Sonntag, 2. August 2009

Im Turm der Dichter

Blocksatza hundred floors above me
in the tower of song


Bevorzugt am Beispiel und Sündenbock Martin Walser hat sich Reich-Ranicki gern immer wieder den Spaß erlaubt, das eine Werk in den Himmel zu preisen, um das nächste zu verdammen, und so fort, so als hätten die Dichter kein Dasein zwischen ihren Werken und würden jedesmal vom Straßenpflaster und der Grasnarbe aus wieder ganz neu beginnen ohne die geringste Prognose für den Ausgang. Tatsächlich aber wohnen sie auf einer bestimmten Ebene im Turm der Dichter, Franz Kafka hätte nie eine Zeile auf der Wohnebene von Franz Werfel schreiben können und in umgekehrter Richtung naturgemäß noch viel weniger der Franz Werfel, dessen Roman Verdi nicht mehr gelesen zu haben, vielleicht nicht der größte Verlust war, den der zu diesem Zeitpunkt nurmehr fünfundvierzig Kilo wiegende Kafka verschmerzen mußte. Das besagt natürlich nicht, die Produktion der Dichter würde keinen Schwankungen unterliegen.

Nehmen wir Virginia Woolf mit Wohnung ganz oben im Turm. Viele werden in The Voyage Out und Night and Day Vorübungen sehen, in Orlando einen Sonderfall. Die Behandlung der Zeit, ihre Wandlungen und Verheerungen, ist eines der auffälligsten Merkmale ihrer Prosa, the years changed things, destroyed things, all passes, all changes, she thought. Man mag zu der Einschätzung gelangen, daß diejenigen Werke die allergelungensten sind, in denen sie die Zeit bündelt und einsperrt in einen einzigen Tag, bei weit geöffneten Fenstern, durch die der Wind der Vergangenheit und der Hauch der Zukunft eindringen, daß also Mrs Dalloway, To the Lighthouse und Between the Acts vielleicht noch eine kleine Stufe höher zu stellen sind als Jacob’s Room, The Waves und The Years und selbstredend als Flush. In Between the Acts ist der Wurf vielleicht nicht ganz so groß, Mrs Dalloway ein reines Wunderwerk und To the Lighthouse mit dem einen Tag, der zehn Jahren später sich wiederholt und seinen Abschluß findet, ein Lichthaus von schlichtweg blendender Schönheit. Man schließt die Augen und weiß schon gar nicht mehr, liest man ein Buch oder hört man Kammermusik, vielleicht von Schostakowitsch - she lay there listening, she was happy, completely, time had ceased.

Die Dichter ganz oben im Turm dienen als Meßlatte für andere, meistens nicht zu deren Segen. Thomas Bernhard hat sich bekanntlich an einer Wiener Virginia Woolf namens Jeannie vergangen und auch sonst wüßte man im ganzen deutschsprachigen Raum keine zu nennen, die ohne Schaden an Leib und Leben auf diesen Stuhl gesetzt werden könnte. In Italien stößt man auf Natalia Ginzburg, eine andere und ausdrückliche Meisterin des Lessico famigliare – die Lexika der Levi (Lessico famigliare), der Ramsay/Stephen (To the Lighthouse), der Manzoni (La famiglia Manzoni), der Pargiter (The Years) - und auch das Stockwerk im Turm der Dichter dürfte in Ruf- und Klopfnähe liegen. Aber je höher im Turm, desto größer die Eigenart, die vergleichbare Höhe verbietet den die eine der anderen nachordnenden Vergleich, die italienische Virginia Woolf, die englische Vorläuferin der Natalia Ginzburg.

Südamerika benennt Clarice Lispector als die brasilianische Virginia Woolf, dann aber auch, wohl mit Hinblick auf die Kurzgeschichten, als brasilianische Katherine Mansfield, von der Hemingway wiederum meinte, ihre Geschichten würden, wenn man das klare Quellwasser der Erzählungen Tschechows gewohnt sei, schmecken wie Limonade. Und wiederum Virginia Woolf, als habe sie Tschechow eingeladen in ihre Romanwelt, um ihn zu befragen: When, she wanted to ask him, when will this new world come? When shall we be free? When shall we live adventourosly, wholly, not like criples in a cave? Anscheinend muß man sich den Turm der Dichter nicht als einen übersichtlichen Neubau vorstellen mit klarer Unterteilung der Stockwerke und Wohnbezirke, sondern eher wie in niederländischen Darstellungen den zerklüfteten Turm zu Babel, bei dem es letztenendes, sei es nun Zufall oder nicht, auch um die Sprache ging.

