Samstag, 27. Februar 2010

NYC

Where the NYC winters aren’t bleedin’ me

Wir waren unterwegs zu einem Kurzaufenthalt in New York, Chr., Fr. und ich. Bereits gelandet schlugen wir uns durch zu unserem Quartier. Geistesgegenwärtig tätigten wir bereits einige notwendige und auch überflüssige Einkäufe. Die Bauten und der Raum dazwischen, alles milchig grau.




Ziel der Reise war es, uns von der fortbestehenden kulturellen Dominanz der Weltmetropole zu überzeugen, im Gespräch ging es aber um Chr.s Darlegungen zum erzählenden Charakter der Evangelien in Übereinstimmung mit Wittgensteins Bemerkung zu ihrer betörenden Einfachheit in einem sprachlichen Raum jenseits allen Stils, in Übereinstimmung auch mit J.L. Borges’ Bewunderung ihrer Modernität und Zukunftsträchtigkeit, hart abgesetzt von Nietzsches strohtrockenen Zarathustraphantasien mit dem lachenen Löwen, dem Adler und all dem Plunder, ich bitte Euch, enfin.

Stieghorst, damals so leer wie Manhattan zur Zeit der Indianer. Erste Siedler, die schwarze Nadel des Kirchturms auf der Höhe, der Fahrweg den Hang hinab, das Haus des Onkels auf halber Höhe, weiter unten das Gehöft der Urgroßmutter, noch weiter hinab und dann an der Biegung links das Haus der Tanten. Jetzt längst alles lückenlos vollgepackt mit Wohneinheiten.





Mittwoch, 24. Februar 2010

Im Roggen

Der Autor ist völlig trittfest und tonsicher, die vielen immer wiederkehrenden Kurzmelodien wird man bis zum Schluß nicht leid; that killed me, ist eine dieser Melodien und wäre sie wahr, dann wäre Holden Caulfield schon bald tausend Tode gestorben. Holdens untrügliches moralisch-ästethisches Gespür für das Falsche, für das, was phony ist, steht der Sprachsicherheit des Autors nicht nach. Das Gegenteil von phony ist eben what kills, was geradezu lebensbedrohlich entzückt. Kinder killen sehr oft, fast immer, Frauen und Mädchen, darunter auch Nonnen, nicht selten, Männer so gut wie nie.

Hat man das Buch lange nicht gelesen, setzt sich in der Erinnerung das Roggenfeldbild in seiner poetischen Absurdität als das Schlußbild fest. Das Bild beruht auf einem Mißverständnis, gin a body meet a body, heißt es bei Robert Burns, if a body catch a body hat Holden sich gemerkt und davon ausgehend seine so sehr verquere und schöne Vision vom Fänger im Roggen entworfen. Holdens verssichere kleine Schwester Phoebe weist ihn auf den Fehler hin, aber es gibt nun einmal kein wahres Verstehen ohne ein geringes Mißverstehen. Wäre alles immer richtig verstanden worden, so wären alles Verstehen und mit ihm alle Literatur längst erstorben.

Nach dem Roggenbild folgen aber noch gut zwanzig Seiten, und es gibt natürlich einen letzten Satz: Don’t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody. Gewohnt ist man an das Gegenteil, man erzählt, um die Dinge festzuhalten, die sich verlieren wollen. I sort of miss everybody I told about. Even old Stradlater and Ackley. I think I even miss that goddam Maurice. Erzählen kann man nur von der unreinen Welt, in der auch Stradlater und Ackley und der gottverfluchte Maurice leben. Bestünde die Welt nur aus dem what kills, was geradezu lebensbedrohlich entzückt, bliebe allenfalls der lyrische Seufzer. Wer aber könnte den, endlos in die Länge gezogen, ertragen.



Donnerstag, 18. Februar 2010

Verstetigung

Seitdem die große christliche Deutungsanstrengung gerade auch hier einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat, steht uns der Tod nackt vor Augen. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, hatte Thomas Bernhard anläßlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises bemerkt und damit den Minister Piffl-Percevic in Rage versetzt. Tolstois Erzählung Смерть Ивана Ильича, die das Leben nur als verlogene Fassade des Todes noch gelten läßt, steht da wie ein von der Zeit unberührter Monolith.

