Freitag, 31. Oktober 2008

Great Balls of Fire

A vegades en llocs molt solitaris,
com un bar d'aeroport

Niemand wußte zu sagen, ob wir noch Gäste dieses Hotels in Buenos Aires waren oder in der Empfangshalle nur noch auf den Abtransport warteten. Die Koffer waren gepackt und die Rechnungen bezahlt, die Zimmer aber noch nicht verschlossen. Man konnte das Hotel durch einen Nebenausgang verlassen, mußte dann aber, um es durch den einzig möglichen Haupteingang wieder zu betreten, nicht nur den gesamten Block umrunden, sondern dabei auch ein ziemlich unwirtliches Gelände überwinden. Dabei konnte man aber einem überdachten Betonband folgen, nicht unähnlich dem, das die Passagiere von der S-Bahnstation zum Flughafengebäude Schönefeld führt. So vertrieben wir uns die Zeit.

Vom Hotel aus konnte man schon die beiden verlockenden und beängstigenden Brücken sehen, die über den Rio Plata hinweg zum internationalen Flughafen führen. Von Brücken zu sprechen war vielleicht übereilt, denn man sah, wie sie sich steil und verwegen in den Himmel erhoben, die linke noch um einiges steiler und verwegener als die rechte, daß sie sich am anderen Ufer wieder gesenkt hätten, sah man nicht, geradeso als ob die rastlose Menschheit eine neue Art von Flugabfertigung ersonnen hätte, bei der die Maschinen nicht länger am Boden stehen, sondern als Riesenvögel an himmelhohen Einsteigegates schweben wie Kolibris an den Blüten. Am Ende des linken Brücken- oder Himmelssteigs tobten Feuerbälle, eine Katastrophe unbekannter, in jedem Fall aber grauenhaften und vernichtenden Art spielte sich ab, womöglich nicht weniger als der Weltenbrand. Der Strom der das gleißende, an seinem Ende blutrot überlaufene Silberband emporeilenden Passagiere verringerte sich aber kaum. Wir hielten uns an den rechten Aufstieg. Hier schien alles friedlich, nur vereinzelt lagen blutige Gestalten, tot oder verwundet, am Weg. Den guten Mut verloren wir nicht, unser Rückflug war fest gebucht.

Kafka z'Bärn

Wir können nicht wissen, wie der Schweizerdeutsche, der Berndeutsche die Welt erlebt. Die russische Sprache kann man erlernen und dann Dostojewski lesen, nicht grad wie ein Russe aber doch auf die gleiche Art. Lesen wir Rudolf von Tavel, Simon Gfeller und andere berndeutsche Autoren, dann streifen wir nur ein anderes Kleid über unser Hochdeutsch, ein lustiges und friedliches, wie uns scheint, und gehen durch einen hellen Tag. Wir lesen nicht Berndeutsch, sondern die Differenz zu unserer gewohnten Sprache, und die in die Schweizer Sprache eingelassene Derbheit macht sie nur noch friedvoller und gelassen wie die Bären in ihrem Berner Graben. Seltsam auch, daß das Berndeutsch sozusagen seine eigene Außenpolitik betreibt, so daß die häufigen französischen Passagen bei Tavel unmittelbar und ohne die geringste Schriftdeutsche Rahmung ins Idiom eingepaßt werden können.


Von den Bernern hören wir, sie empfänden das von ihnen so genannte Schriftdeutsche als eher kalt und abweisend, und tatsächlich flüchten sie, wenn man sie nur einen Augenblick läßt, zurück in ihr Idiom. Die Differenz wird also von der anderen Seite nicht ganz und gar anders beschrieben, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Berndeutsche für die Berner und Bernerinnen die neutrale Form der Weltartikulation ist. Kafka könnte die Nagelprobe sein. Wäre er ins Berndeutsche übersetzt und wollten wir, die Schriftdeutschen, ihn in dieser Weise lesen, wäre er wohl weitgehend um sein Bestes, das Kafkaeske, gebracht, dem atemlosen Landarzt hätte sich eine beruhigende Hand auf die Schulter gelegt. Würde die fehlläutende Nachtglocke als Nachtliglogge auch für den Schweizer ihren Schrecken verlieren?