Clarice Lispector hatte 1944 im Alter von neunzehn Jahren mit ihren Erstlingsroman Nahe dem wilden Herzen einen Eintritt in die Literatur, der in der üblichen Kritikersprache und in diesem Fall völlig zu Recht als fulminant zu bezeichnen ist, schon arg fulminant, mag der eine oder andere denken, ein ganz erstaunliches Buch in jedem Fall, selbst kennt man Neunzehnjährige dieser Art nicht.

Die Brüste der Tante waren tief, man konnte die Hand hineinstecken wie in einen Sack und eine Überraschung herausholen, ein Tier, eine Schachtel, wer weiß was sonst noch. - Virginia Woolf? Eher schon als sei Clarice Lispector in der Ukraine, aus der sie bereits im Alter von zwei Monaten ausgewandert war, doch noch infiziert worden von Bruno Schulz. Bruno Schulz, der ganz oben ein kleines nur schwer auffindbares Zimmer bewohnt im Dichterturm, der einlädt zum ziellosen Herumschweifen mit seinen Korridoren und Treppen, die nirgendwo hinführen, mit den türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen – Sackgasse und Stillstand, Anlaß, diese kleine Irrwegwanderung im Turm der Dichter für diese Mal abzubrechen.







Samstag, 1. August 2009

Jeśli Boga nie ma

He rose and stood in the bow of the boat, very straight and tall, for all the world, as if he were saying: There is no God.

No debemos concluir que todo es permetido, si Dios no existe, sino que nada importa. Los permisos resultan irisorios cuando los significados se anulan.


Falls es keinen Gott gibt, dieser Titel eines Buches des unlängst verstorbenen Leszek Kolakowski wird alle diejenigen neugierig machen, die befürchten, vermutlich ist es so, es gibt Gott nicht, daraufhin ihr metaphysisches Bedürfnis heimatlos sehen und in keiner Weise darauf vertrauen, der verabschiedete Gott habe der Menschheit mit Vernunft, Mündigkeit und ähnlichem zuguterletzt noch die passenden Werkzeuge hinterlassen, um ohne seine Hilfe zurechtzukommen.


Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Dostojewskis bekannter Satz, dem der Titel des Buches entliehen ist, zielt vor allem auf die moralischen Konsequenzen, Kolakowski beschäftigt sich stärker noch mit den erkenntnistheoretischen: Falls es keinen Gott gibt, gibt es keine Wahrheit, sondern nur noch Verfahren und Methoden zur Erzeugung von Wahrheitssurrogaten, insbesondere die der Wissenschaft. Sobald die Möglichkeit zugelassen ist, daß es einen Gott nicht gibt, werden Glauben und Skepsis zu ontologischen Optionen, die sich selbst nicht beweisen und die Gegenposition nicht wegbeweisen können. Das ist nicht neu, aber die souveräne gedankliche Sorgfalt in der Demonstration Kolakowskis ist wohltuend.

Wenn also dergestalt ein intellektuelles Unentschieden zwischen der Skepsis und dem Glauben, der Vernunft der Aufklärung und den religiösen Gewißheiten oder, noch einmal anders, zwischen dem Profanen und dem Heiligen besteht, so ohne die notwendige Folge einer friedlichen und irgendwie gleichberechtigten Koexistenz. Nach langen Jahrhunderte einer Dominanz der Gottesleute und des Heiligen triumphiert jetzt im nur noch zaghaft christlich genannten Europa die andere Seite. Die Aufklärung ist in ihren Methoden des Machterhalts inzwischen deutlich freundlicher als das Christentum zur Zeit der Inquisition, allerdings von einer besonderen Durchtriebenheit, wenn sie ihre gesamte Produktpalette - Demokratie, Menschenrechte, Emanzipation, EU, UNO, Schulpflicht, Ganztagskinderstätten – als neutral, gar nicht von ihr entwickelt, sondern, in einem seltsamen Crossing, gleichsam als gottgewollt darstellt, als gottgewolltes Endziel. Und tatsächlich ist die Aufklärung kaum vorstellbar ohne den Anschub des Christentums, derjenigen unter den Abrahamsreligionen mit der stärksten Tendenz zur Selbstsäkularisierung, vorgegeben in der Figur des menschgewordenen Gottessohns. Gleichzeitig werden die Bemühungen immer deutlicher und heftiger, dem Demokratieprinzip und den mit ihm verbundenen Werten, im Sinne ihrer gottlosen Autarkie, eine eigentümliche profane Sakralität zu verleihen.


