfüllen. Mit meiner langjährigen Sekretärin, der Französin M.C., der jetzt die Versetzung in eine andere Abteilung droht, und die mir noch am Tag zuvor recht heftig vorgehalten hatte, ich würde dem nicht entschlossen genug entgegenwirken, bestieg ich das bereitstehende Flugzeug, das allerdings, wie sich schon bald erwies, nicht den richtigen Zielort hatte. Es war ein leichtes, den Piloten zu einer Zwischenlandung auf einer Wiese oberhalb der Eifelortschaft Mayschoß zu bewegen. M. C. hatte es von dort aus nicht mehr weit, von Dunkelheit war, obwohl Zeit kaum vergangen war, längst nicht mehr die Rede, und Margrit und ich hatten unsererseits nur einen sanften Wiesenabhang zur im Tal gelegen Stadt hin zu durchschreiten mit Ziel auf den jenseits gelegenen Flughafen. Bei dieser Stadt aber handelte es sich ohne Zweifel um Lemberg, seit langem schon ein Ziel unserer gemeinsamen tiefen Sehnsucht, und so fand ein an sich schon sehr schöner Abend einen beglückenden Ausklang, den in dieser Form niemand hatte voraussagen können.

Freitag, 21. November 2008

Updike

Gelesen: Toward the End of Time

This stir of mild misery we call life

Ein tiefes, ein reiches Buch, das seinen Reichtum einer Verarmung verdankt. Das Geschehen ist in das Jahr 2020 verlegt nach einem, bislang noch, fiktiven amerikanisch-chinesischen Krieg, die Menschheit ist stark ausgedünnt, in China offenbar noch stärker als in den USA, aber China interessiert weiter nicht. Staatliche Strukturen sind praktisch verschwunden, oder doch unsichtbar. Die Überlebenden haben Anlaß, sich auf die fundamentalen Bedingungen des Lebens, ihren kosmischen und biologischen Hintergrund zu besinnen. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt, die Kapitelüberschriften beginnen alle mit einem D: Deer, Dollhouse, Deal, Deaths, Dahlia. Es ist wohl das D des Todes, dem auch die anderen D unterliegen. Die Begegnungen mit dem Deer werden unvergeßliche Seiten abgewonnen, große Szenen des Einverständnisses mit der Kreatur aus einer nicht überbrückbaren Distanz heraus. Unvergeßlich auch die Szene mit der kleinen Schlange, der bei Gartenarbeiten die hintere Körperhälfte abgetrennt wird: Jeremy put the snake gently back into the grass and it slithered off with unimpaired fluency, but I thought that a snake was not a ribbon that could be snapped anywhere: it had an anatomy, intestines and an anus and no more than I could it live long with its nether portion crushed. Tief einprägsam ferner die Erwägungen zum Seelenleben der Pflanzen: How strange must it be, being an autumn flower, waiting while the others – the snowdrops and crocuses, the daisies and loosestrife, the Queen Anne’lace and goldenrod – all have their go at romancing the busy pollinators; and then, as the days shorten and the insect population grows sluggish and terminal but for a few darting dragonflies and aimlessly bobbing butterflies, to unfurl their modest, virginal, starlike attractions.

Und doch oder deswegen, man wünscht sich, die Kriegsfolgen wären noch etwas heftiger ausgefallen, denn wie durch ein Wunder geht das schreckliche amerikanische middle-class life, Updikes erste Muse (aber ist da nicht inzwischen alles gesagt?), im Rhythmus der Dentisten und Schönheitssalons, des Golfspiels und Familienbesuche seinen unveränderten Gang. Und man wünscht sich ferner, die Kastration in Form einer Prostataoperation am Ende des Buches hätte sich vor seinem Beginn abgespielt. Aber was wäre dann gewesen? If I can no longer give her orgasm with my stiff prick, my only use to Gloria is a stiff corpse bequeathing to her liquid capital. – Hier muß man nun doch argwöhnen, daß mehr noch als der Dollar und das ständige Kriegführen die sogenannte sexuelle Befreiung Amerika auf den Hund gebracht und nihilisiert hat.

Oder verrennen wir uns, ist der Vorwurf, den wir dem Autor machen wollen, sein eigener Vorwurf, ist der Endzeitroman des Neuengländers auf seine Art eine nicht weniger radikale Absage an die Menschheit als die Endzeitromane des Texaners McCarthy? Einiges spricht dagegen, an einer Stelle gesteht sich Ben, der Held des Buches, ein, der Gedanke, nicht mehr zu leben, mißfalle ihm weniger als der Gedanke, nicht mehr als Amerikaner zu leben. Oder ist wiederum genau diese Ambivalenz der Kern des Buches? Vieles spricht dafür. Auch den Vorwurf, China interessiere weiter nicht, greift das Buch selbst leise aber in durchaus wahrnehmbaren Tönen auf. Amerikanisches Leben ist nur noch in Neuengland möglich, der mittlere Teil ist radioaktiv verseucht, Texas, Neu Mexiko, Arizona und Kalifornien sind wieder bei Mexiko, die Grenze wird jetzt von der anderen Seite aus bewacht.


