Montag, 5. Oktober 2009

Philosophieren


Die junge, in New York ansässige Philosophin, bisheriger Vorzugsbereich Philosophie der Architektur in der Nelson Goodman-Nachfolge – als ehemalige königliche Stipendiatin verfügt sie im königlichen Eislaufpalast zu Madrid über ein uneingeschränktes philosophisches Rederecht – hatte sich für einen Besuch angemeldet zu einer Zeit, als ich mich gerade ganz und gar in die Schriften Emil Ciorans versenkt hatte. Goodman und Cioran, da konnte ich beim besten Willen und bei aller Anstrengung einen Berührungspunkt nicht feststellen, aber es war mir gelungen, in der Fachwelt jemanden aufzutreiben, dem es, wie er angab, ein Leichtes war, hier die Einheit der Differenz mit feinem Strich nachzuzeichnen. Zu diesem nicht ganz geringfügigen Ereignis waren kurzerhand auch die Eltern der jungen Philosophin eingeflogen, eine große Freude und keineswegs eingetrübt dadurch, daß die Handwerker entgegen ihrer Zusage nicht fertig geworden waren und das Haus nach wie vor besetzt hielten. In einem großzügigen Landschaftspark vertrieben wir uns paarweise oder in kleinen Gruppen - weitere hatten sich hinzugesellt – mit gefällig leichtem Philosophieren, jeder ein Platon, jede ein Aristoteles oder einer der anderen, wie Raffael Santi sie uns im Bild überliefert hat, anmutig die Zeit wie schon letztes Jahr in Marienbad. Ich kann mich nicht entsinnen, den Vortrag dann noch gehört zu haben, die Brücke von Goodman zu Cioran ist nach wie vor ein unbekanntes Gelände.




Bridge over Troubled Water

Sonntag, 4. Oktober 2009

Herta M.

Von den deutschsprachigen Autoren haben einen Nobelpreis erhalten: Mommsen, Eucken, Heyse, Hauptmann, Spitteler, Thomas Mann, Hesse, Nelly Sachs, Böll, Canetti, Grass, Elfriede Jelinek und jetzt Herta Müller. Nicht bekommen haben ihn: Kafka, Musil, Robert Walser, Celan, Brecht, Benn, Bernhard, Sebald. Wirft man alle heraus aus der ersten Liste bis auf Thomas Mann, ohne den es nun einmal nicht geht, und fügt die von der zweiten Liste ein, stehen wir deutlich besser da vor den Augen der Welt. Vielleicht dürfen auch Hauptmann und Canetti bleiben, das muß man sich genau überlegen. Daß Böll immer so ein guter Mensch war, darf uns nicht beeindrucken. Aber eine Frau muß her. Über eine Virginia Woolf, die den Preis naturgemäß auch nicht erhalten hat, verfügen wir nicht, die Jelinek kann ihn auf keinen Fall behalten, über Nelly Sachs ist hier wenig zu sagen, wie ist es also mit Herta Müller? Da sie den Preis gerade erst bekommen hat, würde ihr die Rückgabe ohnedies besonders schwer fallen.
BlocksatzDie Erinnerung an Aufenthalte in den realsozialistischen Ländern, in Ceausescus Rumänien ist eingelagert in das Bild betonierter Flächen, durch die die Vegetation bricht, Ruderalflächen, Ödland. Die Stauden, die Halme verkrüppelt und verdreckt, dann wieder von hartnäckiger, schmerzhafter Schönheit. Wo Schutt liegt, wo alles rostet, zerbricht und zerfällt, blüht die Clematis am schönsten. Hebt man den Blick, Wohnkäfige am Horizont für die Massenmenschhaltung und dahinter irrwitzige Paläste und die stillen Straßen der Macht, wo der Wind, wenn er anstößt Angst hat. Es ist, als würde Herta Müllers Prosa dieses Erinnerungsbild unmittelbar aufnehmen. Sie erzählt von Betonplattenschicksalen, zubetonierten Menschen und durch die aufgebrochenen Sätze dringen unaufhaltsam die Metaphern vor, verkrüppelt und eingestaubt, dann wieder von schmerzhafter Schönheit.