Donnerstag, 30. Oktober 2008

An der Kennedybrücke


Unsere gute Freundin S. ist, so hört man, nach einer längeren Tätigkeit im Ehrenamt, in dem sie aber die erhoffte Freude und Befriedigung nicht uneingeschränkt gefunden hatte, jetzt wieder in ihrem angestammten Beruf als Ärztin tätig. Da wird man angesichts der langen Unterbrechung und ungeachtet all ihrer unstrittigen Begabung für das Patientengespräch im Hinblick auf diagnostische Schärfe und Zielgenauigkeit im therapeutischen Ansatz einige Zugeständnisse machen müssen. Zwiespältig und bedenklich stimmt auch, daß einerseits schon gutes Geld fließt, sie andererseits einen nicht geringen Teil dieses Geldes aber in den Ankauf eines seltsames Gefährtes investiert hat, eine Mischung aus Rennsportwagen, Militär- und Bestattungsfahrzeug. Im Hintergrund diese Kaufaktes steht, dafür spricht eigentlich alles, offenbar F., in seiner Art ja ein Autonarr.

Bei der ersten Vorbeifahrt hatte ich S. gar nicht erkannt als Eignerin und Lenkerin des Vehikels, pechschwarz wie es war mit einer großen weißen 4 im Fensterkreuz der Frontscheibe, einem unmäßig langgezogenen Motorvorbau und schießschartenartig verengten Seitenfenstern, die obendrein als die Augen eines Monsters gestaltet waren. Als sie nach Unterquerung der Kennedybrücke ein zweites Mal sich näherte und mir zuwinkte, konnte ich mich der fröhlichen Aufforderung zuzusteigen nicht entziehen. Wie sich zeigte, handelte es sich bei dem Gefährt um ein sogenanntes Funcar, und wir waren nur Teil eines größeren Corsos entlang des Rheins, veranstaltet von übermütigen und überwiegend jungen Leuten, und warum nicht auch selbst noch einmal jung und übermütig sein und aller Sorgen frei. Meiner kleinlichen Vorbehalte konnte ich mich nachträglich nur schämen.

Eingezwängt im engen Fond des Wagens saß ein von S. Geheilter. Er war gequält gewesen vom zwanghaften Versuch, das Rätsel der sogenannten Winterkönigin zu lösen, die der Dichter Sebald in seiner Erzählung Il Ritorno in Patria gegen Ende hin auftreten läßt. Der Dichter selbst hatte sich bereits verwünscht, weil er, obwohl sie ihm mit dem Aufsagen eines Verses eigentlich alle Türen geöffnet hatte, nur stumm und dumm dagesessen war und keine Worte gefunden hatte, sie anzusprechen, bevor sie dann in Bonn ausstieg aus dem Zug, in dem er aus dem Allgäu kommend nach England unterwegs war. Auch von dem Buch Das Böhmische Meer einer Autorin Mila Stern, in dem die Winterkönigin während der Fahrt am Rhein entlang gelesen hatte, war allen Bemühungen zum Trotz ein bibliographischer Nachweis nicht zu finden gewesen. Im Therapiegespräch mit S, war nun alles zutage getreten und alle Rätsel waren gelöst worden. Der Geheilte freilich hatte sich entfernt, bevor er mir, der ich an der Lösung dieser Fragen kaum weniger dringlich interessiert war, sein Wissen hatte mitteilen können. S. aber war an die ärztlich Schweigepflicht gebunden.

