Montag, 21. Juni 2010

Klangfarbe


Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands ist ein in jeder Hinsicht eigenartiges Werk. Wer nur den Titel kennt, ohne sich dem Buch zu nähern, wird dahinter sein Leben lang eine kunsttheoretische Schrift vermuten. Bei der konturlosen Weite, die diese literarische Gattungsbezeichnung sich erobert hat, mag man das Buch einen Roman nennen. Auf wiederum eigenartige Weise scheint dem Werk allerdings zu fehlen, was die Liebhaber des Romangenres vor allem schätzen: die runde Fülle des Lebens.

Das Buch beginnt mit einem langen Blick auf den Pergamonaltar - später sind es dann die Sagrada Família und Angkor Wat - und gewinnt bei der Betrachtung der steinernen Kunstwerke selbst eine steinerne Prägung. Die Figuren scheinen nach Art des Flachreliefs einer riesigen Steinwand aufgesetzt, sie unterscheiden sich nicht nach jung und alt, die Söhne sind wie die Väter, Konfliktlinien jedenfalls verlaufen nicht entlang dieser Grenze. Die Figuren unterscheiden sich ferner kaum nach Mann und Frau, alle werden immer nur beim Nachnamen genannt, Lindbaek, Bischoff und Marcauer, das klingt kein bißchen anders als Heilmann oder Durruti; Hodanns sexualtheoretische Einsichten stellen die unerläßliche Verbindung her zwischen den beiden Abteilungen der Gattung Homo Sapiens. Kafka und Neukrantz werden auf einer Ebene behandelt, obwohl Weiss, der vielleicht nur eine Halbetage unterhalb von Kafka im Turm der Dichter wohnt, der Blick kaum reichen dürfte bis in Neukrantz’ Souterrain. Das Textbild ist so riesig wie monoton, als Satzzeichen sind nur Punkt und Komma zugelassen, alle Sätze scheinen sich auf einer Linie zu bewegen, keine Dialoge, keine direkte Rede, ein Absatz nur alle zehn Seiten: was wir lieben; der Vortrieb aber ist enorm. Das Gerücht, die Lektüre des Buches falle schwer, ist fern von der Wahrheit, man wird befördert fast ohne eigenes Zutun.

Eine Klangfarbe hatte sich eingestellt, berichtet der Icherzähler, die es mir möglich erscheinen ließ, allen Gedanken und Erfahrungen Ausdruck zu geben. Das scheint die übliche Vorstellung auf den Kopf gestellter Verhältnisse zu nähren, der Dichter habe etwas zu sagen und halte Ausschau nach einem geeigneten Wie. In Wahrheit steht am Anfang der künstlerischen Genesis die Klangfarbe oder wie sonst man es nennen will, und es ist die Frage, was dann noch gesagt werden kann. Weiss ist kein lächelnder Dichter, die Klangfarbe der Ästhetik des Widerstands ist unter anderem die des strengen Ernstes, Scherz, Satire, Ironie und in gewissem Sinne auch tiefere Bedeutung sind nicht zugelassen. Die Klangfarbe und nicht das Denkvermögen des Dichters bestimmt die Limitationen der Dichtung.


Weiss verkoppelt auf nicht dagewesene Art die denkbar größten Gegensätze: Kunst und Politik. Der größte Gegensatz ist vielleicht nicht einmal ein fundamentaler, beiden Seiten scheint es um die Verbesserung der Lebensumstände des Homo Sapiens zu gehen. Der Gegensatz ergibt sich aus der falschen Rangordnung, dem Anspruch der Politik auf den Primat. Politik gibt ein eingängiges Orientierungssystem vor, innerhalb dessen sich jeder mit mittlerem Bildungsabschluß leicht bewegen kann. Gerade dadurch werden aber die meisten gehindert, dann noch das weitaus anforderungsreichere Terrain der autonomen Kunst zu betreten.