Anders sieht es aus, wenn Tolstoi sich dem Thema der Ehe zuwendet, dem Glück der Ehe, wie es in einer deutschen Übertragung heißt, Семейное счастие, richtiger übersetzt: Familienglück. Hier fühlt die Gegenwart sich auf der Höhe und weiß bestens Bescheid: derlei gibt es nicht, oder allenfalls für kurze Zeit und dann, wenn ordentlich Patchwork eingearbeitet wurde. So gesehen bedarf es einigen Mutes, den Kurzroman neu zu lesen, wohl wissend, daß Tolstoi von neueren Einschätzungen meilenweit entfernt ist.

Gleich der erste Satz: Мы носили траур по матери, которая умерла осенью, и жили всю зиму в деревне, одни с Катей и Соней, kaum weniger schön, wenn auch deutlich weniger knapp – sicher aber wäre es ein Fehler, dem Deutschen die Bündigkeit des Russischen abzwingen zu wollen - in der Übersetzung von Claire von Glümer: Wir trauerten damals um meine Mutter, die im Herbst gestorben war, und lebten – Katja, Sonja und ich – den ganzen Winter zurückgezogen auf dem Land - gleich dieser erste Satz nimmt uns so fest bei der Hand, daß wir sicher sind, nicht loszulassen bis zum Ende, wenn wir uns vielleicht auch wundern werden unterwegs.

Die Geschichte von Mascha und Sergei Michailytsch, die Tolstoi in Семейное счастие erzählt, hat er dann zumindest noch zwei weitere Male erzählt, als die Geschichte von Pierre und Natascha in Krieg und Frieden und als die Geschichte von Kitty und Lewin in Anna Karenina. Warum sind die beiden Paare aus den großen Romanen zu festen Bestandteilen unserer Vorstellungswelt geworden, Mascha und Sergei aber nicht?

Семейное счастие hat, wohl eine Singularität für Tolstoi, einen weiblichen Icherzähler, Mascha, zugleich die Protagonistin. Nataschas und Kittys Liebreiz, ihre прелесть, erblüht aber vollend erst unter dem Blick des Liebenden, unter einem Blick von außen also, der Mascha nicht zur Verfügung steht. Und andererseits, Natascha und Kitty und Kitty mögen das wichtigste im Leben Pierres und Lewins sein, kaum weniger wichtig aber ist ihre drängende Suche nach der Wahrheit. Sergei Michailytsch ist demgegenüber sozusagen bereits fertig, accompli, er weiß alles, nur Mascha muß lernen und durchlebt nach der Eheschließung einige der Irrungen und Wirrungen, die bei Natascha dann vorausgehen. Sergei Michailytsch ist weitgehend beschäftigungslos in der Erzählung und schwächt sie damit. Tolstoi selbst war mit Семейное счастие unzufrieden und hatte Grund, die Geschichte neu zu schreiben.

Die Geschichte, die dreimal erzählt wird, geht wie folgt: Ein junger, aber nicht mehr ganz junger Mann in guten Verhältnissen, oder auch, wie Pierre Besuchow, ohne Einschränkung reich, verliebt sich in ein sehr junges Mädchen, seine Liebe wird nach größeren oder kleineren Schwierigkeiten schließlich erwidert. Die Liebe verzaubert die Welt, und für einen Augenblick scheint es, als könne sie auf immer diesen Zustand der Schönheit behalten, что все это навсегда должно быть заковано в своей красоте. Aber es geht weiter und die Zauberwand der Schönheit verschiebt sich, das Liebesglück muß, um Bestand zu erhalten, in ein Ehe- und Familienglück umgestaltet werden. Familienglück, das ist Tolstois Wahrheit und Verteidigungslinie für zwanzig Jahre, Семейное счастие wurde 1859 veröffentlicht, also noch bevor Tolstoi selbst das Glück der Ege erkunden konnte, Anna Karenina 1877.

