Mittwoch, 10. Juni 2009

Kenkitsatatsiria

Das Haus in der Nacht / durch die Fenster / der Schein der Flammen

Gelesen:
Mario Vargas Llosa, Viaje a la ficción

Wiedergelesen:Juan Carlos Onetti, La vida breve & El astillero

Vargas Llosas Buch ist eine große Hilfe und Vergewisserung für alle, die fasziniert sind vom uruguayischen Autor Juan Carlos Onetti, ohne sich vielleicht ganz im Klaren zu sein warum und wieso, und die vielleicht sogar, bei längerer Trennung, unsicher werden, ob die Faszination denn auch rechtens ist. Die Reise zur Fiktion, die wir an der Seite von Vargas Llosa antreten, ist nicht kurz, die Annäherung an Onetti erfolgt in einer aufwendigen, weit ausholenden Schleife, die uns über Adam und Eva hinaus bis zu den Hominiden bringt und dann von der jenseitigen Seite zurück zum Sündenfall, der sich bekanntlich am Baum der Erkenntnis zugetragen hat. Es handelt sich um die Erkenntnis der Realität, die das Tier nicht hat und die der Mensch nicht erträgt, ohne daß er Welten zwischen sich und die Welt bringt, Welten der Religion, die Vargas Llosa hier außer Acht läßt, und Welten der Fiktion, die sein Thema sind. Als junger Mensch, so berichtet Vargas Llosa, sei er, knapp diesseits des Sündenfalls, auf einen Proto-Onetti gestoßen, den Kenkitsatatsiria, den Geschichtenerzähler (si, dijeron, se podía traducir por „hablador“ o „contador“) bei den Machiguengas im peruanischen Amazonasgebiet im Bereich der Flüsse Urubamba, Paucartambo und Mishagua und er, Vargas Llosa, sei, wenn auch nur indirekt, Zeuge geworden der befreienden, die Ängste verscheuchenden Wirkung des Erzählens, des Entwurfs geistiger Zusatzwelten in diesem frühen Stadium der Kulturentwicklung. Von Gehalt und Form der Erzählungen des Kenkitsatatsiria erfahren wir weiter nichts, aber es dürften schon noch einige Schritte gewesen sein bis zu Onetti, dem Hyperkenkitsatatsiria, der die Fiktionalisierung der Fiktion einer Fiktionalisierbarkeit des Fiktiven betreibt, um nur vorsichtig das Wenigste zu sagen. Einiges spricht dafür, daß er auch der Frage des Fiktiven der Fiktionalisierbarkeit einer Fiktion der Fiktionalisierung nachgegangen ist.


Vargas Llosa hält El astillero für den perfektesten und reinsten Roman Onettis, La vida breve für den reichsten und schönsten, Grund genug, die beiden Bücher neu zu lesen. Faulkner wird als Onettis wichtigster literarischer Orientierungspunkt dargestellt, Borges eher als Kontrastfigur, eine Verwandtschaft mit Kafka wird erwähnt aber nur wenig vertieft. Dabei fällt die Vorstellung nicht schwer, daß auch Kafka, hätte er am Meer gewohnt, nicht von einem Schloß, sondern von einer Werft geschrieben hätte. Zwar gelingt es dem Landvermesser unter keinen Umständen, in das Schloß vorzudringen, während Onettis Larsen keine Mühe macht, die Werft zu betreten und sich kurzerhand zum Gerente General ernennen zu lassen. Die Werft ist freilich leer, ohne jeden Werftbetrieb, aber, so kann man vermuten, auch der ganze Aufwand, der um das Schloß betrieben wird, soll nur verdecken, daß es nicht weniger leer und ohne Geschäfte ist. Onetti ist nur ein Schritt weiter auf dem traurigen Weg der Metaphysik. Überall sucht Kafka die unüberwindlichen Mauern, die eine Geheimnis verbergen, das es schon nicht mehr gibt, die Mauern der Schloßanlage, die des Gesetzes, die in China. In die aufgelassene Werft kann jeder eintreten, der will, ohne daß ihm aber besser würde davon. Larsen trifft in der Werft auf die Subgerentes Kunz & Gálvez, so getreue Abbilder der beiden Gehilfen des Landvermessers, daß man sich die Augen reibt.

