Samstag, 25. Juli 2009

Plaisir

Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter


Gleichzeitig wollte ich überprüfen, warum mir dieser Autor oft gegen mein Empfinden war. Es ergab sich: es ist das Fornikatorische. Dies Fornikatorische, das als Ganzes, als existentieller Stoff medioker bleibt. Dieser Autor hat Sicherheit, Kontur und Überlegenheit, er wird mit seinem Thema fertig, er ist innerhalb der allgemeinen Romaninferiorität eine große Leuchte, er betreibt das Geschäft der Musen, aber dies Fornikatorische, das das ganze epische Oeuvre durchspinnt, vielmehr: trägt und bindet, entzieht ihm den Rang. Es tritt so sehr hervor in jeder seiner Äußerungen, daß es ganz offenbar für ihn das Mittel war, um zum Ausdruck zu gelangen,
das Mittel, mit dem er die Welt erfaßte. – So äußert sich Gottfried Benn über Fontane, nur daß in seinem Text anstelle von Fornikatorisch Pläsierlich erscheint. Der manipulierte Text zielt auf John Updike. Ruft man seine Erzählwelt auf im Kopf, so ist die erste Erinnerungsspur, daß jede und jeder mit dem Zutritt als Romanfigur auch gleich ein Freiticket über drei Ehescheidungen und beliebig viele Konkubinate erhält, all you can fuck. Der Autor leidet, könnte man meinen, unter Sexualzwang direkt am Schreibtisch, nicht umsonst war der Held seiner frühen Romanserie auf den Namen Rammler (Rabbit) getauft.

Wer in der Kunst vor allem ein Werkzeug der Befreiung und sonst wenig sieht und in der Sexualität der Freiheit schönstes Territorium, wird Updike zujubeln. Aber Befreiungsaktionen sind nur schön in der Morgenröte, vom triumphalen Gestus der
Lady Chatterley ist nichts zu spüren, und Updike versucht ihn auch auf keine Weise. Es geht hier nicht um Moral, die ist bei diesem Thema längst abgeschrieben, ästhetische Vorbehalte sind gleichwohl möglich: Es ist fraglich, ob Pornographie mit den Präzepten erzählerischer Prosa überhaupt vereinbar ist. Die künstlerische Verkürzung der imaginierten Realität, die jede Form von Prosa ins Werk zu setzen hat, nimmt im pornographischen Text, der, als die entsentimentalisierte Fiktion par excellence, nie geschwind genug zur Sache kommen kann, leicht Züge unfreiwilliger Komik an. Der hohe Grad der Explizität paßt einfach nicht zum Tempo und zu den offenkundigen Ellipsen in der beschriebenen Handlung. Nehmen wir einen anderen Roman, der gerade zur Hand ist, keinen geringen allerdings, Virginia Woolfs To the Lighthouse, nicht auszudenken, welche Verheerungen das Eindringen offener Fornikation in Wort und Bild in diesem lichtvollen Sprach- und Seelengewebe angerichtet hätte

In Updikes Band
The Maples fehlt überraschend die Fornikation vor dem Vorhang weitgehend, dahinter findet sie natürlich statt, aber das ist ein anderes Thema und in jedem Fall ästhetisch unbedenklich. The Maples ist eine Sammlung von Erzählungen das Ehepaar Mr. Richard & Mrs. Joan Maples betreffend, am Rande, nicht immer nur am Rande auch ihre Kinder. Es sind einzelne Episoden aus verschiedenen Ehe- und Nachehejahrzehnten, auch über lange Zeit hinweg niedergeschrieben vom Autor und gar nicht als ein Ganzes geplant. Kaum Fornikation und doch ein Updike ganz und gar, das zwingt, den Gedanken ein wenig tiefer zu legen. Offenbar ist es gar nicht so sehr die copulatio, die Updike umtreibt, sondern die copula, the couple, Couples heißt einer seiner bekanntesten Romanen. Updikes Romanwerk steht dieser Hinsicht in der Tradition der Ehe- und Ehebruchsromane des neunzehnten Jahrhundert, es wird unverdrossen geheiratet und deutlich vermehrt geschieden. Freilich singt Updike das alte Lied in neuem Ton als Spottlied. In einer der Maples-Erzählungen wird die Theorie entwickelt, jeder habe das Recht auf einen Ehepartner, einen Geliebten und auf einen Red Herring, jemanden, den die Leute für die Geliebte halten, der es aber nicht ist. Die drei Positionen werden ständig neu besetzt, aus sich heraus oder durch Neuzugänge von außen. Man weiß nicht recht, in welcher Tonart man das lesen soll. Commedia dell’Arte, Arlecchino & Colombina, monotoner Lebensvertreib oder Streiche der Spätgeborenen im Puritan Commonwealth - a musical illusion in which we all hear different things. *- Das Ganze also ein mitleidloses Spottlied, in brüderlicher Weise intoniert. Die kurze Erzählung Nakedness ist voller Echohall aus Kunst und Mythologie: Bosch, Masaccio, Adam & Ewa, Noah, Ham, Susanna, Rodin, Renoir, Molly Bloom, masters of shunga, Manet, Goya, Kate Chopin, wieder Rodin, Michelangelo, Munch und Ingres, ein Hall, der in seiner absurden Dichte keinerlei Entgrenzung bringt oder anstrebt, sondern wie Vogelspottruf durch das Geschehen gellt. Was wir bislang von den Maples erfahren hatten - nie überraschen wir sie beim Lesen eines Buches -, läßt bei dem Ehepaar ein Anspielungsreservoir dieser Art in keiner Weise erwarten, ganz allein Updike ist der Mockingbird, die Spottdrossel.

In extremer Raffung und aus einer hohen Vogelperspektive läßt sich sagen, daß das Thema der Ehe mit ihrer ökonomischen Fundierung, ihrer gesellschaftsstrukturellen Bedeutung und der religiösen und romantischen Überhöhung ihres sexuellen Kernbereichs die Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts dominiert hat wie kein anderes, um im zwanzigsten Jahrhundert dann rapide an Bedeutung verliert. Jane Austen kennt praktisch nichts anders, haargenau ist dabei aufgelistet, mit wieviel Pfund jedes Paar im Jahr rechnen kann, die einen hundert, die anderen zehntausend, kein geringer Unterschied, und natürlich fallen die zehntausend Elizabeth Bennet anheim, die an Geld nicht denkt und nur Sinn für die romantische Liebe hat; Tolstoi kniet sich in die Fragen der Ehe mit allem Ernst und unbändigem Erzählvermögen, bei Beckett, Bernhard und Sebald fehlt das Thema dann so gut wie ganz, auch wenn natürlich vereinzelt verheiratetes Personal auftritt.
To the Lighthouse könnte als herrlicher Spagat über den Zeiten gelesen werden, die feinen Bänder zwischen den Eheleuten Leslie & Julia Stephen alias Mr. & Mrs. Ramsay als Aus- und Nachklang eines großen Themas. Das Buch ist so fern von der Idylle wie denkbar und ihr doch so nahe, wie gerechterweise möglich. Mrs. Ramsay ist am Verheiraten junger und auch älterer Leute kaum weniger interessiert als Mrs. Bennet in Pride and Prejudice, alle fragen sich inzwischen aber, wieso denn nur, und die Ehe zwischen Paul und Minta, die, wenn man so will, unter ihren Dach geschmiedet wird, hat dann auch schon fast Updike-Format.

Updike, gestorben erst im einundzwanzigsten Jahrhundert, weigert sich untypisch, das Ringgeviert des Ehethemas zu verlassen, mit nicht nachlassendem und für den entfernten Beobachter nicht immer ganz verständlichen Vergnügen verfolgt er es bis zum Ende der Zeit und auch die Witwen von Eastwick sind naturgemäß ehemalige Ehefrauen. Auch die Maples sind irgendwann geschieden, und sofort neu verheiratet, es herrscht ein horror personae singularis. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Aufgaben der Ehe sind an der US-Ostküste erheblich reduziert, die religiöse Formung nicht mehr spürbar, und die Romantik wurde vielleicht in den USA ohnehin weniger entwickelt, man hatte keine Zeit, im neunzehnten Jahrhundert war der wilde Westen des Landes zu erobern – keim Wunder, daß angesichts der soziologischen Entkleidung des Ehebundes der sexuelle Nerv blank liegt. Updike, und das fällt auf, scheint aber wenig interessiert, ihn losgelöst vom Ehethema zu erforschen. Updike erzählt die Welt, die er im Osten der USA vorfindet, und in der er sich, when all is said and done, wohlgefühlt zu haben scheint. Tatsächlich ist es tief erheiternd, wenn Mrs. Maples sich in der Erzählung und über den Tod hinaus, denn die
Marching through Boston für die Bürgerrechtsbewegung engagiert, Mr. Maples spürbar weniger, froh stimmt die Geschichte vom Kohlkopf in Sublimating, auf besondere Weise ergreifend ist Plumbing, die Geschichte von dem verlassenen Haus. Mancher aber, der sich mit Virginia Woolf auf der Insel Skye oder mit Sebald in Norfolk besonders wohlfühlt hat, wird das alles in allem dann aber doch für die traurigen Tropen von Massachusetts halten, aber nichts spricht dagegen, Bücher über traurige Tropen zu schreiben und zu lesen, zumal wenn sie sich so ungeniert komisch geben wie in der letzten Maples-Erzählung Grandparenting.

Nobody belongs to us, except in memory, so schließt das Buch. Kunst ist immer Erinnerung und ein Bemühen, sich schadlos zu halten für die zugemuteten Unmöglichkeiten des Lebens.