Eben lese ich in der Zeitung, nach Einschätzung der Geheimdienste werde bie 2025 eine Verschiebung der Machtverhältnisse in einem ungeahnten Ausmaß stattfinden. Die USA werden nur noch ein Akteur unter anderen sein, China wird die globale Entwicklung beeinflussen wie kein anderes Land. - Diese Rechnung ist noch ohne den amerikanisch-chinesischen Krieg gemacht.


Dahlia:

This planet supports but two life-forms - myself, and an immense fungus that has covered all but the stoniest of available land.

The background radiation - the temperature of the space - has risen to 300C°, or 572F° and will continue to rise as the universe halves in dimension every few million years.

The priests have a saying in their archaic language: Our minds harry God from every covert, and yet he lives within. He is killed, and killed, and yet not.

One day I went looking for the dahlia.

Roger and Marcia in the year past have produced a male child, named Adam.


Montag, 10. November 2008

Im Parador

En els ossos del temps no hi ha tendresa.
Els llocs ja no existeixen.


Schließlich war auch ich des Wartens überdrüßig und wollte mich meinerseits auf Erkundung begeben. J., der mit dem Suchtrupp bereits unterwegs war, würde sicher nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich eins von seinen beiden Autos fuhr, die Schlüssel lagen auf dem Tisch. Obwohl alle Wagen unmittelbar oberhalb der Berghütte abgestellt waren, habe bei den schlechten Wetter- und Sicht- verhältnissen den Weg dann doch verfehlt und fand mich, einigermaßen überrascht, auf dem Nachbarhügel wieder. Es zeichnete sich von dort aus aber eine weiter oberhalb verlaufende – Besalú lag unten im Tal - und allem Anschein nach übersichtliche Querverbindung ab, die sich aber, einmal beschritten, dann doch als nicht ganz so unkompliziert erwies. Andererseits aber war jetzt die gesamte Gruppe, einschließlich der ursprünglich Vermißten, wieder beisammen, so daß das alles nichts machte und keine Eile mehr war. Vielmehr freuten wir uns darauf, nach so langer Zeit wieder gemeinsam im Parador von Beget einzukehren, der bei Licht besehen gar kein Parador war, sondern nur eine einfache Dorfgastwirtschaft. Der große unbearbeitete Holztisch war schon für uns frei gemacht, aber nun waren ärgerlicherweise doch wieder viele verschwunden und andere hatten sich verwandelt. Meine Tante Martha war plötzlich mit von der Partie, so jugendfrisch und zupackend, wie ich mich nicht entsinnen konnte, sie im Leben zuvor jemals gesehen zu haben. So und in dieser Zusammensetzung konnten wir uns nun wirklich nicht zu Tisch begeben, für wie viel Personen sollte denn auch bestellt werden? Ich mußte erneut hinaus auf die Suche, aber die Schuhe fehlten. Margrit konnte meinen aufkeimenden Unmut leicht besänftigen, auf den steinernen Bodenplatten des Vorraums waren nicht weniger als drei Paar abgestellt, darunter auch das neue Paar aus dem Schwarzwald. Obwohl somit bestens versehen, konnte ich große Hoffnung in einen erfolgreichen Ausgang der neuerlichen Such- und Zusammenführungsunternehmung nicht aufbringen

Dienstag, 4. November 2008

Handschmeichler


Kaum noch jemand trägt große Mengen von Lyrik als Flagge und Lebenstrost mit sich. Ein kleiner Vers aber, vielleicht die schönste poetische Definition des Glücks, ist mir schon vor Jahrzehnten zu einer Art mentalem Handschmeichler geworden, den ich immer bei mir trage. Er ist schon so abgegriffen, daß ich gar nicht weiß, ob er noch seine ursprüngliche Form hat. Es ist ein Vers in russischer Sprache, und in der von mir erinnerten Version, für die, wie gesagt, Garantie nicht übernommen werden kann, lautet er OmU so:


Schtschastliw tjem, schto tsjelowal ja zhenschtschin
Glücklich bin ich darin, daß ich Frauen küßte

Mjal tswjety, waljalsja na trawje
Blumen zerdrückt und mich im Gras gewälzt habe

I zwerjo kak naschich bratjew mjenschich
Und die Tiere als unsere kleineren Brüder

Nikogda nje bil po golowje.
Niemals über den Kopf gehauen habe.

In den ersten zwei Zeilen werden umstandslos drei gut eingeführte, jedermann vertraute Bilder des Glücks ausgestreut. Ein wenig auffällig vielleicht das zweite Glücksexempel, das mit dem Verb mjat': drücken, kneten – eine gewisse, in diesem Zusammenhang nicht unbedingt übliche Gewalttätigkeit ins Spiel bringt, die auch auf das Eingangsbild (Kuß) zurückstrahlt und es mit Leidenschaft auflädt. Mjat' streckt zudem seine Fühler aus zum anderen gewalttätigen Verb bit' in der zweiten Verhälfte, dies freilich in der negierten Form nje bil: nicht gehauen.