Vargas Llosa berichtet von einer mehrtägige PEN-Konferenz, auf der Onetti beharrlich geschwiegen habe, sowie von einer anschließenden gemeinsamen Reise durch die USA. Onetti habe sich konsequent geweigert, an irgendwelchen Besichtigungsterminen, Museums- oder Konzertbesuchen teilzunehmen und sei ganz überwiegend in Begleitung seiner Whiskyflasche im Hotel geblieben, so daß man sich, wie Vargas Llosa leicht irritiert anmerkt, schon habe fragen können, warum er überhaupt mitgereist sei. In seinen letzten Lebensjahren soll Onetti kaum noch das Bett verlassen haben, nicht so sehr aufgrund körperlicher Gebrechen, sondern weil er den rechten Sinn nicht mehr erkennen wollte.

Sebald berichtet in seiner an den Tagebüchern orientierten Erzählung Dr. K.s Badereise nach Riva von ähnlichen Reisegewohnheiten Kafkas. Es spricht kaum etwas dafür, daß Dr. K. das Hotel an diesem Abend noch verlassen hat. War es im Grunde schon unmöglich, überhaupt hier zu sein, um wie viel unmöglicher war es dann erst, sich hinauszuwagen unter diesen Wasserhimmel, unter dem selbst die Steine zerflossen. Dr. K. bleibt also im Hotel. Er legte sich auf das Bett, die Hände unterm Kopf verschränkt, und betrachtete den Plafond. Ebenso spricht wenig dafür, daß Kafka sich massiv für die italienischen Sehenswürdigkeiten interessiert habe. Wie es schön ist, schreibt er, mit einem Ausrufezeichen, über Einzelheiten aber schweigt sich Dr. K. aus. Einleuchtend wäre dagegen, daß er Jahrzehnte vor dem ihm nachreisenden Sebald dasselbe Pissoir im Bahnhof Desenzano aufgesucht hat, eines der Graffiti neben dem Spiegel schien geradezu darauf hinzudeuten, Il cacciatore, der Jäger Gracchus, stand da in einer ungelenken Schrift.

Die beiden Dichter lehnen es ab, die Welt dort zu betrachten, wo sie sich zu Betrachtung anbietet, umso schärfer kann ihre Wahrnehmung dort sein, wo die Welt sich unbeobachtet fühlt und von der Beobachtung sozusagen überrascht wird. Vargas Llosa läßt Onetti schildern, wie der Werftroman aus dem tatsächlichen Besuch einer aufgelassenen Werft in Dock Sud Buenos Aires hervorgegangen oder besser entsprungen ist, denn der Eindruck war so stark, daß die schon fortgeschrittene Arbeit am Roman Juntacadaveres unterbrochen und der Werftroman zwischengeschoben wurde. Das gesamte Geschehen des Romans entwickelt sich um fünf derartige Orte, bei denen der reale und der mythische Gehalt nicht unterscheidbar sind, die Werft, Santa Maria, das Haus, Die Glorieta und die Hütte. Sie geben, sich abwechselnd und kumulierend, den Kapiteln ihren Namen. Das letzte Kapitel ist betitelt: El astillero – VII / La glorieta – V /La casa - I / La casilla – VII. Man kann vermuten, daß auch Haus, Hütte und Glorieta wahrgenommene Vorbilder hatten, Santa Maria ist dann noch genauer zu betrachten.

Und Kafka, der vermutlich nur wenige Blicke auf die Seefahrt geworfen hat, stampft für seinen Jäger Gracchus, den Cacciatore, ein Prosaschiff aus dem Wasser, das, so verkommen es scheint, sich buchstäblich gewaschen hat: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen (Kafka, Tagebücher, 6.4.1917). Fast könnte man meinen, nicht der Cacciatore habe sein Schiff gefunden, sondern der tiefe, in seiner Prosaumsetzung noch nicht zur Ruhe gekommne Eindruck des Schiffes habe die Geschichte vom Jäger Gracchus erzeugt.

In La vida breve unterscheidet Vargas Llosa drei Ebenen, die der Realität, vertreten durch Brausen, dessen Frau Gertrudis mit der frisch amputierten Brust, dem Arbeitskollegen Stein, dem Chef McLeod und anderen; eine halb reale, halb phantasierte Welt um Brausen-Arce und die Prostituierte Queca samt ihrem Zuhälter Ernesto und schließlich die phantasierte Welt der Stadt Santa María mit Brausen-Díaz Grey, Elena Sala und anderen. Das Schema wird dann noch erheblich verfeinert, einige Punkte können aber noch zusätzlich hervorgehoben werden.

