Samstag, 17. April 2010

Zivilgesellschaft

Wer wenig in den Zeitungen liest, ist immer in Gefahr, auf neue Begriffe im gesellschaftlichen Leben erst dann vollends aufmerksam zu werden, wenn sie bereits fest installiert sind, und ihre Anhänger den Eindruck erwecken, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres oder Schöneres. Ein erster ungeleiteter Versuch Zivilgesellschaft zu verstehen führt zu der Einschätzung, es müsse sich wohl um die gesamte Gesellschaft abzüglich Militär, Grenzschutz und Polizei handeln. Das ist, wie sich dann zeigt, nicht richtig, allerdings auch nicht falsch, denn in der Fluchtlinie des Begriffes steht sehr wohl die Erwartung, all das könne, vielleicht schon bald, verzichtbar werden.

Bei Zivilgesellschaft handelt es sich um das bislang letzte Kind der Umstellung vom Goldenen Zeitalter auf Zukunftsutopie. Am Ausgang der frühen naiven Utopieentwürfe der Neuzeit glaubte Hegel triumphal zu verspüren, der Geist habe sich nun genug gewälzt in seinem materiellen Uterus und sei entweder bereits am Ausgang zur Wirklichkeit angelangt oder kurz davor. Marx entdeckte die Regularien des Klassenkampfes und damit die, allerdings nur geringe, Voreiligkeit Hegels. Auch Marx zufolge würde die unterste aller denkbaren Klassen, das Proletariat, per revolutionem schon bald zur Oberfläche vorstoßen und, nach einem kurzen Intermezzo der proletarischen Diktatur, Zustände sich einstellen, die er nicht anders als paradiesisch zu beschreiben vermochte. Nachdem die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für alle erkennbar nicht erwartungskonform verlaufen war, erlebte der Revolutionsgedanke in den sechziger Jahren seine bekannte merkwürdige Neuauflage. Nach Ende des Kalten Krieges dann hatte Fukuyama nichts Eiligeres zu tun, als ein weiteres Mal das Ende der Geschichte auszurufen und seither arbeitet sich die Zivilgesellschaft als die stillere und überlebende Schwester der Revolution beharrlich voran.

Luhmann hat Marx historisch in die Flegeljahre der Soziologie verwiesen, und in der Tat könnte es scheinen, als sei man seither Zeuge eines bizarren Wettlaufs zwischen Utopisten und Soziologen, so als könnten die letzteren dadurch daran gehindert werden, systemische Zwänge und weitere schreckliche Dinge zu entdecken, daß man diese Dinge eiligst abschafft und eine gesellschaftsfreie Gesellschaft herbeiführt. Begonnen hat das ganze vermutlich vor langen, langen Jahren mit der mutigen Umstellung von Ahnenkult auf Erlösung durch das Christentum. Dabei lag der Zukunftspol allerdings für lange Jahrhunderte wohlverwahrt im Transzendenten. Die Hoffnung der Zivilgesellschaft geht dahin, auch auf die Institutionen, die versuchen, den Gedanken der Transzendenz hochzuhalten, samt Militär, Grenzschutz und Polizei schon bald verzichten zu können.