Kolakowski versucht nicht, Proselyten von der einen auf die andere Seite abzuwerben, zu spüren ist aber eine gewisse Vorliebe für die Position der derzeit Schwächeren. Ähnliches mag Habermas durch den Sinn gegangen sein, als er vor einigen Jahren, überraschend und zum gelinden Entsetzen seiner Anhänger, die mit leichtem metaphysischen Gepäck, zu denen er sich selbst zählt, zu mehr Rücksicht auf die mit schwerer Last aufforderte. Fairneß mag der ihn leitende Begriff gewesen sein, schon als Kinder haben wir es mit den Indianern gehalten. Bei Kolakowski kommt hinzu, daß er die Stärken des Kommunismus lebensnah genossen hatte und die fundamentale Dichotomie zwischen dem prometheischen Atheismus und der Religion, als der Lehre vom immer scheiternden Menschen, sieht. Er scheitert mit oder ohne Gott, aber vielleicht nicht auf die gleiche Weise.

Todo es trivial si el universo no está comprometido en una aventura metafízica - Anders als Gómez Dávila, der hier aushelfen muß, geht Kolakowski auf die ästhetische Seite des Gottesverlustes nicht unmittelbar ein, streift sie aber, wenn er in den Mystikern die hellsten Sterne am geistigen Firmament der christlichen Kirche sieht. Dabei sieht er eine eigentümliche Konvergenz in der kognitiven Haltung des radikalen Mystikers und des radikalen Skeptikers, verkörpert in den Gestalten Wittgensteins und des Nikolaus Cusanus. Niklas Luhmann hat sich immer wieder gern mit dem Namensvetter aus Kues abgegeben: wenn Gott in der gleißenden Helle der mystischen Erkenntnis verschwindet, wird die unablässige Arbeit der Systeme sicht- und hörbar, und in den windstillen Nächten geht ein ständiges Huschen und Rascheln durch das ausgetrocknete Gehäuse der gottverlassenen Welt, und bisweilen erhebt sich auch ein aus Tausenden von winzigen Kehlen gepreßter pathetischer Gesang.

Falls es keinen Gott gibt – Kolakowski gibt keine Verhaltenslehren für den Katastrophenfall. Wenn man die Romantik als eine von metaphysischer Sehnsucht getragene Reaktion auf den sich abzeichnenden Gottesverlust versteht, sieht man sich berechtigt, auf Rüdiger Safranski und seine überraschende aber auch gewinnende Zweisphärentheorie überzuspringen: Das Romantische ist phantastisch, metaphysisch, versucherisch, überschwenglich, abgründig. Politik sollte sich auf das Prinzip der Verhinderung von Schmerzen, Leid und Grausamkeit gründen. Wir brauchen beides, die Abenteuer der Romantik und die Nüchternheit einer abgemagerten Politik. Wenn wir die Vernunft der Politik und die Leidenschaft der Romantik nicht als zwei Sphären begreifen und stattdessen die bruchlose Einheit wünschen, dann besteht die Gefahr, daß wir in der Politik ein Abenteuer suchen und der Kultur dieselbe soziale Nützlichkeit abfordern wie der Politik.

Eine verordnete Schizophrenie für die Individuen also, und wenn wir mit einfacher Zweiteilung davonkommen, können wir noch froh sein. Der Gottesglaube aber verliert gerade für den Skeptiker jeden Wert, wenn er sich einseitig und, wie Kolakowski schreibt, unterwürfig gegenüber den Forderungen der Moderne ganz auf die Seite der abgemagerten Politik schlägt. Menschgeworden hat der XRISTOS sich schon weit vorgewagt, mit einem bekannten Politiker, und sei es Obama, hat er in Grünewalds Erfassung zumindest keine Ähnlichkeit.