Zum einen führt Onetti sich selbst als handelnde Person in das Buch ein: El hombre que había alquilado la mitad de la oficina a Brausen se llamaba Onetti. Onetti teilt das Arbeitszimmer also mit Brausen, bei leichter Verschiebung des Wortsinns läßt sich also sagen, Brausen ist durch Zellteilung aus Onetti entstanden. Dadurch ist eine weitere, realere Realitätsebene oberhalb der von Brausen repräsentierten eingeführt. Aus Brausen entsteht wiederum Arce durch Zellteilung, die Wand, die Brausens Wohnung von der der Queca trennt, in der er zu Arce wird, hat, was die Geräuschdurchlässigkeit anbelangt, alle Merkmale einer bloßen Stellwand japanischer Leichtbauweise. Hinter einer weiteren, einen Teil der Praxis abteilenden Stellwand tritt Gertrudis hervor in der Gestalt der Elena Sala, mit restituierter Brust und trifft auf den Arzt Díaz Grey, eine Inkarnation, oder vielleicht besser: Exkarnation Brausens und mithin Onettis.

Und zum anderen findet sich die imaginierte Welt nicht einfach ab mit ihrem nachgeordneten Status, Díaz Grey sieht sich seinerseits als tímido inventor de un Brausen. Durch die Verselbständigung der imaginierten Welt wird ein Ich zwischen seinen verschiedenen Ebenen und unabhängig von ihnen wieder freigesetzt: Yo, el puente entre Brausen y Arce, necesitaba estar solo. Es ist nicht immer klar, wo dieses Ich sich gerade aufhält. Auch Onetti-Brausens eigene, von ihnen ersonnene Stadt Santa María entsteht nicht aus dem Nichts: Santa María, porque yo habá sido feliz allí, anos ante, durante veinticuatro horas y sin motivo. Rechnet sich Onetti das YO dieses Satzes selbst zu, wäre Santa María demnach, ganz ähnlich wie die Werft, auf eine konkrete Erinnerung zurückzuführen? Santa María hätte dann einen kaum geringeren Realitätsstatus als Montevideo oder Buenos Aires, die ja ihrerseits nicht in einer Weise erscheinen, daß sich touristische Führungen auf den Spuren Onettis lohnen würden. So zutreffend die von Vargas Llosa bloßgelegte Dreischichtenstruktur ist, noch präziser ist das Urteil, mit dem Queca und Onetti den Roman beginnen lassen: Mundo loco. Eine verrückte Welt, in der Brausen und Ernesto real aus dem realen Bounos Aires in das irreale Santa María fliehen können, eine verrückte Welt, die sich dann folgerichtig im letzten Kapitel als Karneval tarnt.

In das 5. Kapitel des zweiten Teils von La vida breve hat Onetti ein Selbstbildnis eingefügt aus Sätzen, die Rembrandt unmittelbar das Malwerkzeug hätten führen können: El hombre se llamaba Onetti, no sonreía, usaba anteojos, dejaba adivinar que solo podía ser simpático a mujeres fantasiosas o amigos íntimos. Hombre de cara aburrida, Onetti saludaba con monosílabos a los que infundía una imprecisa vibración de carino, una burla impersonal. Revisaba papeles, fumaba sin ansiedad, conversaba con una voz grave, invariable i perezosa. Vor allem eine Stimme hinterläßt eine Spur, eine Stimme der Einsamkeit und Stille, dunkel und indolent, mit einem Vibrato der Liebe. Klingt so auch die Stimme des Kenkitsatatsiria bei den Machiguengas im Quellgebiet des Amazonas? Carino: Liebe; bondad: Güte hat Onetti an anderer Stelle als Merkmal seiner Prosa reklamiert, und wenn man nur einräumt, daß Liebe und Güte in der Welt nicht einfach zu plazieren und dementsprechend auch nicht einfach zu finden sind, so mag das zutreffen.

Eine der mujeres fantasiosas, die sich nach Onettis eigener Einschätzung allenfalls für ihn erwärmen konnten, war die Dichterin Idea Vilarino, die in diesem Jahr, vor wenigen Wochen erst, in Montevideo im Alter von 89 Jahren gestorben ist. Ihre Poemas de amor handeln von JC Onetti, er seinerseits hat ihr denjenigen seiner Romane zugeeignet, der ihm selbst der liebste war, Los adioses, nicht der Titel, den sie sich gewünscht hätte. Idea Vilarino hat Onetti so gezeichnet:

Verte reír tocarte con las manos
vivir contigo un día un ano tres semanas
compartir vida seria vida mansa contigo
encontrate en la cama
vistiéndote en el cuatro
oliendo a alcohol fumando
sudando en el verano
o en el amor cerrando
tus ojos distraídos.