In Смерть Ивана Ильича (1886) ist diese Verteidigungslinie gefallen. Wer sich mit keiner gefundenen Wahrheit zufrieden gibt und immer weiter geht, geht auf das Nichts zu. Nur flüchtige, karge Augenblicke des Glücks tauchen in der Erinnerung des todgeweihten Iwan Iljitsch auf, Liebes- und Eheglück nur kurze Episoden, zum Schluß, nach Monaten der Qual und Verzweifelung, heißt es: Как хорошо и как просто. Где она? Какая смерть? Страха никакого не было потому что и смерти не было – wie schön und wie einfach, wo ist er? Welcher Tod? Es gab keinerlei Furcht, weil es auch den Tod nicht gab. - Der Tod ist die endgültige Verstetigung, eine Ewigkeit der einen oder anderen Art, der wir nicht entkommen können. Sollen wir, um auf der sicheren Seite zu sein, unser Leben gleich daran ausrichten?

François Ozon hat mit Sous le sable in unseren Tagen einen sehr schönen Film über das Glück der Ehe und seine mögliche Verstetigung über den Tod hinaus gedreht. In einer bündigen Besprechung heißt es: When her husband goes missing at the beach, a female professor begins to mentally disintegrate as her denial of his disappearance becomes delusional – nach der dominierenden Auffassung eine bloße Angelegenheit für die Psychiatrie also.

Montag, 15. Februar 2010

Hier die Prärie und dort die Steppe

kein Hauch in der Luft, reglos

Bei Dostojewski denkt man, was den Ort der Ereignisse anbelangt, als erstes an Petersburg, bei Tolstoi an Petersburg und Moskau, vielleicht auch an Frankreich, von wo aus Napoleon anrückt, oder an Italien, wohin Anna Karenina mit ihrem Geliebten reist. Natürlich denkt man auch an Jasnaja Poljana in der Nähe von Tula und an das dörfliche Rußland. Gogols Hauptwerke spielen dann schon ganz in der russischen Provinz, Lermontows Герой нашего времени im Kaukasus, Tolstois Spätwerk Хаджи-Мурат ebenfalls. Puschkins Капитанская дочка trägt sich zu in der Steppe bei Orenburg.


Jürgen Osterhammel stellt im Kapitel Frontiers seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts Analogien zwischen dem amerikanischen Westen und dem russischen Osten heraus, und bei der Lektüre von Puschkins Erzählung, zumal bei den Szenen im Fort, das von dem gutmütigen Hauptmann Mironow und, bei Licht besehen, mehr noch von seiner Frau geleitet wird, muß man sich geradezu zwingen, das Gelesene in der Vorstellung nicht mit Szenen aus John Fords schönsten US-Cavalary-Filmen zu bebildern. Denkt man weiter in dieser Richtung, so kann man in Tschechows Степь, der Erzählung von einem Treck durch die Steppe, einen Spätwestern sehen, allerdings von solcher Schönheit, daß er auf das Pendant in bewegten Bildern noch wartet.

Viele Filme des Genres zögern die Gewaltszenen hinaus und halten sie gering, können auf sie als Auslöser der Katharsis aber nicht ganz verzichten. Der Pegel offener Gewalt in Степь ist noch um einiges niedriger. Eine Natter wird ohne Grund erschlagen, am Lagerfeuer erzählt man sich Räuber- und Banditengeschichten, die meisten erfunden, das ist es wohl schon. Der Todschlag der Natter löst heftige Diskussionen aus zwischen den Treckbegleitern. Eine Natter darf man nicht einfach so erschlagen, ist die vorherrschende Meinung, und auch der Übeltäter geht in sich. Hier ist der russische Originaltext eigentlich unverzichtbar. Die Bündigkeit der russischen Sprache, hervorgerufen durch die fehlenden Artikel, die fehlende Kopula und die häufige Verzichtbarkeit der Personalpronomina ist ganz anders als die lakonische Knappheit des Englischen. Es ist eine freundliche Bündigkeit, sie hat, wenn man so will, einen immer leicht märchenhaften Ton und den vollen Ausdruck ihres Charakters findet sie in der fast nur aus Redensarten zusammengesetzten Sprache des einfachen Volkes, ум хорошo а два лучше, ein Verstand ist gut zwei aber besser &c., jeder Satz wie ein kleines warmes Tier in der Hand, wohlbehütet von den ständigen religiösen Anrufungen, дай Бог здоровья, gebe Gotte Gesundheit, о господи помилуй, oh Herr erbarme Dich, помогай царица небесная, hilf Himmelskönigin!