Die Polis, das Miteianderauskommen, monoton erklärt nach dem Prinzip von oben und unten, ist die große Steinmauer des Buches. Immer wieder versucht sich der Blick zu lösen aus den engen Verhältnissen: Wir sprachen über Geschehnisse, die ein paar Jahrtausende früher über diese Küste hingegangen waren. Immer lag vor uns das Meer, blaugrau, diesig mit dem Rand des Himmels verfließend, zwischen Hainen von Eukalyptus, Zypressen ... – wird aber umgehend zurückgerufen zur Ordnung des Klassenkampfes: Oben entstand der Gedanke der Demokratie, unten war die geschundene Arbeitskraft, abgetrennt von allen Rechten. Und versucht es aufs neue: Tiefebene, Erntende in den Reisfeldern, schmaler Landstreifen zwischen Meer und Binnensee, aufwirbelnder Staub, Bücken über Kanälen und Schleusen, Pinienwälder, Apfelsinenhaine, die Mündung des Jucar, Ketten von Hügeln und Bergen, einbrechende Dunkelheit.

Die Kargheit, die steinerne Wand ist kein Manko des Buches, sondern sein Gegenstand, das Buch weiß von einer Welt hinter der Wand: Der Melancholie, untrennbar von allem Nachdenken ist im Reich des Geistes der Erste Platz angewiesen. Und: Für das, was das Offenkundige überstieg, besaßen wir nur noch kleine Register. Und: Kunst sei gleichbedeutend mit Humanität, denn ohne diese Anteilnahme am Leben, an diesem ständigen Kampf gegen die Selbstaufgabe, ohne diesen Drang, die Situation von immer wieder neuen Gesichtspunkten aus zu erhellen, ließe sich die weitreichende Wirkung der Kunst nicht verstehn. Und: Etwas ungeheuer Aufgeblähtes, worin die Politik willkürlich herrschte. Und: Da war diese Wörterwelt aus Hochgestimmtheit, wie die Politik sie gebrauchte, und die alles aufgezehrt hatte, was einst menschliche Hingabe war.

Die Kunst hat die Politik so eng an die Brust gezogen, und diese jene, daß der Erstickungstod droht. Die Häme der Marxisten, denen sich der Dichter ja ganz offenbar zugehörig sieht, belegt aber beredter als alles andere: Nicht die Kunst ist zu endgültigem Schaden gekommen bei dieser Umklammerung. Ein Kunstwerk nach dem anderen faltet sich auf hinter dem großen Steinwall, Picasso, Goya, Géricault, Menzel, Munch, muß und kann sich rechtfertigen. Daß tiefe Mißtrauen gegen eine Welt aber, die Mühsal und Ekel durch Formen und Farben bezwingt, ist nicht aufzuheben. Wenig nur mindert es dabei den Eindruck, den das Werk hinterläßt, daß ihm die traditionelle Industriearbeiter- und Bauernschaft als Ausgangs- und Endpunkt dient, die uns inzwischen weitgehend aus dem Blickfeld gekommen ist.

Naturgemäß ist das gewaltige Werk mit seinen tausenzweihundert Seiten Umfang von diesen Worten nicht mehr als angetupft. Wer gegen Ende liest von der Hinrichtung Coppis und Heilmanns und eines Dutzend anderer, Männer und Frauen, wird es nicht wieder vergessen. Vor dem Tode gewinnen sie ein volles Leben, die Vornamen werden genannt, das Buch wird zum Mahnmal ihres Lebens, Handels und Sterbens im Widerstand. Charlotte Bischoff überlebt. Sie würde den Schülern erklären, was damals gewesen war. Die Schüler würden vor der großen Gedenktafel aus Marmor stehen, und sie würde versuchen, ihnen etwas von dem deutlich zu machen, was sich hinter den goldenen Namen verbarg. Sie hat es Peter Weiss erklärt für seine Gedenktafel aus schwarzen Lettern, hat ihn, den Jüngeren, deutlich überlebt und ist im hohen Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben. Dem grimmigen, sprachgewaltigen Ernst des Autors, seiner rücksichtlosen Reinheit kann sich auch der nicht verschließen, der den politischen Einsichten, denen er sich offenbar verschrieben hatte, nicht vertraut.