Im Bukarester Hotel stand ein Fernsehapparat, am Abend zwei Stunden Sendezeit, leerer als das Nichts, nur ein Hauptdarsteller, der Mann mit der Stirnlocke, der Mann mit den silbernen Gehirnzellen, der geliebteste Sohn des Volkes, eine Hauptdarstellerin nur, die geliebte Frau des geliebtesten Volkssohns, des Mannes mit der Stirnlocke. Aus der Auslage des Buchladens schauetn nur zwei Autoren, der Mann mit der Stirnlocke, der Mann mit den silbernen Gehirnzellen, der geliebteste Sohn des Volkes für die Sozialkunde und den Rest der Kulturdisziplinen, seine geliebte Frau für die Chemie und sonstigen Naturwissenschaften. Die Stirnlocke glänzt. Sie sieht jeden Tag ins Land. Der Bilderrahmen des Diktators ist jeden Tag in der Zeitung so groß wie der halbe Tisch. Unter der Stirnlocke ist das Gesicht wie beide Hände, wenn Adina sie auf den Handrücken nebeneinander legt, geradeaus ins Leere sieht und den eigenen Atem wieder verschluckt. Die Angler fischen ertrunkenes Gras aus dem Fluß, zerfressene Socken und verquollene Unterhosen. Und einmal am Tag, wenn die Ruten krumm und die Schnüre von Grund besoffen sind, einen schmierigen Fisch. Es könnte eine tote Katze sein.

Den Preis, so wie er ist, darf Herta M. in jedem Fall behalten, daran ist nicht zu rütteln, und vielleicht darf sie sogar daran denken zurückzukehren zu denen auf der anderen Seite, die den Preis nicht erhalten haben - zu Kafka, Musil, Robert Walser, Celan, Brecht, Benn, Bernhard, Sebald, Virginia Woolf - und die, wer weiß, schon darauf warten, sie als die ihre zu begrüßen.

Samstag, 3. Oktober 2009

Ein Sterben

nox est perpetua una dormienda

Das Leiden der Tiere sei der größte Skandal der Religionen, schreibt Leszek Kolakowski, ihr Tod ein kaum geringerer, muß man hinzufügen, wenn man sie, die Tiere, denn von den Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tode ausschließt, um Himmel und Hölle nicht auch mit ihnen noch zusätzlich zu der maßlosen Menschenzahl zu belasten. Da lag er nun auf dem Metalltisch. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert, von Krämpfen angetrieben, hechelnd, so als wolle er, auf der rechten Seite liegend, dem Tod doch noch enteilen, das linke Hinterbeinchen aber lag nach oben angezogen still die ganze Zeit. Die massive Überdosis eines Schlafmittels hatte zu einer augenblicklichen Befriedung geführt und wenig später nur, übergangslos und nicht erkennbar, in den Zustand, in dem man in einem wahrhaft gewaltigen und fassungslosen Frieden ruht.


Siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre sind es her, daß wir sie - denn es handelte sich um ein weibliches Tier, das ursprünglich auf den Namen Rieke ebenso willkürlich und selbstbestimmt hörte und nicht hörte wie später auf den Rufnamen Dackel (wie bei Orlando ließ sich das kulturelle Geschlecht nicht fixieren) – daß wir sie also das erste Mal gesehen hatten in einem größeren Rudel unterschiedlicher Hunde, edle Tiere, Rasseexemplare, ein Bernhardiner, ein Schäferhund, wenn ich es richtig erinnere, andere noch und ergänzend ein Wesen, bei dem es sich offenbar um eine riesenhafte zottige Kellerassel handelte, Rieke eben, eine Pudel-Dackel-Mixtur, wie später in den offiziellen tierärztlichen Annalen und auch auf dem Totenschein festgehalten wurde. Selbst war sie offenbar von ihrer extrem niedrigen, mißgeburthaften Bauweise nicht auf das geringste beeindruckt oder gedämpft worden und forderte von unten herauf nachdrücklich ihre Rechte ein, ohne den gegenläufigen Begriff der Pflicht auch nur ansatzweise begreifen zu wollen. Wenig später war sie dann für lange Jahre unser Familienmitglied geworden.