* Hörprobe aus Wüstenhagen: Was die Maples betrifft, so lese ich sie als realistisches Bild der US-Gesellschaft dieser Jahre. Ich verstehe, daß man die "Tonart" nicht immer gleich findet, manchmal widerstrebt es einem, dieses Leben als echt und wirklich anzusehen, aber dann macht Updike eine kurze Beobachtung, ein Stocken in einem Satz, eine Geste, die einen inneren Vorgang verrät - und ich bin jedesmal von der Präzision dieser Schilderungen überwältigt. Selbst wenn die Gesellschaft anders lebt als die Updike-Figuren - die inneren Mechanismen der handelnden Personen stimmen immer. Das gilt m.E. bei Updike in fast gleicher Weise wie bei Proust. Vielleicht sollte man Updike lesen als wäre er Proust.

Freitag, 24. Juli 2009

Kynokyriologie

Wer die Tiere und vielleicht gerade die Hunde mehr liebt als die Literatur, wird Thomas Manns Herr und Hund dem Zauberberg vorziehen, Virginia Woolfs Flush der Mrs. Dalloway. Daran ist nichts Verwerfliches. Das Wunder der Begegnung über die biologische Gattungsgrenze hinweg, die einzige tiefe und unzweifelhafte Symbiose, die wir von Innen her erleben können, ist kein kleineres Wunder als das Wunder der Kunst, und die vergibt sich sicher nichts, wenn sie dem Thema nachgeht.

Wunderliche Seele! So nah befreundet und doch so fremd. They gazed at each other, Flush und Elizabeth Barrett - später dann Elizabeth Browning -, Elizabeth Barrett und Flush. Die Augen sind aufeinander gerichtet, die Stirnen dahinter aber verschlossen. Das ist, wenn wir auf den anderen Menschen schauen nicht anders, die Stirnen sind dicht, die Illusion des Verstehens gleichwohl erheblich stärker, und eine Illusion, an die man glaubt, ist schließlich keine bloße Illusion. Wollen wir uns in die Rolle des Hundes versetzen müssen wir die Augen nach oben richten zu einem Wesen über uns, aber in dieser Richtung hat Blickkontakt sich nie nachweislich herstellen lassen. Vielleicht verlassen wir uns auch zu sehr auf die Augen, to Flush religion itself was smell. In jedem Fall lernen wir in diesem Verhältnis, was es heißt der schwächere Teil zu sein, der die Hauptlast des Verstehens zu tragen und eine Theologie zu entwickeln hat. Fester Bestandteil einer vitaler Theologie sind Regeln, von denen man annimmt, sie seien vom Herrn gewollt oder ihm zumindest gefällig: Ein Gesetz seines Lebens ist, daß er nur rennt, wenn ich mich selbst in Bewegung befinde, sobald ich mich aber niederlasse, ebenfalls Ruhe beobachtet. Das hat keine erkennbare Notwendigkeit; aber Bauschan hält daran fest. Den selbstverordneten Regeln wird eindeutig der Vorzug gegeben gegenüber den von außen kommenden: Zäh in der gläubigen Treue, zeigte sich schon bald, daß er im Gehorsam durchaus nicht besonders stark war – und andererseits sind einige der selbstgesetzten Regeln dem Herrn durchaus nicht gefällig, aber das weiß nur der Herr: Er kommt zu mir, um sich abzuschütteln, so daß ein ganzer Sprühregen von Wasser und Schlamm mich anfliegt, was ihm gesetzmäßig scheint, darin läßt er sich nicht beeinträchtigen. – was sagt die offizielle Theologie zum Problem der von den Gläubigen befolgten, dem Herrn aber nicht gefälligen Gesetze? Wie im richtigen Leben wird die Theologie, oder sagen wir bescheidener, die Kyriologie in Herr und Hund entwickelt vom Geschöpf, als Kynokyriologie dann notgedrungen aber aufgeschrieben und kommentiert vom Herrn. Der Herr aber kann oft nur rätseln, für Blumenberg, der hartnäckig an der auf einen jugendlichen Übersetzungsfehler zurückgehenden Auffassung festgehalten hat, wonach Gott sich fürchtet und Gottes Ratschluß obendrein auch für ihn selbst unergründlich bleibt, hätte auch die Undurchsichtigkeit seiner Geschöpfe für Gott leicht zum Teil seiner Theologie werden können.

Die Darstellung von Landschaften und der sie besiedelnden Flora ist fester Bestandteil der Erzählprosa, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, bei Tolstoi mehr und bei Dostojewski weniger, bei Kafka weniger und bei Sebald mehr. Auch Bernhard ist ohne den Lärchenwald nicht denkbar, eine Prosa ganz ohne jeden Grashalm wäre in der Tat eine Wüstenei. Vögel fliegen durch die Bäume, ihr Gesang erklingt, aber aufs Ganze gesehen bleibt die Fauna wenig berücksichtigt, die Tiere sind, zumal dann, wenn sie die Augen auf uns richten, vielleicht zu sehr Konkurrenz im meistens auf das Menschengeschick konzentrierten Erzählvorgang. Man berichtet von der Jagd, und ist das Wild dann zur Strecke gebracht, tanzt Natascha Rostowa für uns auf unvergeßliche Weise.

Bei Sebald sind die Tiere, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, gegenüber den Menschen deutlich in der Überzahl, die Zahl der mit individualisierten und mit einem Personennamen versehenen Geschöpfe ist aber gering. Wir haben das Hündchen Toby im Roman Austerlitz, das in einer sonnendurchfluteten und meerzugewandten britischen Landschaft lebt, nicht unähnlichen Landschaften bei Virginia Woolf, ein Paradies und Toby ein winziger Teil davon, und wir haben den Dackel Waldmann in den Schwindel.Gefühlen. Aber ist ein Dackel, der Waldmann heißt, überhaupt individualisiert? Es wurde auch die Vermutung geäußert, seine Aufgabe bestehe nicht zuletzt nur darin, den Jäger Gracchus, in der Gestalt des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er angehängt ist, zu entkafkaeszieren mit seinem albernen Namen.

Bei Kafka selbst haben wir, neben einem Affen und verschiedenen Fabeltieren, unter anderem auch ein historisch verbürgtes Tier, Bucephalus, in seinem Äußeren erinnert aber nur noch wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Macedonien war, und außerdem hat er sich bei der Advokatenkammer einschreiben lassen und ist damit in dem Zusammenhang, dem hier nachgegangen wird, nicht mehr verwendbar. Auch Hamsuns Äsop lebt kaum aus eigenem Recht, er ist vom Dichter von vornherein nur als grausam hingemeuchelte Opfergabe geplant. Eine ernstgenommene Romangestalt ist dagegen Fontanes Rollo in der Effi Briest, freilich nur in einer nachgeordnete Nebenrolle, wer wüßte schon den Namen seines Darsteller im Film noch zu nennen.

Der Hund Flush ist im gleichnamigen Buch Virginia Woolfs die Hauptperson, das Buch ist seine Biographie, komplett von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn diese beiden Requisiten nicht tatsächlich in Erscheinung treten. Flush ist eine historische Gestalt, der Hund der Dichterin Elizabeth Barrett. Verschiedentlich wird auf die Ähnlichkeit der beiden, des Hundes und der Dichterin, angespielt, einleuchtend angesichts des auf allen überlieferten Bildnissen immer ein wenig leidend dreinschauenden und eng von Spanielohren durchaus vergleichbaren langen Drehlocken eingerahmten, dabei seltsam schönen Gesichts von Mrs. Barrett. Der Hund wird in dem Roman natürlich auch zu einem optischen Gerät der Richtungsänderung, das eine eigenwillige Beobachtung des Lebens von Elizabeth Garrett und Robert Browning aus der üblicherweise nach dem Frosch benannten Perspektive erlaubt.

Flush wird von der Dichterin Virginia Woolf zu nicht geringem Teil aus Briefen, Tagebucheintragungen und auch Gedichten der Vorläuferin im poetischen Beruf rekonstruiert. Damit liegt der Schleier des neunzehnten Jahrhunderts über der Tierpsychologie, die in einigen Passagen durchaus derjenigen des Katers Murr angenähert ist: When he watched her fingers for ever crossing a white page with a straight stick, he longed for the time, when he too should blacken paper as she did. Immerhin gelingt dieser Schritt Flush, anders als Murr nicht. Viele Passagen sind aber auch näher an der Wahrheit im Leben eines Schoß- und Stubenhundes: To resign, to control, to suppress the most violent instincts of nature – that was the prime lesson of the bedroom school. Dem auf einen gleichmäßigen Lebensverlauf angelegten Hundewesen kommt der Eintritt Robert Brownings in das Leben von Elizabeth Barrett, in dem er bis dahin die prominente Rolle spielte, schwer an. Er wird eingeführt in die schwer erträgliche Ambivalenz der Gefühle, hatred is not hatred, hatred is also love; here Flush shook his ears in an agony of perplexity. Die Flucht der drei nach Italien scheint zunächst kein Gewinn, to Flush all scenery was insipid, when they took him to Vallombrosa all the splendours of ist woods had merely bored him, das auch und nicht zuletzt für Hunde freiere Leben in Tuskien weiß er dann aber bald zu schätzen.