ABBA


Eine Fernsehsendung über ein Thema, das mir in keiner Weise nahe steht, hat mich tief getroffen und um den Nachtschlaf gebracht: Björn und Benny, Agnetha und Ann-Frid (Frida): ABBA. Niemand hatte seinerzeit, in den siebziger und frühen achtziger Jahren, die Möglichkeit, sie nicht zu kennen, zwei sehr schöne, hochgewachsene Frauen, die eine blond, die andere dunkler, und zwei Männer mit einem lustig-trollhaften Aussehen. Alle zwei Monate biß sich eine neue Melodie in den Ohren fest, Waterloo, Fernando, Mamma mia, Money, Money. Dann waren sie plötzlich verschwunden, die vier, offenbar für immer eingefroren hinter dem Horizont in ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihren Reichtum, ihrem Glück.

Und da springen sie nun plötzlich hervor aus dem Abgrund der Zeit, in dem sie für immer als ABBA endgelagert schienen, Agnetha und Frida, wie die weiße und die schwarze Billardkugel in Sebalds Austerlitzbuch, nur haben sie, was vielleicht noch schrecklicher ist, weitergelebt die ganze Zeit, anders als die Kugeln, die über die Jahre hin nur unberührt und unverändert dagelegen haben. Agnetha ist blond wie eh und je und ist doch, wie sich herausstellt, Frida, die jetzt, schon an die sechzig, noch schöner und ungeheuer schwedisch aussieht, obwohl sie ein Tyskebarn ist und also einen deutschen Soldatenvater hat.
Die vier wurden 2004 nach London eingeladen, um teilzunehmen an Feiern zu Ehren eines Musicals Mamma Mia, das offenbar nach ihren Melodien gestaltet wurde. Björn und Benny haben kaum noch Ähnlichkeit mit ihrer ABBA-Gestalt und tragen jetzt beide Bart, so daß man sie nicht auseinander halten kann. Agnetha, die immer schon lieber im Studio als auf der Bühne war und außerdem unter Flugangst leidet, ist trotz Zusage nicht erschienen in London, Szenen aus einem Interview mit ihr werden hineingeschnitten, die sie aber ständig im Gegenlicht und daher leicht schemenhaft zeigen. Frida ist inzwischen Prinzessin von Reuß, Agnetha hat ein eher unstetes Leben geführt, zwischen 1997 und 1999 hatte sie eine nie näher definierte Beziehung mit einem in Schweden lebenden Niederländer, die sich für sie zum Albtraum entwickelte. Björn leidet, wie er im Sommer 2008 in einem Interview mit einer britischen Zeitung erwähnte, unter dem Verlust des Langzeitgedächtnisses. Er könne sich inzwischen nicht einmal daran erinnern, dass ABBA 1974 mit Waterloo den „Eurovision Song Contest“ gewonnen hat. Wörtlich sagte er: Es ist, als wäre ich gar nicht dort gewesen. Von Benny ist wenig zu berichten. Er ist Inhaber einer schwedischen Plattenfirma sowie eines Stockholmer Luxushotels und eines Reitstalles in der Nähe der schwedischen Hauptstadt.




Dienstag, 28. Oktober 2008

Vézelay

Com si en un port sonés una sirena,
el cel.lo es despedia de la noia
amb la segona suite de Bach.

Wir sind drei, wir spielen, jeder spielt zwei. Wir sitzen im Kreis. Wir sind nicht real, wir sind eine geometrische Figur, wir sind die Planetenbahnen, wir sind das Bohrsche Atommodell, wir sind drei kleine Chinesen, die sitzen im Kreis, wir sind ein Kreis. Wir sind grau, wir haben die Farbe von Stein, wir sind Stein, wir sind Steinheilige in Sancta Magdalena de Vézelay. Wir sitzen im Kreis, wir spielen, jeder spielt zwei. Wir spielen die Cellosuiten, wir spielen Prélude, Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte, Gigue. Sechsmal, sechsmalsechs. Wir sind drei, wir spielen jeder sechsmal zwei. Wir spielen dreimalzweimaldreimalzwei. Zu dritt spielen wir sechsunddreißig.

Dornröschen

Böhmische Gespräche und eine Dissertation

Quan un es fa fent vell sovint es queda
aturat i mirant cap a la nit,
com qui estudia, abans de viatjar-hi,
plànols d'una ciutat desconeguda.