Besonderes erwartet man nach diesem doch ziemlich konventionellen Auftakt eigentlich schon nichts mehr. Und dann die abrupte Wende in eine Sphäre, die den zuvor angerissenen Glücksraum zertrümmert und in den nur vier Zeilen einen übergreifenden Raum ungeahnter Weite aufreißt. Der den kleineren Brüdern ersparte Schlag auf den Kopf trifft uns umso härter und öffnet uns die Augen und die Sinne. Die heidnische Welt der Eingangszeilen schlägt noch durch die Grenze hindurch, die das Christentum gezogen hat, wenn es zwar von den Geringsten unter uns spricht, zugunsten der noch geringeren Brüdern aber eigentlich nur den Heiligen Franz von Assisi ins Feld führen kann. Die ersten zwei Zeilen werden nicht vergessen oder widerrufen, sie werden vielmehr erneuert und erst jetzt zum Quell wirklicher Freude. Ja, das eine ist Glück und das andere ist Glück, und Glück ist das Ganze.

Der Vers entfaltete seine ganze Schönheit und Bedeutung nur im russischen Original. Dem extrem hellen und weitgehend unreinen Reim zhenschtschin (Frauen) // mjenschich (kleineren: die formale Gestalt des Verses zählt offenbar auch die Frauen zu den Schutzempfohlenen) korrespondiert der dunkle und reine Reim trawje (Gras) // golowje (gesprochen: galawje – Kopf). Der erste Teil handelt vom körperlichen, vegetativen Glück und schließt folgerichtig mit „Gras“, der zweite Teil handelt vom moralischen Glück und schließt ebenso folgerichtig mit „Kopf“; dem Kopf der kleineren Brüder, in einer Welt, die möglicherweise ohne Gott auskommen muß, die einzigen Gefährten unserer Einsamkeit.

Gelegenheiten, den kleinen Glücksbringer in die Hand zu nehmen, gibt es genug. Der Vers ist von Sergej Jessenin, in der vor mir liegenden umfänglichen Sammlung seiner Gedichte kann ich ihn nicht wieder auffinden.

Sonntag, 2. November 2008

Navegar pelo rio Amazonas

Va ser el paisatge de la nostra vida:
És, ja, el paisatge de la nostra mort.


Wir treiben auf dem Amazonas, eine gutgelaunte, vom Leben verwöhnte Freundesschar, offenbar sind wir schon im Delta, Land ist nicht zu sehen. Die anfallenden kleinen Aufgaben wollen wir frohen Herzens reihum erledigen. Welche raffiniert-einfachen Speisen hatten wir gerade in froher Runde geteilt? – jedenfalls will ich den Aufwasch übernehmen, habe aber weder eine Schüssel noch warmes Wasser. Eine unbekannte tropische Frucht hat die noch nie zuvor beobachtete Eigenschaft, sich nach innen zu wölben und zu verholzen, wenn man sie nur ins Wasser taucht. Das so entstandene Gefäß ist freilich nur klein, aber es wird gehen. J. zeigt mir, wie ich durch geschicktes Hineinlangen in das dampfbetriebene Nebelhorn unseres in diesem Augenblick der African Queen ziemlich ähnlichen Schiffes Heißwasser, wenn auch freilich nur tropfenweise, abzapfen kann. Die Wassertiefe messen wir auf eine einfache und sehr direkte Art. Am Boot wird eine Schwimmflosse aus massivem, wunderbar lackierten Tropenholz ausgefahren, ein Mann – unverkennbar Mr. Rico aus The Enforcer, aber wie kommt der hierher, zu unserer Schar gehört er nicht, offenbar haben wir eigens eine Crew für derartige Aufgaben – stützt seine Arme darauf und läßt sich ins Wasser gleiten. Er gleitet nicht tief, bei Brusthöhe steht er auf Grund. Er zeigt es uns an den verschiedensten Stellen wieder und wieder mit wachsender Schadenfreude, Piranhas fürchtet er zu meiner nicht geringen Verwunderung kein bißchen in dem schmutzigen, undurchsichtigen und reglosen Deltawasser - ist es, nebenbei bemerkt, vielleicht doch eher der La Plata?. Eben waren wir noch eine Bella Compania, und nun sind wir in Not. Worin besteht sie? Margrit, so hört man, will in ein Kloster eintreten und Nonne werden, wahrscheinlich geradewegs in ein brasilianisches Kloster, denn die portugiesische Sprache, das läßt sie mich später wissen, will sie ohnehin lernen.