Ein Hundeleben währt noch kürzer als das einer Dichterin der Romantik, die aufgrund ihrer Konstitution und ihrer poetischen Berufung auf eine ausgedehnte Lebensspanne nicht hoffen konnte und sie auch nicht hatte. Mrs Browning went on reading. Then she looked at Flush again. But he did not look at her. He was silent. He had been alive; he was dead now. That was all. So bündig und leise schließt sich das Lebensbuch eines Hundes, daß aus der Stille die Frage nachhallt, wie es bei den Menschen denn anders sein könnte. The own little light might shine, not very brightly, for a year or two, ans would be merged into same bigger light, and that in a bigger still.

Der Hühnerhundbastard Bauschan ist in seinen besten Augenblicken das Inbild exzessiver Lebensfreude und vollkommenen Glücks. Seine Scheinabsicht, mir zwischen die Füße zu stoßen und mich zu Falle zu bringen, hat unfehlbare Täuschungskraft. Im letzen Augenblick aber weiß er zu bremsen und einzuschwenken, und nun beginnt er einen wirren Begrüßungstanz um mich herum zu vollführen, bestehend aus Trampeln, maßlosem Wedeln, das sich nicht auf das hierzu bestimmte Ausdruckswerkzeug des Schwanzes beschränkt, sondern den ganzen Hinterleib bis zu den Rippen in Mitleidenschaft zieht, ferner in einem ringelnden Sichzusammenziehens seines Körpers, sowie schnellenden, schleudernden Luftsprüngen nebst Drehungen um die eigene Achse. In Thomas Manns Erzählung steht niemand und nichts mehr zwischen den beiden einzig nennenswerten handelnden Personen, die auch gleich im Titel genannt sind, Herr (Thomas Mann) und Hund (Bauschan), andere schauen nur knapp hinein in das Geschehen, Familienangehörige, das Gesinde, die Fährleute, der Veterinärprofessor wegen okkulter Blutungen. Bauschan ist nicht irgendein Hund oder der Hund schlechthin, sondern ein Individuum mit allem Drum und Dran, am Ende sind seine Charakterkonturen nicht weniger scharf eingezeichnet als diejenigen Settembrinis oder Hans Castorps. Eine dritte Komponente allerdings, die erst das Ganze herstellt, tritt auffällig hinzu zu den ansonsten weitgehend einsamen beiden Protagonisten, die Landschaft nämlich, vom Dichter das Revier genannt, es handelt sich um einen Abschnitt in den Isarauen. Kann schon die Erzählprosa auf Landschaft und Flora kaum verzichten, Bauschan ist nichts ohne das Revier, das ihn als solches und als feuchter Dreck ebenso wenig interessiert, wie Flush der italienischen Szenerie irgendetwas abgewinnen konnte. Auf den täglichen Spaziergängen durch das Revier aber findet das gemeinsame Leben von Herr und Hund statt, für Bauschan das Leben schlechthin.

Durch das Fenster seines Arbeitszimmers hat der Dichter zuvor Bauschans karge und vergebliche Versuche einsamer Selbstverwirklichung beobachtet, er hebt das Bein und verharrt in dieser Position weit über jede Not und Vernunft hinaus, er dreht sich endlos um sich selbst, als könne die Wahl des Liegeplatzes nicht sorgfältig genug vonstatten gehen, um dann, hat er sich endlich niedergelassen, gleich wieder aufzuspringen, er streckt sich auf das ausführlichste, zunächst die Vorderpartie, dann die hintere, dann wälzt er sich auf dem Rücken und dann steht er regungslos, in starrer Weltverlorenheit auf dem Plan und weiß auch nicht das geringste mehr mit sich anzufangen. Abhelfen kann nur der gemeinsame Spaziergang, der seinerseits kulminiert in der Jagd, die einen Ausübenden, Bauschan naturgemäß, und im Herrn einen beobachtenden Teilnehmer hat. Aber auch für Bauschan hat die Jagd keinerlei Erwerbs- sondern ersichtlich nur Kunstcharakter. Allenfalls eine Maus wird dann und wann beklagenswertes Opfer, als sich einmal ein wilder Hühnervogel dank der besonderen Dummheit dieser Rasse arretieren läßt, bringt das den Hund nur in Verlegenheit. Die Jagd als Kunstausübung, das besagt aber nicht, daß sie nicht mit allem Ernst und aller Leidenschaft betrieben würde. Es ist die Leidenschaft, die gewollte, aufgesuchte und trunken genossene Leidenschaft selbst, die da durch die Landschaft gellt, und jedesmal wieder, wenn ihr wilder Schrei von fern oder nah an mein Ohr dringt, erschrecke ich auf eine heitere Weise, es fährt mir in die Glieder. – Bauschan als Künstler, es ist umsonst, es ist schön, aber vergeblich. Die Geburt der Kunst aus dem Geiste der Jagd? Höhlenmalereien sind so gedeutet worden. Ersichtlich lebt Bauschans Thomas Manns eigenes Kunstideal, ein Spiel, aber mit allem Ernst und aller Leidenschaft, ein Kunstideal, das der Dichter so irritierend mit der nur als aggressiv zu bezeichnenden bürgerlichen Gesetztheit seines Sprachstils kontrastiert.

Gerade in der deutschen Geistestradition fand der einsame und entsprechend eingestellte Wanderer gern zum Erlebnis der Einheit von Ich, Welt und Gott. Dieses hochfliegende Erlebnis läßt sich, sofern es sich überhaupt einstellt, nicht auf Abruf wiederholen. Anders der Gang mit dem Hund mit der gleichen Dreiklangstruktur, so lernen wir von Thomas Mann, wußten es aber auch bereits schon: Ich, Welt und das begleitende rätselhafte Wesen, der vertraute und doch wesensfremde Therapeut, zwei voneinander weit entfernte Wesen in der Welt, auf eine geheimnisvolle, ihnen keineswegs durchsichtige Art koordiniert. Als Bauschan zur Beobachtung okkulter Blutungen ins Spital verlegt wird, stellen sich beim Dichter sofort metaphysische Mangelerscheinungen ein: Meine Spaziergänge waren fortan, was ungesalzene Speisen dem Gaumen sind. Der Park schien mir öde, ich langweilte mich. Der Blick auf die Tiere als unsere kleineren Brüder ist der begrüßenswerte christlich domestizierte Blick. Kein Tier ist so weitgehend domestiziert, bei weiter bestehender Fremdheit, wie der Hund. Aufs ganze gesehen haben sich die Abrahamsreligionen aber nur wenig verdient gemacht um die Tierwelt, in den ursprünglicheren Religionen hatten die Tiere als Totem, heiliger Affe oder Kuh eine andere Stellung und haben sie an vielen Orten noch immer, unmittelbare und nicht selten bedrohliche Repräsentanten des Fremden und zugleich Gefährten bei seiner Bannung und Abwehr, Gefährten innerweltlicher Transzendenz.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Weiter, ihr Wellen, ihr wellen

Und eine solche Person getraut sich ohne weiteres zu sagen, daß sie noch besser schreibe als Virginia Woolf, daß sie in ihren Romanen weiter sei als die Wellen

In der Erzählliteratur hat England schon im neunzehnten Jahrhundert die Frauenquote ganz ohne staatlichen Zwang erfüllt, die Brontëschwestern, Jane Austen, Elizabeth Cleghorn Gaskell, George Elliot. Die aufblühende Kriminalliteratur haben die Damen praktisch allein in die Hand genommen, im zwanzigsten Jahrhundert dann Virginia Woolf.

Naturgemäß verhöhnt Thomas Bernhard seine Romangestalt mit realem Hintergrund (in der für ihn handelsüblichen zügellosen Weise: Nun saß ich der Wiener Virginia Woolf gegenüber, dieser abgeschmackten Gedichte- und Prosaschöpferin, die, das war jetzt auf einmal klar, zeitlebens nur in ihrem kleinbürgerlichen Kitsch gebadet hat), wenn er sie sagen läßt, sie sei weiter als Virginia Woolf, eine alte Frage aber ist und bleibt, gibt es dieses weiter überhaupt in der Kunst, in der Literatur? Nimmt man die herzerfrischenden Eheanbahnungsgeschichten der Jane Austen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert und hält die Wellen dagegen, so scheint die Rede von einem weiter nicht leicht von der Hand zu weisen, das Arsenal der künstlerischen Möglichkeiten ist ungleich reicher, der Blick geht ungleich tiefer. Verläßt man das Babje Zarstwo, das reine Frauenreich auf der Insel, und schaut etwa auf Tolstoi, jünger als Austen, älter als Woolf, wird man schon unsicher. Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert jedenfalls ist ein weiter in der Prosa nicht mehr festzustellen. Die Großen sind da, Proust, Joyce, Kafka, Woolf, es sind sicher mehr, aber diese zählen zum unumstrittenen Kern, neue kommen hinzu, wenige allerdings nur und jedenfalls nicht die Fünfhundert pro Jahr, die von den Verlagsanzeigen reklamiert werden. Jeder von ihnen ist neu und auch alt, denn ohne die Alten wären sie nicht. Jeder Künstler läßt uns die Welt neu sehen, aber es ist immer die alte Welt, die er uns neu sehen läßt. Ein weiter gibt es nur sehr bedingt im Bezirk der Kunst, den man sich andererseits auf keinen Fall vorstellen darf als eine Fläche mit leeren Flecken, die nach und nach auszufüllen wären. Jeder ausgefüllte Fleck, jede ergriffene Möglichkeit zieht zahllose weitere Möglichkeiten, bis dahin gar nicht einmal erahnbare, hinter dem Horizont hervor. Kunst entsteht dann, wenn eine solche Möglichkeit aus einer Notwendigkeit her ergriffen wird.