Angeregt durch die Dissertation der fernen jungen Freundin sowie auch durch die Gespräche mit den guten alten Freunden habe ich begonnen, meine kaum vorhandenen und nicht weiter erwähnenswerten Gedanken über Architektur zu ordnen. Ich gehe aus von der in ihrem Wahrheitsgehalt nicht ernstlich bestreitbaren Feststellung Gomez Davilas, die Moderne würde sich in keiner ihrer Vorkommnisse bündiger widerlegen als in ihrer Architektur. Seitdem die Kunst dem Kunstwillen freigestellter Individuen überantwortet ist, muß man mit deutlich mehr als neunzig Prozent Streichresultaten rechnen. In der Literatur oder der Malerei bereitet das keine nennenswerten Schwierigkeiten, die fehlgeleiteten Bücher können in den Regalen verstauben und irgendwann der blauen Tonne überantwortet werden, Bilder können an wenig beachteten Wänden hängen oder, besser noch, mit der uns zugewandten Rückseite an ihnen lehnen. Mit der Musik, die aus allen Fugen dringt, ist es schon schwieriger, vollends hoffnungslos aber ist es mit den Architekturerzeugnissen. Robert Gernhardt hat scharfsinnig den Grund erkannt und ans Tageslicht gezerrt: Das Ding es ragt und steht.

Folgerichtig haben wir während eines längeren Spaziergangs durch Karlsbad auf Abhilfe gesonnen und die Lösung tatsächlich gefunden. Sie besteht darin, daß Brüssel die sprengstofferfahrene ETA gegen gutes Geld abzieht von ihrem bisherigen Betätigungsfeld um sie zu beschäftigen mit der Beseitigung von Gebäuden, die ein bestimmtes Maß an Kunstwidrigkeit überschreiten, naturgemäß nachdem die Gemäuer zuvor von allen Vertretern höherer Lebensformen, Mensch, Hund, Katze und Kanarienvogel, evakuiert wurden. Anspruch auf Auslöschung hat alles, was den vollständigen Gernhardtreim erfüllt: Das Ding es ragt und steht, die Dummheit ist konkret. Die zu bewältigende Aufgabe ist so umfangreich, daß angesichts des sich ergebenden Zeitbedarfs die schleichende Resozialisierung nicht nur aller ETA-Mitglieder, sondern, sollte es dazu kommen, der Mitglieder aller aktuell bombenden Gruppierenden gesichert wäre.

Vor der erfolgreichen Lösung der Problematik im unteren Skalensegment in Karlsbad hatten sich freilich tags zuvor in Marienbad, ohne daß das unbedingt allen klar geworden war, Schwierigkeiten am oberen Rand abgezeichnet. Eine an Franz Kafka erinnernde Gedenktafel hatte eine den Dichter betreffende Diskussion ausgelöst. Alle waren bereit, sein literarisches Format anzuerkennen, ohne aber Neigung zu zeigen, ständig einen Band seiner Werke auf dem Nachttisch liegen zu haben (eine Gegenstimme), so wie man, wurde als Beleg angeführt, auch nicht unbedingt ein Gemälde von Goya über seinem Bett anbringen möchte (keine Gegenstimme). Wenn nun aber bereits die eher unaufdringliche Lagerung eines Kafkabändchen auf dem Nachttisch zurückzuweisen ist, wie wäre dann ein kafkaeskomorphes Architekturkunstwerk mit hohem Kunstwert inmitten unserer aller Lebensraum zu sehen? Da sich auf dem Feld der Architektur gehobener Kunstanspruch oft mit erheblich gehobener Größenordnung verbindet, sind die zu bewältigenden Schwierigkeiten im oberen Skalenbereich womöglich noch größer als unten: Man wird sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten – die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle (Sebald, Austerlitz).