Proust

Wieder gelesen: Combray

No l'e oblidat malgrat no recordar-lo

Als seien jemandem hundertfingrige Sprachhände gewachsen, die mit unendlicher Geduld und Behendigkeit die Welt abtasten, um kaum je Wahrgenommenes und nie Erfaßtes ins Wort zu nehmen. Als habe dieser jemand die verlorene Zeit längst und zur Gänze gefunden und habe nun alle Zeit der Welt. Als nutze er diese Zeit für den Versuch, das unerbittliche Gesetz der Sprache, wonach nur unter Verzicht auf fast alles Sagbare sich überhaupt irgendetwas sagen und durch das Nadelöhr des Augenblicks fädeln läßt, immer nur das jeweils eine Wort unter Verzicht auf die Millionen anderen im Wartestand, immer nur der jeweils eine Satz unter Verzicht auf viermal unendliche viele Sätze, deren Geburt noch aussteht: als versuche ein Prometheus der Beharrlichkeit und des Geschicks ALLES zu sagen, die von Gott aus nur einem Wort, Logos, entlassene Welt in einer endlosen Reihe von Worten wieder einzufangen. Eine Welt überdies, die in ihrer Aktualität nur die allerflüchtigsten Berührungen überhaupt duldet und sich, als gegenwärtige, voller Trug unserem Begehren fast völlig entzieht und grausiges Spiel mit uns treibt. Erbarmungslose Weltgesetze, die den mit ausschließlicher, alles andere Leben zerstörenden Sehnsucht und unter minutiösesten Vorbereitungen erwarteten Gutenachtkuß der Mutter augenblicklich und übergangslos in die grenzenlose Trauer verwandelt, nur zuschauen zu können in hilfloser Panik, wie er in der Vergangenheit verschwindet, als habe er nie stattgefunden. Eine Welt aber auch, die in kleinen, lindenblütenteegetränkten Kuchenstücken gefaßte Augenblicke der Gnade enthält, aus denen sie, bereits verloren geglaubt, sich zur Gänze neu entfaltet, um sich Proust, dem hundertfingrigen Dichter, dem nacherzählenden Demiurgen, dem zweiten Gott darzubieten. Wer würde nach der Lektüre von Combray in der Blüte des Weißdorns, wo immer man ihr begegnet, fortan nicht zwei Schöpfer am Werk sehen. Ein Demiurg, der, soviel ist klar, nicht bloß seinen an der Oberfläche tastenden Händen folgt, sondern alle Höhen und alle Tiefen in allen Aggregatzuständen von der Wärme des Mutterschoßes bis zu Bereichen interstellarer Kälte in der sozialen Welt duchmißt, die „inhumane Welt des Vergnügens (du plaisir)“. Gewaltige metaphorische Sprünge und Transpositionen reißen unversehens immer wieder den mikroskopischen eingeengten Blickwinkel auf, durchschießen entfernte Sphären der Kunst oder der Prähistorie bis in die kosmischen Weiten von Raum und Zeit. Die ebenso kühnen wie fortwährenden und planmäßigen metaphorischen Überbrückungen zwingen Dinge aus größter Ferne in ein Tableau. Nicht nur der Weißdorn erscheint letztlich wie ein Schmuckelement in einem kostbaren Wandbehang, auch noch die weitesten Weiten werden beharrlich eingewoben in den allem Anschein nach endlosen Wortteppich und damit humanisiert - oder wird vielmehr das Humane kosmologisiert?

Freitag, 31. Oktober 2008

Great Balls of Fire

A vegades en llocs molt solitaris,
com un bar d'aeroport

Niemand wußte zu sagen, ob wir noch Gäste dieses Hotels in Buenos Aires waren oder in der Empfangshalle nur noch auf den Abtransport warteten. Die Koffer waren gepackt und die Rechnungen bezahlt, die Zimmer aber noch nicht verschlossen. Man konnte das Hotel durch einen Nebenausgang verlassen, mußte dann aber, um es durch den einzig möglichen Haupteingang wieder zu betreten, nicht nur den gesamten Block umrunden, sondern dabei auch ein ziemlich unwirtliches Gelände überwinden. Dabei konnte man aber einem überdachten Betonband folgen, nicht unähnlich dem, das die Passagiere von der S-Bahnstation zum Flughafengebäude Schönefeld führt. So vertrieben wir uns die Zeit.

Vom Hotel aus konnte man schon die beiden verlockenden und beängstigenden Brücken sehen, die über den Rio Plata hinweg zum internationalen Flughafen führen. Von Brücken zu sprechen war vielleicht übereilt, denn man sah, wie sie sich steil und verwegen in den Himmel erhoben, die linke noch um einiges steiler und verwegener als die rechte, daß sie sich am anderen Ufer wieder gesenkt hätten, sah man nicht, geradeso als ob die rastlose Menschheit eine neue Art von Flugabfertigung ersonnen hätte, bei der die Maschinen nicht länger am Boden stehen, sondern als Riesenvögel an himmelhohen Einsteigegates schweben wie Kolibris an den Blüten. Am Ende des linken Brücken- oder Himmelssteigs tobten Feuerbälle, eine Katastrophe unbekannter, in jedem Fall aber grauenhaften und vernichtenden Art spielte sich ab, womöglich nicht weniger als der Weltenbrand. Der Strom der das gleißende, an seinem Ende blutrot überlaufene Silberband emporeilenden Passagiere verringerte sich aber kaum. Wir hielten uns an den rechten Aufstieg. Hier schien alles friedlich, nur vereinzelt lagen blutige Gestalten, tot oder verwundet, am Weg. Den guten Mut verloren wir nicht, unser Rückflug war fest gebucht.

Kafka z'Bärn

Wir können nicht wissen, wie der Schweizerdeutsche, der Berndeutsche die Welt erlebt. Die russische Sprache kann man erlernen und dann Dostojewski lesen, nicht grad wie ein Russe aber doch auf die gleiche Art. Lesen wir Rudolf von Tavel, Simon Gfeller und andere berndeutsche Autoren, dann streifen wir nur ein anderes Kleid über unser Hochdeutsch, ein lustiges und friedliches, wie uns scheint, und gehen durch einen hellen Tag. Wir lesen nicht Berndeutsch, sondern die Differenz zu unserer gewohnten Sprache, und die in die Schweizer Sprache eingelassene Derbheit macht sie nur noch friedvoller und gelassen wie die Bären in ihrem Berner Graben. Seltsam auch, daß das Berndeutsch sozusagen seine eigene Außenpolitik betreibt, so daß die häufigen französischen Passagen bei Tavel unmittelbar und ohne die geringste Schriftdeutsche Rahmung ins Idiom eingepaßt werden können.