Bernhard ergießt seinen Hohn denn auch weniger über die ihm wehrlos ausgelieferte Wiener Virginia Woolf als über die Vorstellung des weiter. Er selbst hat die deutsche Sprache und ihre Syntax unter Hochtemperatur gezerrt, verdreht, verwunden und neu geformt, gleichzeitig ist sein Werk voll von den alten Meistern, Pascal, Novalis, Mendelssohn, Tintoretto. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, er sei in Amras weiter gegangen als Novalis. Jeder große Künstler besetzt ein neues Terrain, es muß aber nicht weiter draußen liegen, bei Sebald - den wir nie aus den Augen verlieren - vermuten nicht wenige, sein Terrain sei kein bißchen neu und er selbst ein durchaus nur retardierter Stifterepigone. Neu heißt nicht weiter, und weiter ist oft nicht neu. In den Waves, heißt es, sei Virginia Woolf besonders weit gegangen, habe sich sozusagen selbst übertrumpft. Wie muß man sich das vorstellen? Ist sie dabei über sich selbst erschrocken und hat in den Jahren und Zwischen den Akten den Rückzug angetreten, nicht zu reden von Flush? Vielleicht sogar. Bezüglich Joyce besteht stillschweigend Übereinkunft, daß er mit Finnegane's Wake vielleicht doch zu weit gegangen ist. William Gaddis’ Romane sind als Stimmenromane sicher radikaler noch und insoweit weiter als die Wellen, so schön und gelungen wie sie sind, möchte man aber doch nicht sagen, sie seien schöner oder gelungener als die Bücher der Virginia Woolf. Zugleich wird nicht jeder die Wellen als Virginia Woolfs gelungenstes und schönstes Buch ansehen – Schönheit dabei dreist und undefiniert als Quintessenz der Kunst verstanden.

Wenn es gesellschaftliche Aufgaben der Kunst gibt, dann vor allem die, sich dem harten und nahezu allumfassenden Diktat des Immerweiter, Immermehr nicht zu unterwerfen, immer mehr Freiheit, angeblich und was immer man jenseits eines unbestimmten Punktes darunter versteht, rastlose Weiterentwicklung der Technik, auch wenn sie uns dadurch insgesamt nicht fügsamer wird, immer mehr Güter, auch wenn die selbstzerstörenden Züge ihrer Produktion ständig deutlicher werden, immer mehr körperliche Höchstleistungen, auch wenn sie nur noch pharmazeutisch zu erzeugen sind. Auf der anderen Seite die Kunst, statisch, wie eine bedeutende Autorität schon vor einiger Zeit verordnet hat, auch wenn andere dem Ärgernis in ihren Augen abhelfen und sie, die Kunst, zum Gleichschritt immer nach vornhinaus bewegen wollen.

Der Roman Die Wellen besteht aus zwei separaten Erzählsträngen, alternierend vorgebracht in jeweils neun Kapiteln. Zum einen wird ein Sonnentag geschildert, die Bewegung der Sonne am Himmel und das Wellenspiel im wechselnden Licht. Die Sonne als Faktum und Symbol der unnachgiebig voranschreitenden Zeit und die Wellen als Faktum und Symbol der unablässigen Veränderung im ewig Gleichen. Vögel (the birds sang in the hot sunshine, each alone, each sang stridently, with passion, with vehemence) und Pflanzen (the topmost leaves of the tree were crisped in the sun, they rustled stiffly in the random breeze) kommen hinzu, auch Behausungen (the windows showed erratically spots of burning fire) aber geisterhaft, ohne ihre Bewohner. Der eine vergehende Tag, oft das Kleid einer von Virginia Woolf erzählten Menschengeschichte, hier menschenleer als er selbst geschildert, ein Weiter oder Mehr gibt es nicht. Und zum anderen das Leben von sechs Personen, drei Männern und drei Frauen: Bernard, Neville, Louis, Susan, Jinny und Rhoda, ihr Leben von der Kindheit bis zur Mitte des Lebens zu entnehmen allein ihren Stimmen und Worten. Hinzu kommt dann noch Percival who rode and fell in India und der seine Stimme nicht erhebt. Stimmen, aber keine Gespräche, Meinungsaustausch findet nicht statt, die sechs Protagonisten des Romans treten abwechselnd an die Rampe und tragen auf artifizielle Weise vor, der Einsatz jeweils in einem recht hohen Ton, entgegen der Unterweisung auf dem Einbanddeckel ganz und gar kein pure stream-of-consciousness style, nicht auszudenken, wenn unsere unbeaufsichtigten Bewußtseinsverläufe sich wohl bemessen in derart bedeutenden Bahnen bewegten. Im letzten Kapitel spricht dann nur noch Bernard, sein bisher gelebtes Leben und das der anderen spiegelt sich in seinen Wahrnehmungen und Erwägungen, diese nun in der Tat übergehend auch in ungeordnetere Bewußseinsbahnen.

The sun had not yet risen. The sea was indistinguishlable from the sky. The sun rose higher. Blue waves, green waves swept a quick fan over the beach. The sun rose. Light almost pierced the thin swift waves as they raced fan-shaped over the beach. The sun, risen, no longer couches on a green mattress darting a fitful glance through watery jewels, bared its face and looked straight over the waves. The sun had risen to its full hight. The waves broke and spread their waters swiftly over the shore. The sun no longer stood in the middle of the sky. The waves beneath were arow-struck with fiery feathered darts. The sun had now sunk lower in the sky. The waves no longer visited the farther pools. The sun was sinking. The waves, as they neared the shore, were robbed of light. Now the sun had sunk. Sky and sea were indistinguishlable.

Zwei Erzählstränge, wie gesagt, eins zu zehn das Umfangsverhältnis, welches ist der Hauptstrang? Natürlich der lange, wo es um die Menschen geht, wird man rufen, aber das muß nicht so sein. Philip Hoare hat unlängst ein Buch vorgelegt, in dem die Wale, Pottwale vor allem, im Vordergrund schwimmen, während die Menschen im Hintergrund stehen, wenn auch voller Mordlust. Wenn man die Waves öfters liest, kann man sie ruhig auch einmal von der Seite der Sonne und den Wellen her lesen, immerhin sind die für den Titel verantwortlich. Die Menschenstimmen sind dann kaum noch zu hören über den leise brechenden Wellen, the concussions of the waves breaking with muffled thuds, like logs falling, on the shore. Nur wir überhaupt hören den Stimmen zu, weil wir Menschen sind, niemand sonst, und auch wir hören die Stimmen der Menschen, als seien es Meereswellen, denen zuzuhören niemand je müde wird, weiter ihr Wellen. Time is issued in long white ribbons. Time seems endless, ambition vain. The waves broke on the shore.

Mittwoch, 22. Juli 2009

Stör auf die Welt in ihrem Dunkel

Virginia Woolf, die von mir, seit ich in schriftstellerischem Denken geschult bin, immer als die erste aller Dichterinnen bewundert gewesen ist

Draw a distinction. - mit diesem Satz beginnt das Formenkalkül des englischen Logikers und Mathematikers George Spencer Brown, ein Fanfarenstoß zur Attacke auf eine schlummernde amorphe Welt, der Niklas Luhmann so begeistert hat, daß er ihn in seinem Spätwerk kaum weniger als fünfhundertmal zitiert. Call me Ishmael. - die gleiche Kadenz, der gleiche Aufforderungsmodus, der bekanntlich von allen öden Aussage- und Beschreibungspflichten befreit – ein Augenblick absoluter Freiheit, der dann gleich vorüber und ständig zurückzuerobern ist - und zugleich der Satz, der unzählige Leser begeistert und mit den äußersten Erwartungen versehen hat, die von Melville dann samt und sonders erfüllt wurden.

Auf den Spuren von Paveses Festlegung, wonach ein Buch immer nur aus zwei Teilen besteht, dem ersten Satz und dann, als zweitem Teil, den Konsequenzen, die sich aus diesem ersten Satz ergeben, hatten wir den Eingangsatz von Thomas Bernhards Beton betrachtet, ein Satz so verschlungen in sich, als sollten alle Konsequenzen und Anforderungen aus diesem ersten Satz gleich schon im ersten Satz erledigt und zufriedengestellt werden, und nur weil das nicht möglich ist, dreht sich das Buch fort als kreisende Spirale um seinen Ausgangspunkt. Die aufgestörte Welt muß sich beruhigen und wird dabei sichtbar.

Mrs. Dalloway said she would buy the flowers herself. – im Duktus deutlich näher bei Melville als bei Bernhard. Ein Name, eine Person, Dalloway wie Ishmael, abgegrenzt von allen anderen Namen und Personen. Der Aufforderungsmodus fehlt, aber der schöne Glanz einer offensichtlichen Willkürentscheidung - hin zum vermeintlich Hellen, zu den Blumen, die Erzählung will sich ganz als Blumenmeer - versetzt in einen ähnlichen initialen Freiheitsrausch, the morning of narrative – fresh as if issued to children on a beach. Einiges wird ins Licht gehoben, damit mehr ins Dunkel abtauchen kann, Peter furious, Hugh not, some things were very beautiful, others sheer nonsense, die Blumen, die das Buch durch und durch schmücken, any number of flowers, roses, orchids, to celebrate, ladies with bright flowers on them, bought cheap flowers, half a dozen, die Blumen nicht nur hell auch dunkel: buds on the tree of life, flowers of darkness they are, she could feel nothing for the Armenians but she loved the roses, didn't that help the Armenians?