Sie war uns, wir waren ihr so nah und doch so fern in der anderen Welt. Vieles unterschied sie von anderen Hunden. Anders als Bauschan war sie an der Jagd kaum interessiert, umso weniger an dem zivilisierten Jagdsurrogat nach geworfenen Holzscheiten. Auf der Höhe noch jugendhafter Kraft mochte sie dem Werfer zu Gefallen ein niedriges Grundinteresse vortäuschen, im reifen Alter rief bereits das bei den Artgenossen beobachtete eitle Treiben ihr deutliches Mißfallen hervor. Dabei war sie des wilden Rennens durchaus fähig bis vielleicht in das vorletzte Jahr ihres Lebens und oblag ihm gern mit vom Fahrtwind rückwärts getriebenen Bart und ungezügelt fliegenden Ohren. Die Verantwortung für den Zusammenhalt von Wandergruppen übernahm sie ungefragt und stante pede, nicht nur für den Familienverband, sondern auch für größere Trupps von fünfzig Mann und mehr, ihr überwiegend völlig unbekannt, unter ständigem Galopp von der Tête zur Nachhut und zurück bei trauriger Nichtbeachtung des aufopfernden Tuns durch die Mehrzahl der Marschierenden, und wenn sich die Marschkolonne dann gar entgegen allem wölfischen Verhalten aufteilte in mehrere Untergruppierungen, wollte es ihr schier Leib und Verstand zerreißen. Wanderungen als solche sind ihr immer nur sinnvoll erschienen wegen der zwischenzeitlichen Nahrungsaufnahme und bald schon hatte sie alle nur denkbaren und irgend in Betracht kommenden Picknickplätze des Eifel- und Ahrgebirges in ihrem winzigen Schädel kartographiert, um sie mit herausfordernd auf uns gerichteten Blick zu verbellen.

Nach der Kilometerzahl haben die kurzen Beinchen sie sicher mehrfach um den Erdball getragen, und nach der Zahl der absolvierten Schrittchen fragt man sich besser erst gar nicht. Anweisungen schon immer wenig zugänglich, war ihr eine einsetzende oder vorgetäuschte Altersdemenz willkommener Anlaß für eine genüßliche Übertretung aller bis dahin geltenden Tabus, nicht selten auch zum eigenen Schaden, denn, zusätzlich begünstigt durch Taub- und Blindheit, kam sie vermehrt abhanden, so daß schließlich zu ihrer nicht geringen Verstörung auf das sinnreiche Instrument einer retroflexen Leine zurückgegriffen werden mußte. Die Küche, für lange Jahre das Tabu schlechthin, wurde schließlich zum bevorzugten Aufenthaltsraum.

Da lag er nun, der Dackel, auf dem tierärztlichen Metalltisch, genauso, wie er oft schlafend auf dem Teppich gelegen hatte. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert und würden sich nun nie wieder mehr bewegen, die enorme Kilometerlebensleistung nicht mehr steigern. Das kleine, eifrige, widerborstige Leben war ausgelebt. Der Leichnam würde in den Kühlraum wandern und später entsorgt werden. Was für eine Zeit noch bleibt, ist die Erinnerung in den Köpfen einiger Menschen, über die caninen Kumpanen weiß man in dieser Hinsicht wenig. Nicht das geringste Indiz, wohin man auch schaut, bei uns Menschen würde es anders sein mit dem Sterben und dem Tod. Kein Wunder, wenn die Frommen und nicht weniger die Anbeter von Demokratie und Menschenrechten sich die Tiere gern vom Leib halten, wollte man sie einbeschließen in das traute Verhältnis von Mensch und Gott oder in den autistischen Kreis der menschlichen Selbstvergötterung, müßten die Karten völlig neu gemischt werden, und wer will sich schon stören lassen bei den gewohnten Spielen.