Von den Bernern hören wir, sie empfänden das von ihnen so genannte Schriftdeutsche als eher kalt und abweisend, und tatsächlich flüchten sie, wenn man sie nur einen Augenblick läßt, zurück in ihr Idiom. Die Differenz wird also von der anderen Seite nicht ganz und gar anders beschrieben, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Berndeutsche für die Berner und Bernerinnen die neutrale Form der Weltartikulation ist. Kafka könnte die Nagelprobe sein. Wäre er ins Berndeutsche übersetzt und wollten wir, die Schriftdeutschen, ihn in dieser Weise lesen, wäre er wohl weitgehend um sein Bestes, das Kafkaeske, gebracht, dem atemlosen Landarzt hätte sich eine beruhigende Hand auf die Schulter gelegt. Würde die fehlläutende Nachtglocke als Nachtliglogge auch für den Schweizer ihren Schrecken verlieren?

Donnerstag, 30. Oktober 2008

An der Kennedybrücke


Unsere gute Freundin S. ist, so hört man, nach einer längeren Tätigkeit im Ehrenamt, in dem sie aber die erhoffte Freude und Befriedigung nicht uneingeschränkt gefunden hatte, jetzt wieder in ihrem angestammten Beruf als Ärztin tätig. Da wird man angesichts der langen Unterbrechung und ungeachtet all ihrer unstrittigen Begabung für das Patientengespräch im Hinblick auf diagnostische Schärfe und Zielgenauigkeit im therapeutischen Ansatz einige Zugeständnisse machen müssen. Zwiespältig und bedenklich stimmt auch, daß einerseits schon gutes Geld fließt, sie andererseits einen nicht geringen Teil dieses Geldes aber in den Ankauf eines seltsames Gefährtes investiert hat, eine Mischung aus Rennsportwagen, Militär- und Bestattungsfahrzeug. Im Hintergrund diese Kaufaktes steht, dafür spricht eigentlich alles, offenbar F., in seiner Art ja ein Autonarr.

Bei der ersten Vorbeifahrt hatte ich S. gar nicht erkannt als Eignerin und Lenkerin des Vehikels, pechschwarz wie es war mit einer großen weißen 4 im Fensterkreuz der Frontscheibe, einem unmäßig langgezogenen Motorvorbau und schießschartenartig verengten Seitenfenstern, die obendrein als die Augen eines Monsters gestaltet waren. Als sie nach Unterquerung der Kennedybrücke ein zweites Mal sich näherte und mir zuwinkte, konnte ich mich der fröhlichen Aufforderung zuzusteigen nicht entziehen. Wie sich zeigte, handelte es sich bei dem Gefährt um ein sogenanntes Funcar, und wir waren nur Teil eines größeren Corsos entlang des Rheins, veranstaltet von übermütigen und überwiegend jungen Leuten, und warum nicht auch selbst noch einmal jung und übermütig sein und aller Sorgen frei. Meiner kleinlichen Vorbehalte konnte ich mich nachträglich nur schämen.

Eingezwängt im engen Fond des Wagens saß ein von S. Geheilter. Er war gequält gewesen vom zwanghaften Versuch, das Rätsel der sogenannten Winterkönigin zu lösen, die der Dichter Sebald in seiner Erzählung Il Ritorno in Patria gegen Ende hin auftreten läßt. Der Dichter selbst hatte sich bereits verwünscht, weil er, obwohl sie ihm mit dem Aufsagen eines Verses eigentlich alle Türen geöffnet hatte, nur stumm und dumm dagesessen war und keine Worte gefunden hatte, sie anzusprechen, bevor sie dann in Bonn ausstieg aus dem Zug, in dem er aus dem Allgäu kommend nach England unterwegs war. Auch von dem Buch Das Böhmische Meer einer Autorin Mila Stern, in dem die Winterkönigin während der Fahrt am Rhein entlang gelesen hatte, war allen Bemühungen zum Trotz ein bibliographischer Nachweis nicht zu finden gewesen. Im Therapiegespräch mit S, war nun alles zutage getreten und alle Rätsel waren gelöst worden. Der Geheilte freilich hatte sich entfernt, bevor er mir, der ich an der Lösung dieser Fragen kaum weniger dringlich interessiert war, sein Wissen hatte mitteilen können. S. aber war an die ärztlich Schweigepflicht gebunden.

ABBA


Eine Fernsehsendung über ein Thema, das mir in keiner Weise nahe steht, hat mich tief getroffen und um den Nachtschlaf gebracht: Björn und Benny, Agnetha und Ann-Frid (Frida): ABBA. Niemand hatte seinerzeit, in den siebziger und frühen achtziger Jahren, die Möglichkeit, sie nicht zu kennen, zwei sehr schöne, hochgewachsene Frauen, die eine blond, die andere dunkler, und zwei Männer mit einem lustig-trollhaften Aussehen. Alle zwei Monate biß sich eine neue Melodie in den Ohren fest, Waterloo, Fernando, Mamma mia, Money, Money. Dann waren sie plötzlich verschwunden, die vier, offenbar für immer eingefroren hinter dem Horizont in ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihren Reichtum, ihrem Glück.