Remei Capdevila i Werning schreibt in „Meaning and Symbolization of Architecture and Nelson Goodman's Aesthetics" (unveröffentlichtes Manusskipt): The point is that one and the same building can function as an architectural (artistic) work in some cases and not in others: the same saltbox house can be understood both as an architectural work and as a place to provide shelter.

Radikalisieren wir diesen Gedanken und stellen uns einen makelloses, unten von der ETA und oben von der Selbstbescheidung der Architekten bereinigtes Architekturfeld vor, so könnte die Frage, ob nun Kunst oder nicht, auf ewig schlummern wie Dornröschen, sie könnte aber auch jederzeit und an allen Orten von jedermann wachgeküßt werden, denn in einer solchen Welt wären wir ohne Zweifel allesamt ständig verliebt.





Montag, 27. Oktober 2008

Heimwärts von Spitzbergen


Unsere Kreuzfahrt in einem nördlichen Meer kam zum Ende, man traf sich zum letzten Kapitänsdinner. Vieles sprach dafür, daß wir die Barentssee befuhren, heimwärts von Spitzbergen mit Archangelsk als Zielhafen. Entweder war der Gang über das Deck sehr weit, oder es war der Etikette geschuldet, jedenfalls trugen wir Mäntel, die an der Garderobe abzugeben wir gerade im Begriff waren, ich war noch nicht bis zu den Garderobenfrauen vorgedrungen. Diese dort hinten unter den vielen Gästen im dezenten Halblicht des mit dunkler Holztäfelung verkleideten Vorraums sich abzeichnende schwarz gekleidete schlanke Gestalt mit dem bleichen verlorenen Gesicht, sollte das Jewgeni Onegin sein? Und wer dann war die vollends nur noch schemenhaft zu erkennende weibliche Gestalt, um die er mit aller gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt und – konnte man das erkennen, durfte man das annehmen – nicht ohne Zärtlichkeit bemüht war? Tatjana, diese Möglichkeit schied eindeutig aus, darauf durfte man nicht hoffen, aber andererseits wer weiß schon, und wer kennt wirklich die verschlungenen Wege unseres Lebens. Hatte er doch noch sein Glück gefundenen, oder war es wieder nur ein kurzer Zeitvertreib in der nicht zu vertreibenden Endlosigkeit des melancholischen Zeitmeeres? Angesichts so tiefer und bewegender Fragen hatte ich kein Anrecht an einer eigenen Geschichte, und auch an das Bild war besser nicht zu rühren, es konnte sich nur trivialisieren oder gar ins Schlimme wenden. Mein eigenes kleines Glück beschränkte sich auf den guten Einfall, den farbigen Schal um meinen grauen Allerweltsmantel zu schlingen. So würde ich ihn zum Ende der Festlichkeit leicht wiederfinden in der Masse der hinterlegten Kleidungsstücke und nicht aufgehalten werden auf dem längst schon ersehnten Gang zurück in meine Schlafkabine.

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Tschechow

Wieder gelesen: Duel’

Tschechow ist vermutlich der am wenigsten umstrittene Autor der Weltliteratur. Selbst Goethe hatte seine Kritiker, als Mensch ohnehin, zu Fontane heißt es bei Benn, er sei eine große Leuchte, aber dann wird ihm der Vorwurf des allgegenwärtig Pläsierlichen gemacht. Kommen wir zu Thomas Mann, so werden die Meinungen schon ganz bunt. Über Tschechow ist nie ein böses Wort gesagt worden, nicht über den Autor und nicht über den Menschen, und man müßte sich wohl schon auf den Kopf stellen, um ein solches Wort zu ersinnen. Nicht einmal der dialektische Trick, aus der Makellosigkeit einen Makel zu gewinnen, würde verfangen, die Fehler sind da, aber man verzeiht sie ihm leicht und gerne, und ein tiefes Gefühl der mentalen Reinigung ist gleichwohl eine der großen Freuden, die jede Tschechowlektüre hinterläßt. Wir sehen gern das Bild des Dichters und Arztes, sein auf jede Weise wirklich schönes Gesicht, vor allem auch, wenn es ihn neben seiner Frau Olga Knipper-Tschechowa zeigt, nicht lange nach der späten Heirat (1901) und damit auch schon nah zu seinem Tod (1904). Wir lesen gern die Briefe, die die beiden gewechselt haben, und sprechen nach: Mein ferner lieber Mensch.