Mrs. Dalloways Gang durch London zum Blumenladen unterscheidet sich nicht in allem von Leopold Blooms Gang durch Dublin. Wahllose Eindrücke, die königliche Limousine, das Wolkenflugzeug, unbekannte Menschen, the difference between one man and another does not account to much, die gerade gewonnene Form will sich wieder im Chaos verlieren, losing discrimination, visions which ceaselessly float up, pace beside. But he would not go mad. He would shut his eyes. Im Chaos bilden sich neue Konturen, insbesondere die des kriegstraumatisierten Septimus - red flowers grew through his flesh; their stiff leaves rustle in his head – und seiner italienischen Frau Rezia, Hutmacherin. Das ganze Buch eine perfekte Balance aus Freiheit, Form und Chaos und Tod. Mit der bekannten Regelmäßigkeit aller Uhren schlägt die Glocke des Big Ben. Big Ben was beginning to strike, first the warning, musical; then the hour, irrevocable.

Für diejenigen, die die Intrige des Buches nicht kennen, ist sie schnell erzählt: Ähnlich wie das Ehepaar Auersberger in Wien in Thomas Bernhards Holzfällen einen Abendempfang veranstaltet (von jenem Ohrensessel aus), in dessen Verlauf die Rede unter anderem auch auf Virginia Woolf kommt, hatten die Eheleute Dalloway in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway gut fünfzig Jahre zuvor einen Abendempfang in London veranstaltet (he was sitting on the sofa). What's the sense of your parties? They are an offering. Keine geringe Sache also, wie die Blumen eine schöne Opfergabe an die Götter, die wir selbst sind.

Bevor das Fest beginnt, am Abend des Dallowayday, am Ende des Buches, ist Septimus Warren Smith mit tödlichem Erfolg bereits aus dem Fenster gesprungen, like flying flowers over some tomb, kein Bekannter, so daß Mrs. Dalloway, wie es scheint, nicht in die Verlegenheit der Mme. Guermantes gerät, placée pour la première fois de sa vie entre deux devoirs aussi différents que monter dans sa voiture pour aller diner en ville, et témoigner de la pitié à un homme qui va mourir. Und weiter bei Proust: Vous avez gardé vos souliers noirs! Remontez vite mettre vos souliers rouges. Die Feste ähneln sich über die Landesgrenzen und Ozeane hinweg: He wore red socks, his black being in the laundry. Und dann holt der Tod Mrs. Dalloways Fest doch noch ein: The young man has thrown himself from a window. There he lay with a thud, thud, thud in the brain, and then a suffocation of blackness. So she saw it. And the Bradshaws talked of it at her party! She felt somehow very like the young man who had killed himself. She felt glad that he had done it, thrown it away, while they went on living. The clock was striking.

To whom the Big or small Ben tolls, sie, die Glocke, schlägt fortwährend unaufhaltsam für alle. How unbelievable death was! - that it must end. A point sometimes bothered her if she woke early in the morning and did not like to call her maid for a cup of tea: how it is certain we must die. - The other clock which always struck two minutes after Big Ben, volubly, troublously, the late clock sounded, coming in on the wake of Big Ben, with its lap full of trifles. Das gemeine Leben, Geschenk und Fluch einer nachhinkenden Uhr?

Adeline Virginia Stephen Woolf, so unglaublich schön und so herrlich mit den Worten im Morgenlicht und so todtraurig, als die Dunkelheit kam. I feel certain that I am going mad again. I can't fight any longer. I don't think two people could have been happier than we have been. V.

Thomas, W.G. (in Norfolk a soft wind blew back the petals, confused the water, ruffled the flowering grasses) & V. – das gleiche Alter, knapp unter sechzig, im Tod, Marcel noch deutlich jünger, nur knapp über fünfzig.

Dienstag, 21. Juli 2009

Damals

Lesend: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Es muß gegen die Mitte meiner Schullaufbahn gewesen sein, als ein Radiomann, während er die neuesten Schlager vorstellte, einfließen ließ, die Menschheitsgeschichte sei doch wohl nichts anderes als ein sinnloses Gezerre und Gestürm – eine mir hochwillkommene Einschätzung, legitimierte sie doch den Unwillen und das Unvermögen, neben den lateinischen, englischen und französischen Vokabeln auch noch die diversen Friedriche, Wilhelme und Friedrich Wilhelme zu erlernen. Die Beschwichtigung durch den Radiomann hielt im wesentlichen vor, bis Niklas Luhmann ihn um einiges anspruchsvoller ablöste. Primär segmentäre, primär hierarchische, primär funktionale Gesellschaftsdifferenzierung und zusätzlich Semantik, die die Gesellschaftsstruktur umspielt, was braucht es mehr zum Verständnis des Geschehens? Was vielleicht noch fehlte, konnte den großen Romanen entnommen werden, die zu lesen so angenehm ist.

Wo im übrigen war Geschichte zu finden? Natürlich gab es im Altertum, im Mittelalter, in der frühen Neuzeit immer wieder den einen oder anderen Punkt, der zu vertiefen war. Die Idee andererseits, die von mir selbst gelebte Zeit sei, aus einem anderen Blickwinkel, auch bereits Geschichte, blieb und bleibt fremd. Unmittelbar im Rücken das große schwarze deutsche Loch, bei dem der Sinn, das Entsetzen ständig mit neuen Details zu irritieren, nicht ganz klar ist. Und das neunzehnte Jahrhundert? Waren das nicht einfach die Lebensumstände der Menschen, die ich vielleicht besser kannte als vielleicht alle anderen, mich selbst nicht ausgenommen, Natascha Rostowa, Aljoscha, Dimitri und Iwan Karamazow, Anna Karenina, der kleine Marcel in Combray samt seinen Eltern und Großeltern, Leutnant Glahn. Hamsun kam tief aus dem neunzehnten Jahrhundert und lebte noch, wo war da Geschichte. Freilich, wenn es wie in Krieg und Frieden oder Vor dem Sturm zurückging bis zu Napoleon und einige, wie der alte Knäs Bolkonski wohl noch Perücke trugen – aber auch diese Zeit wurde von Tolstoi und Fontane so nahe gebracht, als sei es die unsere.

Jetzt freilich schaut man sich um und muß ernstlich fragen, ob unsere Zeit noch die unsere ist. Darauf antwortet Ostermann mit einem wahrhaft bestechenden Ja und Nein, das sich über weit mehr als tausend Seiten erstreckt.

Von der Reihe der Herrschernamen, der bloßen Ereignisgeschichte ist das natürlich so weit entfernt wie die geballte Geographie von der schlichten Topographie, auch wenn auf die nicht ganz verzichtet werden kann. Der Untertitel Die Verwandlung der Welt ist ernstzunehmen, einerseits war das neunzehnte Jahrhundert wie kein anderes das Jahrhundert Europas, zugleich aber das erste Jahrhundert, das Anlaß gibt, die Welt als ganzes in den Blick zu nehmen. Im neunzehnten Jahrhundert haben die Vorgänge begonnen, die wir Globalisierung nennen, seitdem wir nicht mehr glauben können, ihrer noch Herr zu sein. Nordamerika und Australien werden in eins mit Europa behandelt, Osterhammel hat ein hervorragendes zweites Kenntnisstandbein in Ostasien, China zumal, und zieht auch Quellen zu Afrika, Südamerika und den restlichen Landstrichen heran. Achtzehn ausführliche Themenblicke wirft Osterhammel auf unsere Welt: Gedächtnis und Selbstbeobachtung; Zeit; Raum; Seßhafte und Mobile; Lebensstandards; Städte; Frontiers; Imperien und Nationalstaaten; Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen; Revolutionen; Staat; Energie und Industrie; Arbeit; Netze; Hierarchien; Wissen; „Zivilisierung“ und Ausgrenzung; Religion – und dann sind tausenddreihundert Seiten auf das erhellendste in einer federleichten, aufwandlos prägnanten und kräftigen Prosa* gefüllt, zweihundertundfünfzig Seiten Anhang schließen sich an. Osterhammel untersagt sich jede Kritik an den historischen Vorgängen, lakonische Maßnahmen wie die, Vokabeln in der Art von "zivilisiert" und "unzivilisiert" grundsätzlich nur in Anführungszeichen auftreten zu lassen, machen aber deutlich, daß aus anderer Warte praktisch alles massiv kritisierbar wäre

Der Radiomann hat ausgedient. Andere, die ihm vielleicht auch zu sehr vertraut haben, sollten die Gelegenheit ergreifen und Abschied nehmen von ihm. Das neunzehnte Jahrhundert von Natascha Rostowa und dem kleinen Marcel in Combray wird uns nicht genommen, wir haben gelernt, zwischen dem Knochengerüst der Theorie und der Epidermis der Erzählprosa ist reichlich Platz.

*Beispiel: Seitdem entwickelten sich Fish & Chips zur identitätsstiftenden Lieblingsmahlzeit der britischen Arbeiterklasse und zum Emblem nationaler Deftigkeit auf dem Teller (Lebensstandards/Globalisierter Konsum/Warenhaus und Restaurant S.343).