Und da springen sie nun plötzlich hervor aus dem Abgrund der Zeit, in dem sie für immer als ABBA endgelagert schienen, Agnetha und Frida, wie die weiße und die schwarze Billardkugel in Sebalds Austerlitzbuch, nur haben sie, was vielleicht noch schrecklicher ist, weitergelebt die ganze Zeit, anders als die Kugeln, die über die Jahre hin nur unberührt und unverändert dagelegen haben. Agnetha ist blond wie eh und je und ist doch, wie sich herausstellt, Frida, die jetzt, schon an die sechzig, noch schöner und ungeheuer schwedisch aussieht, obwohl sie ein Tyskebarn ist und also einen deutschen Soldatenvater hat.
Die vier wurden 2004 nach London eingeladen, um teilzunehmen an Feiern zu Ehren eines Musicals Mamma Mia, das offenbar nach ihren Melodien gestaltet wurde. Björn und Benny haben kaum noch Ähnlichkeit mit ihrer ABBA-Gestalt und tragen jetzt beide Bart, so daß man sie nicht auseinander halten kann. Agnetha, die immer schon lieber im Studio als auf der Bühne war und außerdem unter Flugangst leidet, ist trotz Zusage nicht erschienen in London, Szenen aus einem Interview mit ihr werden hineingeschnitten, die sie aber ständig im Gegenlicht und daher leicht schemenhaft zeigen. Frida ist inzwischen Prinzessin von Reuß, Agnetha hat ein eher unstetes Leben geführt, zwischen 1997 und 1999 hatte sie eine nie näher definierte Beziehung mit einem in Schweden lebenden Niederländer, die sich für sie zum Albtraum entwickelte. Björn leidet, wie er im Sommer 2008 in einem Interview mit einer britischen Zeitung erwähnte, unter dem Verlust des Langzeitgedächtnisses. Er könne sich inzwischen nicht einmal daran erinnern, dass ABBA 1974 mit Waterloo den „Eurovision Song Contest“ gewonnen hat. Wörtlich sagte er: Es ist, als wäre ich gar nicht dort gewesen. Von Benny ist wenig zu berichten. Er ist Inhaber einer schwedischen Plattenfirma sowie eines Stockholmer Luxushotels und eines Reitstalles in der Nähe der schwedischen Hauptstadt.




Dienstag, 28. Oktober 2008

Vézelay

Com si en un port sonés una sirena,
el cel.lo es despedia de la noia
amb la segona suite de Bach.

Wir sind drei, wir spielen, jeder spielt zwei. Wir sitzen im Kreis. Wir sind nicht real, wir sind eine geometrische Figur, wir sind die Planetenbahnen, wir sind das Bohrsche Atommodell, wir sind drei kleine Chinesen, die sitzen im Kreis, wir sind ein Kreis. Wir sind grau, wir haben die Farbe von Stein, wir sind Stein, wir sind Steinheilige in Sancta Magdalena de Vézelay. Wir sitzen im Kreis, wir spielen, jeder spielt zwei. Wir spielen die Cellosuiten, wir spielen Prélude, Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte, Gigue. Sechsmal, sechsmalsechs. Wir sind drei, wir spielen jeder sechsmal zwei. Wir spielen dreimalzweimaldreimalzwei. Zu dritt spielen wir sechsunddreißig.

Dornröschen

Böhmische Gespräche und eine Dissertation

Quan un es fa fent vell sovint es queda
aturat i mirant cap a la nit,
com qui estudia, abans de viatjar-hi,
plànols d'una ciutat desconeguda.

Angeregt durch die Dissertation der fernen jungen Freundin sowie auch durch die Gespräche mit den guten alten Freunden habe ich begonnen, meine kaum vorhandenen und nicht weiter erwähnenswerten Gedanken über Architektur zu ordnen. Ich gehe aus von der in ihrem Wahrheitsgehalt nicht ernstlich bestreitbaren Feststellung Gomez Davilas, die Moderne würde sich in keiner ihrer Vorkommnisse bündiger widerlegen als in ihrer Architektur. Seitdem die Kunst dem Kunstwillen freigestellter Individuen überantwortet ist, muß man mit deutlich mehr als neunzig Prozent Streichresultaten rechnen. In der Literatur oder der Malerei bereitet das keine nennenswerten Schwierigkeiten, die fehlgeleiteten Bücher können in den Regalen verstauben und irgendwann der blauen Tonne überantwortet werden, Bilder können an wenig beachteten Wänden hängen oder, besser noch, mit der uns zugewandten Rückseite an ihnen lehnen. Mit der Musik, die aus allen Fugen dringt, ist es schon schwieriger, vollends hoffnungslos aber ist es mit den Architekturerzeugnissen. Robert Gernhardt hat scharfsinnig den Grund erkannt und ans Tageslicht gezerrt: Das Ding es ragt und steht.