Iasiah Berlin berücksichtigt in seinem Buch über die Russian Thinkers auch die Dichter, Tolstoi natürlich und, für einige vielleicht überraschend, auch Turgenjew, nicht aber Tschechow. Vielleicht war er ihm zu nah und hatte vieles von dem bereits erledigt, was Berlin sich vorgenommen hatte, für Ausgleich zu sorgen und die Einheit des Differenzfeldes zu zeigen. Der Ideengeschichtler lebt nicht zuletzt von seiner Überlegenheit gegenüber den Einseitigkeiten der von ihm behandelten Ideen und ihrer Repräsentanten. Dieser Effekt stellt sich bei Tschechow nicht ein.


Sie sind alle vertreten, da ist Solomon Mojseitsch, ein Steppen-Dobroljubow, einer der бесы Dostojewskis, da ist in der Person Vater Christofors die orthodoxe Kirche Solowjows und wiederum Dostojewskis, da ist das einfache Volk Tolstois und der russischen Populisten, da ist der Adel in Gestalt der Gräfin Dranickaja, und da ist Warlamow der Wollbaron und Kapitalist, der durch die Steppe kreist wie das Kapital in der Welt, kaum je irgendwo zu treffen mit schon leicht Godot-haften Zügen. Kaum jemand wird beurteilt und schon gar nicht verurteilt. Alle haben recht und auch nicht.

Zusammengehalten werden die Steppenlandschaft und die Menschen darin durch das Bewußtsein eines Kindes, des neunjährigen Knaben Georgi, genannt Jegoruschka. Er durchfährt die Steppe, um in der Stadt eine Schule zu besuchen, um an den Ort des Lernens zu gelangen, Lernen, die große Hoffnung der Aufklärer, nicht erloschen für Tschechow, aber auch nicht hell strahlend. Ein neues Leben beginnt für Jegoruschka, aber: Каковa-то будет эта жизнь – wie wird es sein, dieses Leben?

An anderer Stelle heißt es bei Tschechow: Нужно веровать в Вога а если веры нет, то не занимать его места шумихой, а искать, искать, искать, одиноко, один на один со своей совестью - man muß an Gott glauben, und wenn es keinen Glauben gibt, dann soll man Gottes Platz nicht durch Lärm und Getue ersetzen, sondern suchen, suchen, einsam, ganz allein, Auge in Auge mit seinem Gewissen. Wenn man Gott verloren hat, muß man ihn suchen, und wenn er nicht zu finden ist nicht nachlassen zu suchen, bis etwas Glaubwürdiges gefunden ist; das Suchen aber soll, und das ist Tschechows besondere Note, ohne Lärmen vonstatten gehen - anders also als bei Dostojewski oder Tolstoi? Ebenso wenig wie ein eifernder Aufklärer und antireligiöser Eiferer war Tschechow zweifellos ein religiöser Eiferer. Vielleicht läßt er sich als positiv gestimmter Skeptiker verstehen. Geistliche Personen werden in seinen Werken immer mit großer Sympathie gezeichnet, der Vater Christofor in Степь, der Diakon in Дуэль, der Bischof in Архиерей. In jedem Fall allerdings muß einiges zusammenkommen, bevor Tschechow einem Bewohner seiner Erzählungen die Sympathie entzieht.

Wird denken an Sebald, in dessen Büchern Gott nicht mehr anwesend ist, seine Heiligen aber allenthalben zurückgelassen hat, an Sebald, der alles Lärmen sorgfältig ausschließt aus seiner Prosa und ein Gedicht über Tschechows Sterben geschrieben hat:



Ungemein heißes Sommerwetter
gegen Ende des Monats, kein
Hauch in der Luft, reglos
das ferne Stromtal
im schneeweißen Dunst.