Montag, 20. Juli 2009

Grand Prix

Für einen treuen Leser ist ein Schriftsteller eigentlich erst dann tot, wenn das endgültig letzte von ihm erschienene Buch zu Ende gelesen ist – nur gut, daß wir nicht wissen können, wann das sein wird. Von Thomas Bernhard ist jetzt im zwanzigsten Jahr seines Todes ein originales, wenn auch, zumindest in Teilen, dem Publikum bereits vor der Veröffentlichung nicht gänzlich unbekanntes autobiographisches Prosawerk erschienen: Meine Preise. Es handelt sich bei den Preisen im einzelnen um den Grillparzerpreis, die Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, den Literaturpreis der Freien und Hansestadt Bremen, den Julius-Campe-Preis, den Österreichischen Staatspreis für Literatur, sicher der Höhepunkt und daher auch zentral plaziert im Buch, den Anton Wildgans-Preis, den Franz-Theodor-Csokor-Preis, den Literaturpreis der Bundeswirtschaftkammer und schließlich den Büchnerpreis, Deutschlands Bester. Die Tante, Hedwig Stavianicek, der vor allem es gilt eine Freude zu machen, ist so gut wie immer dabei bei den Festlichkeiten. Man kann sagen, es ist das bestaufgelegte Buch Bernhards bislang, bedauerlich nur in jeder Beziehung, daß der Nobelpreis in der Auflistung fehlt.

Die Verleihungsprozeduren gehen fast durchweg skurril bis grotesk vonstatten, auf Seiten des Dichters wird als Grund für die Preisannahme ausschließlich Geldgier genannt, der Grillparzerpreis war insofern eine besondere Enttäuschung als er, wie sich herausstellt, ohne Preissumme vergeben wird. Ansonsten sind die Preissummen immer zu klein und bringen auch nicht immer das reine Glück. Die fünftausend Mark des Julius-Campe-Preises werden umstandslos und vollständig in einen Triumph Herald umgesetzt, mit dem der Dichter nur wenig später in Jugoslawien einen Totalschaden erleidet, ein motorisiertes Wiederaufleben der unvergeßlichen Fahrradhavarie aus Ein Kind. Die Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie darf er mit der Dichterin Elisabeth Borchers teilen und das Pärchen sieht sich auf dem Podium dann mit Frau Bernhard und Herr Borchers angeredet, ein Beleg für Benns Grundeinssicht, daß sich keine zwei Bereiche auf der Welt unversöhnlicher gegenüberstehen als Kunst und Kultur als Kulturbetrieb. Damit ist auch schon die Grundlage für den Österreichischen Staatspreis gelegt, bei dem es Bernhard gelingt, den Minister Piffl-Percevic, der direkt aus einer Stellung bei der steiermärkischen Landwirtschaftskammer ins Kulturressort berufen worden war, mit einer insgesamt vielleicht auf ca. vier Minuten bemessenen Ansprache bereits nach zwei Minuten als Wutschnaubenden aus dem Saal zu vertreiben. Die Ansprache ist metaphysisch-wild, weit mehr Rhythmus als Verstehbares: Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Man geht durch das Leben, beeindruckt, unbeeindruckt, durch die Szenen, alles ist austauschbar, im Requisitenstaat ... da war der Minister wohl schon entsprungen, man weiß nicht wieso und wohin. Die nur vierzehn Tage später angesetzte Verleihung des Anton Wildgans-Preises entfällt daraufhin, der Dichter erhält den Preisscheck wortlos per Post, aus seiner Sicht die optimale Vergabepraxis. Versöhnlich auch die Verleihung des Literaturpreises der Bundeswirtschaftskammer, denn hier versteht sich der Dichter nicht als Literat, sondern als vorbildlicher ehemaliger Kaufmannslehrling geehrt.

Für den Herbst 2009 ist eine weitere Bernhardpublikation Städtebeschimpfungen angekündigt, eine Blütenlese, nichts Originales. Ausgenommen von der Verdammung der Städte und gerettet sind jetzt schon Hamburg, wo die Alster entspringt und wo der Dichter als Stadt genau das gefunden hat, was der Volksmund die Liebe auf den ersten Blick nennt, sowie auch Warschau, die schöne und aufregende und unheimliche Stadt. Was Warschau anbelangt, so freut uns die unergründliche Gnadenwillkür des Dichters ganz besonders.

Sonntag, 19. Juli 2009

Gießtechniken

Wieder und wieder gelesen: Thomas Bernhard, Beton

If I can read this strange guy's mind aright

Wie sich entscheiden, wenn man sich nach längerer Abstinenz Thomas Bernhard erneut zuwendet? Das Theater beachten wir weiter nicht. Vielleicht nicht gerade den ersten Roman, Frost allein würde seinem Autor zweifelsohne einen bleibenden Platz sichern, es ist aber doch eine Art Protobernhard. Vielleicht auch nicht die späten und eleganten Alten Meister, vielleicht überhaupt eher eines der schmaleren Bücher. Die Verstörung? Gäbe man nach und würde den ersten Satz lesen, wäre sicher kein Aufhören vor dem letzten, Handke, eine seiner besten Taten, hatte das schon sofort erkannt. Das Kalkwerk mit dem Foltergefängnis der Hörstudie garniert mit Novalis und Kropotkin? Schwer zu widerstehen. Ja? Ja, wer könnte die Perserin vergessen und möchte sie nicht immer wieder treffen, nur solange wir von ihr lesen, kann der Selbstmord verhindert werden. Watten, Gehen, Billigesser, Untergeher, Korrektur? Eins der autobiographischen Bändchen? Das einzig Gerechte und Vernünftige und zu gleich das Vergnüglichste wäre naturgemäß, den ganzen Bernhard noch einmal von vorn bis hinten zu lesen.

Beton verspricht den besonderen Nervenkitzel extremer Konzentration, die notwendig ist, um nach achtzig Seiten über das Keimen der Reiseidee und weiteren neunzig Seiten über allem Anschein nach aussichtslose Reisevorbereitungen auf Seite hundertundsiebzig nicht wieder die komplette, in einen Satz gefaßte Reiseschilderung zu überlesen, um sich dann die restlichen vierzig Seiten zu wundern, wie und wann man aus Österreich auf die Baleareninsel gelangt ist: Hatte es in Peiskam, wo ich um zwei Uhr Mittag abgeholt worden bin, noch elf Grad minus gehabt, so zeigte bei meiner Ankunft in Palma, wo ich diese Notizen aufschreibe, das Thermometer schon achtzehn Grad plus. Eine Seite später erhält die Reisebeschreibung dann noch den naturgemäßen bernhardschen Feinschliff: Der Flug war, wie alle schon vorher überstandenen, auch wieder der fürchterlichste aller fürchterlichen gewesen. Staunend betrachtet man die verwegenen Proportionen des Buches: extrem ausgedehntes Vorspiel mit dem Entschluß zur Reise und den Reisevorbereitungen, die Reiseschilderung in ihrer Kürze noch weitaus extremer als das Vorspiel in seiner Länge und schließlich der nur kurze und, wenn man so will, dem Beton gewidmete Hauptteil.

Martin Mosebach läßt eine seiner Figuren beiläufig äußern, die Machtergreifung des Häßlichen habe begonnen mit der Technik des Gießens, alles Gegossene sei häßlich. Das ist sicher keine uneingeschränkt belastbare Aussage, das Fertigungsverfahren Gießen ist das vermutlich älteste Formgebungsverfahren überhaupt, älter als die Häßlichkeit, aber das bloße Wort Beton belegt, es ist etwas dran an dieser Überlegung. Vielfach entfacht Bernhard Haß und Empörung aus stilistischen Gründen für seine spezielle Darstellung von Liebe und Freude, bei der Architektur meint er es schlicht ernst. Aufkauf und Wiederherrichtung humaner Behausungen war sein zweites geistiges Standbein, den zeitgenössischen Siedlungsbau führt er auf eine insgesamt durchaus verbreitete, in diesem Zusammenhang aber doch spezielle Gießtechnik zurück: wie hingeschissen. So gesehen ist es kein Wunder, wenn Bernhard den Beton in einem eigenen Buch gefeiert hat.

Und andererseits, läßt sich Bernhards Prosa selbst nicht vorzüglich als eine besondere Technik des Gießens verstehen? Beton ließe sich einigermaßen akkurat als die Schilderung vom Packen (in Peiskam) und Auspacken (in Palma) zweier großer Reisekoffer in Form eines heftigen Sprachausgusses beschreiben. Die Gießtechnik ist freilich inversiv, es entsteht kein Gußstück durch Gießen einer Gußmasse in eine Form, vielmehr wird die Gußform selbst durch das Gießen erzeugt und sie, die Hohlform, ergibt die eigentliche Gestalt des Buches. Das Buch Beton entsteht aus der Schilderung der vergeblichen Bemühungen des Protagonisten, ein Buch über Mendelssohn zu schreiben, der Roman ist also die Hohlform eines anderen Buches, das nicht zustande kommt. Aus den fortwährenden wüsten Beschimpfungen der Schwester des Icherzählers entsteht als Hohlform die Gestalt einer lebenstüchtigen, kultivierten und warmherzigen Frau, die sich um das Wohl ihres Bruders sorgt &c.

Niemand als Bernhard ist vollständiger überzeugt worden von Paveses Mitteilung, ein Buch zu schreiben sei, wenn man so wolle, einfach und bestehe lediglich darin, den ersten Satz zu Papier zu bringen. Man müsse, so Pavese, anschließend dann aus diesem Satz nur noch die fälligen Konsequenzen ziehen. Es gibt schlagende Belege für diese These: Call me Ishmael. Punkt, kein Ausrufungszeichen, niemand zweifelt, daß es der genauen sechshundert Seiten des Moby Dick bedarf, um die unendlichen Verheißungen dieser drei Worte einzulösen. Auch der Protagonist des Betonbuches ist überzeugt, er müsse nur den ersten niederschreiben, und die Sätze seines Mendelssohnbuches würden sich zwangsläufig über Höhen und Täler ergießen.

