Dienstag, 30. März 2010

La douce France

Mme Maigret vint s’asseoir à côté de lui en ayant soin de ne pas le déranger par des questions.

D’aller partout sur place, d'interroger les concièrges dans leur loge, les artisan dans leur atelier, les ménagères dans leur cuisine ou leur salle à manger …


Ähnlich wie bei Nero Wolfe beschränken sich die sogenannten Freuden des Lebens für Jules Maigret im wesentlichen auf das Essen und Trinken, das Bier nimmt bei beiden eine zentrale Stellung ein, bei Wolfe, der sein Haus nicht verläßt, als Flaschenbier, Pression in allen Pariser Brasserien bei Maigret. Im Falle Maigrets kommt natürlich die Pfeife hinzu, besser: sie geht allem vorweg, und obendrein ist er verheiratet.

Auch wer den Prozeß von Emanzipation und Frauenrecht alles in allem gelassen verfolgt, ist verstört von dem beklemmend niedrigen Niveau, das Mme Maigret erreicht hat. Den Vormittag über bereitet sie ein kompliziertes Mittagsmahl vor, das Jules in der Mehrzahl der Fälle dann arbeitsbedingt absagen muß. Am Nachmittag vermutlich Säuberungsarbeiten, und am Abend kann sie einem erschöpften Maigret nur noch die Pantoffeln bereitstellen. Im Sommer verbringt sie einige Wochen bei ihrer Schwester im Elsaß, kein Kinder. Wenn demnächst die Burka aus Gründen der Frauenwürde verboten wird, müßte auch Mme Maigret verboten und die entsprechenden Passagen müßten geschwärzt oder umgearbeitet werden. In der Verfilmung von Saint Fiacre mit Bruno Cremer in der Hauptrolle treffen wir, in der Darstellung von Anne Bellec, auf eine Mme Maigret, die schlecht und recht am rettenden frauenrechtlichen Ufer angelangt ist.

Rex Stout hat beim Detektieren Kopf- und Laufarbeit sauber zwischen Nero Wolfe und Archie Goodwin aufgeteilt, Kommissar Maigret leidet darunter, daß er überhaupt einiges delegieren muß an seine Inspektoren und nicht alles allein machen kann. Er läuft und denkt und vermeidet zielgerichtetes Denken und zielstrebiges Laufen, er brütet an seinem Schreibtisch am Quai des Ofévres und durchstreift die Quartiers. Die Pfeife wird wieder das, was sie bei den Indianern war, ein Kultgerät, die Gedanken werden zu Rauch und umgekehrt, wir erleben die Verwandlung des radikalen Kleinbürgers Maigret in den meditativen Heiligen der Enquête, und in Wahrheit ist es eine ähnliche spirituelle Verwandlung und nicht einige banale Schritte nur auf der breiten Straße der Befreiung, die wir aus Gründen der Gerechtigkeit auch Mme Maigret wünschen würden, eine Verwandlung, die ihr aber vorenthalten bleibt, es sei denn, sie würde alltäglich unbemerkt am Herd stattfinden. Viel spricht nicht dafür, die Heiligen sind von Haus aus einsam und notgedrungen wenige.


Simenons Maigretromane sind sich alle gleich, mehr als hundertundachtzig Seiten, weniger als hundertundneunzig, mehr als fünf Kapitel, weniger als zehn. Auf den ersten zwanzig Seiten scheint es oft, als könne es ein wirklich schönes Buch werden, aber ein wirklich schönes Buch wird es dann nicht. Als kostbares Filtrat aus den sechzig oder siebzig Romanen bleiben uns aber Bild und Flair des alten Paris und des traditionellen Frankreich, unvollkommen und schön, ähnlich dem, das Tati in seinen Filmen gefeiert und vehement verteidigt hat, und dessen Spuren wir auf Reisen auch noch finden, wenn wir nur zu den Augen Simenons herausschauen.