Folgerichtig haben wir während eines längeren Spaziergangs durch Karlsbad auf Abhilfe gesonnen und die Lösung tatsächlich gefunden. Sie besteht darin, daß Brüssel die sprengstofferfahrene ETA gegen gutes Geld abzieht von ihrem bisherigen Betätigungsfeld um sie zu beschäftigen mit der Beseitigung von Gebäuden, die ein bestimmtes Maß an Kunstwidrigkeit überschreiten, naturgemäß nachdem die Gemäuer zuvor von allen Vertretern höherer Lebensformen, Mensch, Hund, Katze und Kanarienvogel, evakuiert wurden. Anspruch auf Auslöschung hat alles, was den vollständigen Gernhardtreim erfüllt: Das Ding es ragt und steht, die Dummheit ist konkret. Die zu bewältigende Aufgabe ist so umfangreich, daß angesichts des sich ergebenden Zeitbedarfs die schleichende Resozialisierung nicht nur aller ETA-Mitglieder, sondern, sollte es dazu kommen, der Mitglieder aller aktuell bombenden Gruppierenden gesichert wäre.

Vor der erfolgreichen Lösung der Problematik im unteren Skalensegment in Karlsbad hatten sich freilich tags zuvor in Marienbad, ohne daß das unbedingt allen klar geworden war, Schwierigkeiten am oberen Rand abgezeichnet. Eine an Franz Kafka erinnernde Gedenktafel hatte eine den Dichter betreffende Diskussion ausgelöst. Alle waren bereit, sein literarisches Format anzuerkennen, ohne aber Neigung zu zeigen, ständig einen Band seiner Werke auf dem Nachttisch liegen zu haben (eine Gegenstimme), so wie man, wurde als Beleg angeführt, auch nicht unbedingt ein Gemälde von Goya über seinem Bett anbringen möchte (keine Gegenstimme). Wenn nun aber bereits die eher unaufdringliche Lagerung eines Kafkabändchen auf dem Nachttisch zurückzuweisen ist, wie wäre dann ein kafkaeskomorphes Architekturkunstwerk mit hohem Kunstwert inmitten unserer aller Lebensraum zu sehen? Da sich auf dem Feld der Architektur gehobener Kunstanspruch oft mit erheblich gehobener Größenordnung verbindet, sind die zu bewältigenden Schwierigkeiten im oberen Skalenbereich womöglich noch größer als unten: Man wird sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten – die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle (Sebald, Austerlitz).

Remei Capdevila i Werning schreibt in „Meaning and Symbolization of Architecture and Nelson Goodman's Aesthetics" (unveröffentlichtes Manusskipt): The point is that one and the same building can function as an architectural (artistic) work in some cases and not in others: the same saltbox house can be understood both as an architectural work and as a place to provide shelter.

Radikalisieren wir diesen Gedanken und stellen uns einen makelloses, unten von der ETA und oben von der Selbstbescheidung der Architekten bereinigtes Architekturfeld vor, so könnte die Frage, ob nun Kunst oder nicht, auf ewig schlummern wie Dornröschen, sie könnte aber auch jederzeit und an allen Orten von jedermann wachgeküßt werden, denn in einer solchen Welt wären wir ohne Zweifel allesamt ständig verliebt.





Montag, 27. Oktober 2008

Heimwärts von Spitzbergen


Unsere Kreuzfahrt in einem nördlichen Meer kam zum Ende, man traf sich zum letzten Kapitänsdinner. Vieles sprach dafür, daß wir die Barentssee befuhren, heimwärts von Spitzbergen mit Archangelsk als Zielhafen. Entweder war der Gang über das Deck sehr weit, oder es war der Etikette geschuldet, jedenfalls trugen wir Mäntel, die an der Garderobe abzugeben wir gerade im Begriff waren, ich war noch nicht bis zu den Garderobenfrauen vorgedrungen. Diese dort hinten unter den vielen Gästen im dezenten Halblicht des mit dunkler Holztäfelung verkleideten Vorraums sich abzeichnende schwarz gekleidete schlanke Gestalt mit dem bleichen verlorenen Gesicht, sollte das Jewgeni Onegin sein? Und wer dann war die vollends nur noch schemenhaft zu erkennende weibliche Gestalt, um die er mit aller gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt und – konnte man das erkennen, durfte man das annehmen – nicht ohne Zärtlichkeit bemüht war? Tatjana, diese Möglichkeit schied eindeutig aus, darauf durfte man nicht hoffen, aber andererseits wer weiß schon, und wer kennt wirklich die verschlungenen Wege unseres Lebens. Hatte er doch noch sein Glück gefundenen, oder war es wieder nur ein kurzer Zeitvertreib in der nicht zu vertreibenden Endlosigkeit des melancholischen Zeitmeeres? Angesichts so tiefer und bewegender Fragen hatte ich kein Anrecht an einer eigenen Geschichte, und auch an das Bild war besser nicht zu rühren, es konnte sich nur trivialisieren oder gar ins Schlimme wenden. Mein eigenes kleines Glück beschränkte sich auf den guten Einfall, den farbigen Schal um meinen grauen Allerweltsmantel zu schlingen. So würde ich ihn zum Ende der Festlichkeit leicht wiederfinden in der Masse der hinterlegten Kleidungsstücke und nicht aufgehalten werden auf dem längst schon ersehnten Gang zurück in meine Schlafkabine.