Der Eingangsatz vom Beton unterscheidet sich kraß von dem des Moby Dick: Von März bis Dezember, schreibt Rudolf, während ich, was in diesem Zusammenhang gesagt sein muß, große Mengen Prednisolon einzunehmen hatte, um meinem zum dritten Mal akut gewordenen morbus boeck entgegenzuwirken, trug ich alle nur möglichen Bücher und Schriften über Mendelssohn Bartholdy zusammen, suchte alle möglichen und unmöglichen Bibliotheken auf, um meinen Lieblingskomponisten und sein Werk von Grund auf kennenzulernen und, so mein Anspruch, mit dem leidenschaftlichen Ernst für ein solches Unternehmen wie das Niederschreiben einer größeren wissenschaftlichen einwandfreien Arbeit, vor welcher ich tatsächlich schon den ganzen vorausgegangenen Winter die größte Angst gehabt habe, alle diese Bücher und Schriften auf das sorgfältigste zu studieren, war mein Vorsatz gewesen und erst darauf, endlich, nach diesem gründlichen, dem Gegenstand angemessenen Studium, genau am siebenundzwanzigsten Jänner um vier Uhr früh diese meine, wie ich glaubte, alles bisher von mir die Musikwissenschaft betreffende von mir aufgeschriebene Veröffentlichte sowie Nichtveröffentlichte weit zurück- und unter sich lassende, schon seit zehn Jahren geplante, aber immer wieder nicht zustande gekommene Arbeit angehen zu können nach der für den Sechsundzwanzigsten bestimmten Abreise meiner Schwester, deren wochenlange Anwesenheit in Peiskam selbst den geringsten Gedanken an eine Inangriffnahme meiner Arbeit über Mendelssohn Bartholdy in seinen Ansätzen zunichte gemacht hatte. - Es wird Zeit und Raum brauchen, bis alle in diesem erstaunlichen Eingangssatz angeschlagenen Rhythmen und Wellen sich ausgelaufen haben.

Die Durcharbeitung vollzieht sich im Rahmen einer typischen bernhardschen Erregung, die Peiskam ganz beherrscht und auch in Palma nicht eigentlich nachläßt. Und doch ist das alles in gewisser Weise nur die Hintergrundmusik zu der in der Art einer schlichten Volksweise vorgetragenen Geschichte der Anna Härdtl, die Geschichte von ihrem traurigen Scheitern am und auf dem Beton und ihr schließliches Verbleiben im Mallorquiner Friedhofsbeton. Wir verlassen für diese Geschichte nicht das Bewußtsein des Erzählers, der sie aus seiner Erinnerung schöpft, und doch wird der Wechsel in Thema, Melodie und Tonart ebenso abrupt verfügt, wie Seiten zuvor der Ortswechsel: Plötzlich hörten wir von der Anna Härdtl folgendes: Ende August sei sie mit ihrem Mann und einem dreijährigen Sohn .... In der gegenwärtigen Erzählzeit erfährt Rudolf dann von ihrem zwischenzeitigen Tod: Nachdem ich diese meine Frage ganz deutlich und wie ich sehen konnte, selbst auf spanisch sehr gut verständlich machen hatte können, sagte der Portier nur mehrere Male das Wort suicidio.

Die Geschichte der Anna Härdtl befreit den Erzähler für den Augenblick aus der Gefangenschaft seines Ichs, ihr Tod ist aber auch der eigene, dem der Kranke das Buch hindurch entgegenblickt und in seinen Tiraden und Wortergüssen zu versenken sucht. Nun steht der Tod kalt und häßlich wie erstarrter Beton vor ihm. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, hatte Thomas Bernhard schon im Jahre Neunzehnhundertundsiebenundsechzig eine ihm zu Ehren versammelte gläubige Festgemeinde, Minister und andere, unterrichtet, der Minister der Kultur hatte die Wahrheit nicht ertragen können und war aus dem Festsaal entlaufen.

Der letzte Satz: Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, schreibt Rudolf, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst. - Ein Buch voller Gelächter, Schrecken und Angst, ein Buch von betörender Schönheit in Schrecken und Angst und Gelächter, das dann verstummt.

Samstag, 18. Juli 2009

Theaterkämpfe

In Abwehr einer Rede, die Daniel Kehlmann bei den 89. Salzburger Festspielen gehalten hat und in der er das Regietheater nicht über die Maßen preist, trägt Peter Michalzik in der FR das folgende Prosastück zusammen:

Diese Rede ist ein Musterbeispiel dumpf-reaktionären Denkens, ressentimentgeladen und argumentfrei zugleich. Sie wirkt in ihrem Bemühen, die Welt wieder zurechtzurücken, die Dinge wieder in ihre natürliche Ordnung zu bringen, herrlich harmlos, und doch laufen einem, wenn man genau hinhört, kalte Schauer den Rücken herunter. Kehlmann phantasiert sich, in zielvoller Selbstverniedlichung in die Rolle des Kleinbürgers als Kunstrichter. Der Applaus ist ihm gewiß. Vielleicht aber erschrickt auch Kehlmann einmal, wenn er aufwacht, darüber, woher der Applaus vor allem kommt.

Der ganze Text ist um einiges ausführlicher, aber es reicht. Jemandem, der unter keinen Umständen noch ein Theater betreten würde, ob nun eine werktreue oder eine regiebetonte Aufführung droht, kann die Auseinandersetzung in der Sache herzlich gleichgültig sein und ist es auch. Was fasziniert, ist das sprachliche Arsenal, das den Sieg gewährleisten soll.

Seitdem das Publikum vermehrt die Scholien Gómez Dávilas liest, der sich selbst frohen Herzens und völlig zurecht als reaktionär einordnet, hat die Vokabel ihre absolute Knockoutqualität eingebüßt. Da hilft es auch nicht, routinemäßig dumpf als Präfix einzusetzen, so als sei das eine feste Wortverbindung. Halten wir uns weiter an Dávila als Gewährsmann des Reaktionären, so muß man den Inhalten seiner Aphorismen nicht folgen und tut es in den meisten Fällen auch besser nicht, niemand kann sie aber in ihrer funkelnden Präzision als dumpf bezeichnen. Auch ressentimentgeladen ist wohl nur aus alter Gewohnheit und auf gut Glück hingeschrieben. Kehlmanns Rede wird als argumentfrei dargestellt, mit welchem Argument und welcher Beschreibung wird aber dann das gute Gehör eingeführt, das zu den Kälteschauern am Rücken führt? Nach einer flüchtigen Skizze der Heilen Welt, die wir aus nie verdeutlichten Gründen fürchten müssen wie je ein Teufel das Wasser, tritt er auf, der ewige und niemals versagende Kleinbürger, da müssen die Gegner doch wohl das Handtuch werfen. Und zur Sicherheit und für alle Fälle dann noch der Applaus von der falschen Seite. Wohin geht diese dunkle Drohung, sind es die harmlosen Inhaber von Theaterabonnements, die Michalzik ins Visier nimmt, ist es das debile Millionenpublikum sogenannter Volksmusiksendungen, das in einer einmaligen kulturellen Aufwallung Kehlmann zujubeln könnte, oder ist es in schrecklicher Konsequenz gar so - was wir nicht ahnen, Michalzik aber klar und deutlich sieht -, daß Zurückhaltung gegenüber dem Regietheater unmittelbar den Neonazis in die Hände spielt?

Im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung ist man bei einer Bregenzer Nabucco-Inszenierung Mitte der neunziger Jahre auf den Gedanken gekommen, aus den Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen. Ich habe, was mich heute noch reut, teilgenommen an einer Veranstaltung des Festspielrahmenprogramms und bin, bis die letzten Besucher in den Eingängen verschwunden waren, unschlüssig auf dem Vorplatz herumgestanden, unschlüssig, weil es mir mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, mich unter ein Publikum zu mischen; unschlüssig, weil ich den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen wollte.

Kehlmann ist ein bekennender Parteigänger Sebalds, auch der ein dumpf-reaktionärer Kleinbürger voller Ressentiments? Ein gealterter und offenbar angeschlagener Boxer teilt reflexhaft aus, landet keinen Treffer und sieht sich selbst als Champion und Sieger im Ring.

Sonntag, 12. Juli 2009

Pupuseh

Allah razı olsun

Gelesen: Martin Mosebach, Die Türkin

Wenn in Deutschland bei einer Auseinandersetzung erst einmal der Vorwurf des Ästhetizismus gefallen ist, dann weiß man schon, welche Partei verloren hat, schreibt Martin Mosebach in einem seiner Aufsätze über Liturgie und Kirchenbau, Grund genug für die Verlierertruppe, auch Mosebach den Erzähler kennen zu lernen. Er, Mosebach, sei ein begnadeter Stilist, liest man auf dem Einbanddeckel der Türkin, ein reichlich unbestimmter Rechtsbegriff. Nicht gemeint sind offenbar die Extremstilisten in der Art von Kafka, Bernhard oder Sebald, gekennzeichnet dadurch, daß sie die Welt in eine neue ungeahnte Sprachform gießen und zwar so unwiderstehlich, daß für die Dauer der Lektüre jede andere Form als wenig lohnend erscheint. Eine solche Verwandlung findet bei Mosebach nicht statt, es bleibt die Normalwelt, diese aber in einem schönen Sonntagsstaat. Auch scheint die Gnade, die über seiner Prosa waltet, nicht völlig ausgeglichen und weist kleine Beschädigungen auf, so wenn er sich in die Sprachniederung (rumkriegen) begibt. Über Benns Gottesgabe, in einem Satz sieben Sprachebenen zu durchstoßen, um daraus eine funkelnde achte zu erzeugen, verfügt er nicht. Auch sprachlich Abgelegenes (murkelig) fließt nicht in gleich schöner Widerstandslosigkeit ein wie die Alemannismen bei Sebald. – Man würde nicht so hoch greifen im Vergleich, wäre nicht, ohne Verschulden des Autors, das hohe Wort der Gnade ins Spiel gebracht worden.