Samstag, 27. März 2010

Die Wahrheit im Kaukasus

Zu Tolstois letzter großer Erzählung, Hadschi Murat, findet man etwa das folgende:

Hadschi Murat erzählt einerseits von der Lage der kaukasischen Bergvölker und von ihrem Widerstand gegen den Zarismus und spielt andererseits am Hofe des Zaren und dem von Schamil, dem Anführer der aufständischen kaukasischen Bergvölker in den Jahren 1834 bis 1859 geführten Krieg. Mit grimmiger Satire wird das Lager Nikolaus' I. und seiner hohen Würdenträger geschildert, während das Lager Schamils zwar kritisch, aber ohne demaskierende Satire gezeigt wird. Mit offenkundiger (dem Leser nicht immer verständlicher) Sympathie ist die Gestalt des Hadschi Murat versehen, einem Stellvertreter Schamils, der zu den Russen überläuft. Wieviel Gutes könnte ein solches Leben, wie es die Person des Hadschi Murat symbolisiert, unter anderen Umständen bringen, würde es nicht sinnlos vernichtet wie jene Tatarendistel, die Metapher und Anregung der Erzählung bildet. Auch aus heutiger Sicht gewinnt diese Erzählung dadurch, daß so unterschiedliche Haltungen zum Krieg gezeigt werden, denn vielen davon begegnen wir in der Gegenwart: Heldenverehrung, Lust am Zerstören, lügnerische Berichte, Verschließen der Augen vor dem Unglück anderer, Verzweiflung, Hinnahme eines auferlegten Schicksals und Bereitschaft zum Opfertod.

Oder auch: Tolstoi beschreibt in Hadschi Murat die Problematik des Gegensatzes von Naturnähe und Zivilisation und gestaltete daraus ein wirkungsreiches Bild. Die blühende Distel, die mit ihrem Widerstand gegen die sie bedrohende Hand des Menschen an die historische Gestalt des kaukasischen Volkshelden Schamyl erinnert und an seinen Gegenspieler Hadschi Murat, wird zum Symbol für die Gegenwehr. Die Erzählung nimmt in einem kaukasischen Bergdorf ihren Anfang, von wo sich die Handlung mehr und mehr bis zum Höhepunkt, einer Szene bei Zar Nikolaus I. in Petersburg, entfernt und schließlich wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Aus der farbenfrohen Darstellung im Schnittpunkt zwischen Morgen- und Abendland ragt Hadschi Murat als urwüchsige heroische Gestalt heraus.

Reicht das hin in seiner offenkundigen Belanglosigkeit, sind wir damit zufrieden? Tolstoi hat sein Leben lang nach Wahrheit gesucht. Als Истина, als Authentizität, als Wahrhaftigkeit eines Menschen, einer Situation, eines gelebten Augenblicks ist sie ihm immer sozusagen in den Schoß gefallen, und wie kein anderer hatte er die Fähigkeit sie vollständig und auf geradem Wege, ohne jede Umschweife in das literarische Werk zu übertragen. Damit allerdings hat die Истина ihren Status nicht eigentlich verändert, so wie an den lebendigen Lebensaugenblick ist sie jetzt an die literarische Umgebung gebunden. Sie muß, außerhalb des literarischen Werkes formuliert, nicht falsch werden, hat aber auch keinerlei Verpflichtung, auf aridem Theorieboden wahr zu bleiben. Ihren Glanz, ihren Zauber, ihre Anmut, ihre Freude wird die Истина im Zuge der Umpflanzung in jedem Fall einbüßen.

Vielleicht war es gerade seine Mühelosigkeit im Umgang mit der Истина, die Tolstoi veranlaßt hat, sich an der Правда, der allgemein formulierten Wahrheit, dem Kategorischen Imperativ festzubeißen, im fortgeschrittenen Alter immer heftiger. Aber schon in Krieg und Frieden und Anna Karenina wird die Истина der Liebe in die Истина und dann sogleich in die Правда des Familienlebens überführt, ihren Zauber, ihre Прелесть, müssen Natascha und Kitty unverzüglich auf dem Altar der Правда opfern.