Dienstag, 8. Juni 2010

Thinking Hard and Having Fun


Remember?
No.
Me neither.


Kants Aufforderung, von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen, ist prekär. Die meisten von uns, das muß man eingestehen, können nicht wirklich denken. Die Vorstellung, ein jeder würde mit seinem ureigenen Hämmerchen und zugehörigem Meißel unmittelbar auf die Welt einschlagen, um sich so - der eine vielleicht etwas gröber und die andere vielleicht etwas feiner - sein unverwechselbares Bild von ihr zurechtzuklopfen, ist falsch. Was unsere Köpfe bevölkert, sind vagabundierende Bruchstücke aus den Gedankensystemen der wenigen wirklich Denkenden, nicht selten über zwölf Ecken vermittelt und zur Unkenntlichkeit verstümmelt, Gerümpel, Treibgut angeschwemmt nach den Prinzipien des Zufalls und der eigenen Lebenslage, das ist dann unser Eigenes.


Wer denkend immerhin bis zu diesem Punkt vordringt, zählt schon zur Avantgarde, und er mag auf die Idee verfallen, sich an einen besseren Denker als seinen Leitdenker anzuhängen. Wählt man Luhmann, so hat das gewisse Vorteile. Sein Theoriegebäude ist hinreichend weit zurückgezogen hinterm Damm errichtet, um nicht vom Tagesgeschehen ständig in Gefahr gebracht zu werden. Die ihn nicht verstehen, und das ist die überwältigende Mehrheit, und obendrein gern aus dem Wege haben möchten, behaupten allerdings ständig das Gegenteil. Er gilt als Garant des Funktionierens und seine Theorie als gescheitert, wenn etwas nicht funktioniert. So soll etwa auch die jüngste Finanzkrise seine Arbeiten ein weiteres Mal und endgültig in den Archivkeller verbannt haben, es habe sich gezeigt, daß die uns nährenden Systeme nicht zuverlässig arbeiten. Dabei hatte Luhmann noch zu Lebzeiten – anschließend hatte er dazu dann leider keine Gelegenheit mehr – wiederholt auf die überaus reale Gefahr hingewiesen, daß das Wirtschaftssystem, das primär nicht ein System der Güterproduktion, sondern ein System ununterbrochener Zahlungen ist, schlicht zum Stillstand kommen kann und zwar aufgrund der Unmasse global flottierender Gelder.

Die meisten von uns sind keine Denker und ebensowenig Dichter, ein eigenständiger künstlerischer Blick auf die Welt ist uns versagt. Zur Vorhut gehört schon, wer die Dichter zuverlässig von den Denkern unterscheiden kann und nicht glaubt, die Dichter würden als Lyriker vorgefaßte Gedanken nur noch am Zeilenende mit einem Reim versehen oder, als Epiker, erdachten Figuren in den Mund legen. Wer nach Erkenntnissen zu Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands guggelt, stößt sogleich auf die Seite eines Vereins zur Förderung des marxistischen Pressewesens e.V. aus dem Jahre 1982, die offenbar immer noch als netzwürdig angesehen wird. Dem Dichter wird neben vielem anderen vorgeworfen, daß er sich für Klangfarben interessiert. Daß Musiker nicht ganz ohne Klang und Maler nicht ganz ohne Farbe auskommen, wird man notgedrungen durchgehen lassen, aber ein Wortkünstler, der im gleichen Medium arbeitet, in dem auch die Begriffe entstehen - Begriffe überdies, die, soweit sie als wesentlich gelten können, von Marx bereits sämtlich geklärt wurden – wieso kann einem Wortkünstler noch an Klangfarben gelegen sein?


Wie wird der den Unterschied zwischen Denker und Dichter erläutern, der sich an Sebald als Leitdichter anhängt? Seine Antwort wird darin bestehen, daß er unaufhörlich Kleine Sebaldstücke verfaßt. Er schreibt und schreibt, um für Augenblicke zu glauben, er könne die Welt mit den Augen eines Dichters sehen und wisse, was ein Dichter ist.