Krieg der Kulturen, interkulturelle Begegnung, Multikulturalismus – Brocken, die der Ochs Globalisierung aus dem Berg geschlagen hat, vor dem ersteht, um sie dann gleich zu zertreten und unbrauchbar zu machen. Mosebach baut sein eigenes erzählerisches Bild auf, heiter und ohne diese untauglichen Brocken auch nur zu beachten.

Frankfurt am Main ist Schauplatz einer amour en guise de passion zwischen einem deutschen Nachwuchskunstwissenschaftler und einer türkischen Wäscherin, in die er sich unverzüglich verliebt. Sie wird in die Türkei, genauer: nach Lykien verbracht, er folgt ihr. Die Balance der Welten ist herzustellen, immer empfindlich gestört dadurch, daß Europa seine bevorzugten Werte als universell deklariert und damit auch hinter den Linien plaziert, ein listige Re-Entry schon fast in dem Sinne, wie Luhmann den Begriff vom megalomanen Spencer-Brown entlehnt hat. Megalomanie und die Listen des Odysseus, unverzichtbare europäische Grundlagen, und anderswo sieht es keinesfalls besser aus.

Zum Opfer gebracht werden soll der Wert der Individualisierung. Wir westlichen Zivilisationsmenschen wissen, von mir aus auch nur im geheimen, daß uns diese Charakterkostüme in Wahrheit um den Leib herumschlottern, daß da noch Finger in den Kragen passen. Aber hier war es anders. Turhan war der Frauenfreund und Schürzenjäger von morgens bis abends, auch wenn er gar keine Frau zu Gesicht bekam, und Ünal war stets ernsthaft und machte keine Späße. Ohne diese klar ausgeprägte Form der Person würde ich in den Augen Pupusehs sehr unvorteilhaft, ja vielleicht überhaupt nicht wirken. Turhan und Ünal waren Vorbilder. Seine Form gewinnt er dann allerdings erst, nachdem er Pupuseh verloren hat: „Ich bin der Mann, der Pupuseh liebt“ – so war es richtig, es war eine Definition. - Die Definition klingt gerade so wie I am The man who shot Liberty Valance – und da wissen wir, daß es der andere war.

Pupuseh wird für den Icherzähler der Frauenname schlechthin. Es sei kein ursprünglich türkischer Name, wird angedeutet. Pupuseh hat den gleichen Konsonantenaufbau wie Papusza in der Romanisprache, in zwei Sprachen derselben Familie könnte es das gleiche Wort mit gleicher Bedeutung sein. Will Mosebach uns heimlich bis an die Schwelle Indiens führen? Aber niemand, niemand kann nach Indien führen, die Tore Indiens sind unerreichbar und die Entführung aus dem Serail findet nicht statt. Und so blieb denn auch die Ausbeute dieser Tage in Grenzen. Ich brachte eine kleine Narbe an der Stirn nach Deutschland mit, zurück ließ ich eine Zukunft. In Frankfurt holte mich Zeynab vom Flughafen ab.

Diese letzten Zeilen des Buches haben es in sich. Welche Zukunft hat er zurückgelassen, die unmögliche mit Pupuseh oder die mögliche beim Antiquar Hirsch in New York – aber den Verlust dieser Zukunft hatte er schon längst als Gewinn verbucht. Winners take nothing und schon gar nicht erhalten sie Zutritt zu den schönen Büchern, selbst diese Zeilen wurden bereits eingangs den Verlierern gewidmet. Wenn Pupuseh der Frauenname schlechthin ist, ist dann nicht auch Zeynab, die bislang als freundliche Kupplerin tätig war, Pupuseh? Über ihre erotischen Qualitäten war sich der Erzähler schon während der langen Telephonate zwischen Lykien und Hessen klar geworden.

Donnerstag, 9. Juli 2009

Treballo d'advocat

el per qué de cada cosa


Wir haben einen neuen Advokaten, den Dr. Bucephalus. In seinem Äußeren erinnert wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Macedonien war. Wer allerdings mit dem Umständen vertraut ist, bemerkt einiges. Doch sah ich selbst einen ganz einfältigen Gerichtsdiener mit dem Fachblick des kleinen Stammgastes der Wettrennen den Advokaten bestaunen, als dieser, hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingenden Schritt von Stufe zu Stufe stieg.

Im allgemeinen billigt das Barreau die Aufnahme des Bucephalus. Mit erstaunlicher Einsicht sagt man sich, daß Bucephalus bei der heutigen Gesellschaftsordnung in einer schwierigen Lage ist und daß er deshalb, sowie auch wegen seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, jedenfalls Entgegenkommen verdient. Heute – das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht; und vielen ist Macedonien zu eng, so daß sie Philipp, den Vater verfluchen – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich.
Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste, sich, wie es der Bucephalus getan hat, in die Gesetzesbücher zu versenken. Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern von dem Getöse der Aleksanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.

Kafkas Tiergeschichten, Der Bau, Ein Bericht für die Akademie, Josephine die Sängerin muß man nicht bevorzugen, wenn es aber darum ginge, die Geschichte der Welt, von der Barbarei über die Hochkulturen zur Neuzeit, in einem Absatz zu erfassen, sieht man nicht, wie Der neue Advokat zu übertreffen ist. Jürgen Osterhammel benötigt in seinem großartigen Geschichtsaufriß allein für das neunzehnte Jahrhundert an die tausendfünfhundert Seiten und macht keinen Hehl daraus, daß jeder Lichtstrahl nur die unermeßliche Weite des Dunkels verständiger erahnen läßt. Kafka zeichnet wie Picasso oder Matisse, wenige Striche nur, kaum etwas ist ausgeführt und alles ist vorhanden. Mit einem Strich, einer Verszeile, einem Prosaabsatz katapultiert sich die Kunst hinaus zu einem archimedischer Punkt, von dem aus beliebig viel gesehen und beliebig viel vernachlässigt werden kann, in jedem Fall die Begründung, el per qué de cada cosa – Augenblicksbewohner archimedischer Punkte fragen nicht nach dem Warum. Schon eine unmittelbare Hinwendung zum Thema kann alles verderben und den Dichter hart am Boden aufschlagen lassen. Kafkas jenseitiger Schritt ist trittfest, und wir wollen unser Bestes tun, ihn nicht aus der Balance zu bringen.

Der erste überaus kühne Strich, Alexanders Streitroß hat, wenn man so sagen darf, umgesattelt und ist neuerdings tätig als Rechtsanwalt, die Welt muß sich neu ordnen angesichts dieser aus jedem Rahmen fallenden Erscheinung und weiß nicht wie. Am besten, sie rührt sich nicht und schluckt das Unerhörte. In seinem Äußeren erinnere nur noch wenig an die alte Zeit, wird abgewiegelt, der einfältige Mann aber will dem unglaubliche Gesicht des Bucephalus auf der Marmortreppe mit seiner Rennbahnerfahrung beikommen. Die nicht weniger hilflose Erkenntniselite beruft sich auf die heutige Gesellschaftsordnung, von der sie kaum allzuviel weiß, und billigt die Aufnahme des Rosses in die Advokatenkammer. Das ist zwiespältig, schon Minimalkenntnisse des Werkes Kafkas stellen klar, daß er den Proceß der Verrechtlichung der Welt, dem sich auch das mythische Schlachtenroß einreihen muß, nicht mit voreiligem Jubel begleitet hat. Ebenso wenig hat er naturgemäß idyllische Vorstellungen vom vorrechtlichen Zustand der Menschengeschichte, Ein altes Blatt kann als Vorbild aller ungezählten Westernszenen gelten, in denen Desperados die Gewalt in einer Provinznest übernommen haben, und stellt sie alle in den Schatten: Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an seinem Ende.

Ein weiterer Strich: Zu morden verstehen zwar manche, und auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Das Übel ist nicht verschwunden aus der Welt, aber die Größe einer Zeit, als es noch in der Welt eine Welt jenseits der Welt gab, ist dahin. Natürlich war diese Welt schon damals unerreichbar, Indiens Tore verschlossen, aber heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen. Mehr als eindrücklich beschrieben hat Kafka die Türen des Gesetzes in alten und in neuem Tagen.

Die Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute zeigt niemand die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich. Nicht nur nicht das Recht, auch die heilige Demokratie, das Land der vielen kleinen Schwerter, wird von Kafka offenbar nicht mit hellem Jubel begrüßt, der Blick ist zu fern und fremd, nicht zu beeindrucken nach unserem Willen. Oder ist Jubel spürbar im letzten Satz:

Bei stiller Lampe, fern von dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher – sind die alten Bücher, die er im letzten Satz liest, überhaupt noch die Gesetzesbücher des vorletzten Satzes, oder kümmert ihn das Gesetz bereits nicht mehr so sehr, so wie es Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo, Sohn eines Rechtsanwalts, wenig gekümmert hat, und er, Bucephalus, feilt inzwischen, ebenso wie Borges jenseits des Ozeans, in der stillen Muße eines Landhauses an der tastenden Übertragung eines alten Textes, die er, wie auch Kafka die meisten seiner Texte, nicht drucken zu lassen gedenkt? Auch feurigste Aktivisten haben bislang versäumt, Kafka dem Biedermeier zuzuschlagen.