Die Wahrheitssuche des späten Tolstois war an die Evangelien angelehnt, aber womöglich war er dabei an die falsche Adresse geraten. Es ist sehr die Frage, ob die Gleichnisse, die Jesus erzählt, auf Правда und nicht vielmehr auf Истина aus sind, ob Tolstoi es nicht, ohne es zu wissen, in dieser Beziehung sozusagen mit einem Confrère zu tun hatte. Jedenfalls hat sich Tolstoi bei seiner Wahrheitssuche gründlich verirrt. In einem Brief aus Oktober 1900 an Tschechow schreibt Gorki entsetzt von dem Pack, das er bei einem Besuch in Jasnaja Poljana angetroffen habe. Den ganzen Tag habe er damit verbracht, ungläubig, gleichsam mit offenem Munde diese schäbigen und verlogenen Leute anzustarren. Tolstois neuere Schriften wie Das Sklaventum unserer Zeit, Die Wurzel des Übels oder Töte nicht! kämen ihm vor wie die naiven Ausarbeitungen eines Gymnasiasten. – Gorkis Verehrung für Tolstoi hat das nicht den geringsten Abbruch getan, für ihn, wie auch für Tschechow und eigentlich für alle anderen war Tolstoi der unbestrittene Titan der russischen Erzählliteratur und ein Titan auch im Ringen mit der Wahrheit und dem Leben. Auch nachträglich und selbst heute will dem niemand widersprechen.

Dem Titanen selbst ist nicht verborgen geblieben, daß er sich verirrt hatte, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte. Hadschi Murat ist die heimliche Rückkehr von der Правда zur Истина und sie fällt titanengemäß radikal aus. Die Erzählung eröffnet mit dem ganz und gar heidnischen Bild der naturgemäß moralfreien, nur aus Schönheit und Lebenskraft bestehenden Tatarendistel. Die Erzählung steht dann ganz in der Faszination des ebenso fremden wie authentischen Lebens des Hadschi Murat. Die Authentizität eines Lebens erweist sich für Tolstoi immer in einer Klarheit gegenüber dem Tod, die er in allen denkbaren Spielarten akzeptiert. In Krieg und Frieden ist deutlich die diabolische Faszination zu spüren, die für Pierre Besuchow und damit auch für Tolstoi von Dolochow ausgeht, der mit dem Rücken nach außen im offenen Fenster eines hohen Stockwerks stehend eine Flasche Wodka leert und im Napoleonkrieg dann, degradiert, mit gleich großer Todesverachtung und Unverletzbarkeit kämpft. In Hadschi Murats Leben hat es nur einen Augenblick der Feigheit gegeben und fortan hatte die Scham den Tod besiegt und im Todesmut verschwinden lassen. Man möchte meinen, daß für Tolstoi, aufs Ganze gesehen, die Faszination durch den Opfertod des Gottessohnes die heroischen Formen der Todesbewältigung dann doch noch übertrumpft hat, und das wird auch schon richtig sein. Wie kaum ein anderer der greifbaren Realität verpflichtet, hatte Tolstoi allerdings wenig Gespür für das transzendente Terrain des Christentums. Seine Distel scheint sich wenig von einem Leben nach dem Tode zu versprechen und über Hadschi Murats Jenseitserwartung erfahren wir nichts Inhaltsreiches.

Montag, 1. März 2010

Mit den Händen

Egon Baschke steht, wie er leibt und lebt, mit seinem Mikrophon mitten in Concepción, Chile. Im Hintergrund Gebäudetrümmer, vorne huscht ein Plünderer mit einem wohlgefüllten Alditrolley durch, eine Ananas ganz obenan. Die Menschen nehmen sich, was sie brauchen, die Behörden sind noch weit entfernt, die Lage im Griff zu haben. Egon Baschke übergibt zurück an die Heimat, Petra Gerster kommt in HD-Qualität ins Bild in ihrer wunderschönen, tief dunkelblauen Bluse mit dem so apart gearbeiteten Halsausschnitt. Sie schaut noch eine Weile traurig und beklommen, verspricht zum Thema eine Sondersendung am Abend und leitet über zu Gesundheitsreform und Kopfpauschale.

Der Boden wankte unter den Füßen, alle Wände rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüberstehenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, die gänzliche Zubodenstreckung desselben. Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos eilte er, über Schutt und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte, nach einem der nächsten Tore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb schreckensvoll eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen. Hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände zum Himmel.




Vor allem im Medienbereich ist der Fortschritt mit den Händen zu greifen.