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Tschechow

Wieder gelesen: Duel’

Tschechow ist vermutlich der am wenigsten umstrittene Autor der Weltliteratur. Selbst Goethe hatte seine Kritiker, als Mensch ohnehin, zu Fontane heißt es bei Benn, er sei eine große Leuchte, aber dann wird ihm der Vorwurf des allgegenwärtig Pläsierlichen gemacht. Kommen wir zu Thomas Mann, so werden die Meinungen schon ganz bunt. Über Tschechow ist nie ein böses Wort gesagt worden, nicht über den Autor und nicht über den Menschen, und man müßte sich wohl schon auf den Kopf stellen, um ein solches Wort zu ersinnen. Nicht einmal der dialektische Trick, aus der Makellosigkeit einen Makel zu gewinnen, würde verfangen, die Fehler sind da, aber man verzeiht sie ihm leicht und gerne, und ein tiefes Gefühl der mentalen Reinigung ist gleichwohl eine der großen Freuden, die jede Tschechowlektüre hinterläßt. Wir sehen gern das Bild des Dichters und Arztes, sein auf jede Weise wirklich schönes Gesicht, vor allem auch, wenn es ihn neben seiner Frau Olga Knipper-Tschechowa zeigt, nicht lange nach der späten Heirat (1901) und damit auch schon nah zu seinem Tod (1904). Wir lesen gern die Briefe, die die beiden gewechselt haben, und sprechen nach: Mein ferner lieber Mensch.

Unter den großen russischen Erzählern des 19. Jahrhunderts ist Tschechow der unauffälligste und er begleitet uns unauffällig wie kein anderer und mit großer Selbstverständlichkeit bis in unsere Zeit. Er steht weniger in einer Linie mit Gogol oder Dostojewski, als daß er Tolstoi verlängert. Dessen demiurgische Kraft, die direkt aus der Hand zu kommen scheint, mag er nicht ganz erreichen, diese Kraft war bei Tolstoi aber eng verbunden mit einem moralisch-religiösen Eiferertum, das fortwährend dynamisierend und destruktiv zugleich in seine Prosa eingreift und bei Tschechow völlig fehlt. Tolstoi gleich kommt Tschechow im mühelos sympathetischen und anscheinend nach seinem Belieben grenzenlos verfeinerbaren Zugang zu seinem Personal. Die Tür zum Seelenleben kann aber auch hart verschlossen bleiben, von den inneren Regungen des Polizeioffiziers Kirilin wollen weder Dichter noch Leser Genaueres wissen.

Zur großen Form hat Tschechow als Erzähler keinen Zugang. Der Literaturkreis konnte, um auch nur annähernd auf das gewohnte Lesefutter zu kommen, nur zwischen drei oder vier Erzählungen wählen, die die Hundertseitengrenze ganz oder fast erreichen – Tschechows Optimum ist damit eigentlich überschritten, wir haben es vielleicht nicht mit seiner allerschönsten Erzählung zu tun aber doch mit einer sehr schönen, denn hier stimmt auf jeden Fall, was Onetti in gewinnender Anmaßung für sich reklamierte: der Autor kann gar nicht anders.

Wer wird, wenn die letzte Seite umgeblättert ist, je wieder den klobigen, sanguinischen, grenzenlos gütigen und liebenswert eitlen Samoilenko vergessen können oder den lachlustigen Diakon, dem nach den Maßstäben seiner von Dumpfheit und Brutalität, Gier, Habsucht und dem Fehlen grundlegender Formen von Lebensart gekennzeichneten Herkunft schon eine Welt äußerer Wohlanständigkeit und guten Benehmens als das kleine Paradies erscheint und der zweite Schritt zu einer wirklich paradiesischen Welt eigentlich als der leichtere.




Sarkozy

Im Urlaub haben wir die Sarkozys getroffen. Offenbar ist der berechtigt gute Ruf der Zinschghofküche bis in den Élyséepalast gedrungen, denn in dieser Herberge waren wir offenbar untergebracht. Das Arrangement war in der Saison allerdings erheblich verändert, man saß an langen Bierzelttischen, und unten an unserem Tisch saßen, mit allem Ausdruck der Zufriedenheit, die Sarkozys. Sie hatten zwei Kinder dabei. Der Junge sah aus wie Karlchen von nebenan, da muß man weiter nichts hinzufügen. Das kleine Mädchen war greulich geschminkt und in ihr Haar war eine Art Basilisk eingeflochten, so daß man sie, die Tischplattenhöhe noch nicht erreichte, auf ihren Wegen durch den Eßsaal gleichwohl immer verfolgen konnte. Carla Bruni hatte es vermutlich nur gut gemeint, denn die arme Kleine war offenbar auch im naturbelassenen Zustand ungemein häßlich.

Zum Frühstück war ich diesmal der erste, und es gelang mir, die Bedienungsgeheimnisse des am Tisch angebrachten Rundfunkempfängers zu lösen. Nicolas kam hinzu, und wir plauderten kameradschaftlich über Fragen der Technik, auch er war anscheinend nicht sehr bewandert in diesen Dingen.