Unter den großen russischen Erzählern des 19. Jahrhunderts ist Tschechow der unauffälligste und er begleitet uns unauffällig wie kein anderer und mit großer Selbstverständlichkeit bis in unsere Zeit. Er steht weniger in einer Linie mit Gogol oder Dostojewski, als daß er Tolstoi verlängert. Dessen demiurgische Kraft, die direkt aus der Hand zu kommen scheint, mag er nicht ganz erreichen, diese Kraft war bei Tolstoi aber eng verbunden mit einem moralisch-religiösen Eiferertum, das fortwährend dynamisierend und destruktiv zugleich in seine Prosa eingreift und bei Tschechow völlig fehlt. Tolstoi gleich kommt Tschechow im mühelos sympathetischen und anscheinend nach seinem Belieben grenzenlos verfeinerbaren Zugang zu seinem Personal. Die Tür zum Seelenleben kann aber auch hart verschlossen bleiben, von den inneren Regungen des Polizeioffiziers Kirilin wollen weder Dichter noch Leser Genaueres wissen.

Zur großen Form hat Tschechow als Erzähler keinen Zugang. Der Literaturkreis konnte, um auch nur annähernd auf das gewohnte Lesefutter zu kommen, nur zwischen drei oder vier Erzählungen wählen, die die Hundertseitengrenze ganz oder fast erreichen – Tschechows Optimum ist damit eigentlich überschritten, wir haben es vielleicht nicht mit seiner allerschönsten Erzählung zu tun aber doch mit einer sehr schönen, denn hier stimmt auf jeden Fall, was Onetti in gewinnender Anmaßung für sich reklamierte: der Autor kann gar nicht anders.

Wer wird, wenn die letzte Seite umgeblättert ist, je wieder den klobigen, sanguinischen, grenzenlos gütigen und liebenswert eitlen Samoilenko vergessen können oder den lachlustigen Diakon, dem nach den Maßstäben seiner von Dumpfheit und Brutalität, Gier, Habsucht und dem Fehlen grundlegender Formen von Lebensart gekennzeichneten Herkunft schon eine Welt äußerer Wohlanständigkeit und guten Benehmens als das kleine Paradies erscheint und der zweite Schritt zu einer wirklich paradiesischen Welt eigentlich als der leichtere.




Sarkozy

Im Urlaub haben wir die Sarkozys getroffen. Offenbar ist der berechtigt gute Ruf der Zinschghofküche bis in den Élyséepalast gedrungen, denn in dieser Herberge waren wir offenbar untergebracht. Das Arrangement war in der Saison allerdings erheblich verändert, man saß an langen Bierzelttischen, und unten an unserem Tisch saßen, mit allem Ausdruck der Zufriedenheit, die Sarkozys. Sie hatten zwei Kinder dabei. Der Junge sah aus wie Karlchen von nebenan, da muß man weiter nichts hinzufügen. Das kleine Mädchen war greulich geschminkt und in ihr Haar war eine Art Basilisk eingeflochten, so daß man sie, die Tischplattenhöhe noch nicht erreichte, auf ihren Wegen durch den Eßsaal gleichwohl immer verfolgen konnte. Carla Bruni hatte es vermutlich nur gut gemeint, denn die arme Kleine war offenbar auch im naturbelassenen Zustand ungemein häßlich.

Zum Frühstück war ich diesmal der erste, und es gelang mir, die Bedienungsgeheimnisse des am Tisch angebrachten Rundfunkempfängers zu lösen. Nicolas kam hinzu, und wir plauderten kameradschaftlich über Fragen der Technik, auch er war anscheinend nicht sehr bewandert in diesen Dingen.