Montag, 26. Juli 2010

Catalunya


Die Katalanen haben den Stierkampf untersagt, wir wollen sie dafür weder loben noch tadeln. Die Katalanen sind anders als die restlichen Spanier, das wird deutlich, wenn sie ihren heimischen Tanz, die Sardana, ausführen, der denkbar größte Widerpart zum Flamenco. Die Katalanen sind glücklich darin, schtschastliw tjem, daß sie mit Josep Pla einen Prosaisten der Premiumklasse haben, der praktisch jeden Quadratmeter ihres Landes in einen Satz umgeformt hat.


Plas Gesicht ist bäuerlich, souverän, frei, abweisend und unendlich freundlich. Er gehört zu den Dichtern, bei denen es nach kurzer Zeit nicht mehr gelingt, das Antlitz von den Sätzen zu unterscheiden. Bei You Tube findet man eine Interviewreihe mit dem gleichen Fragensteller, der auch Juan Carlos Onetti befragt hat. Beide, Pla und Onetti, rauchen ohne Unterlaß. Onetti setzt mit ausholender Geste die nächste Zigarette zivilisierter Bauart in Brand, Pla hat ein verbogenes Etwas im rechten Mundwinkel kleben, so als ginge es ihn nichts an, auch dafür lieben wir ihn. Das Gespräch wird in kastilischer Sprache geführt, das ist schade auch für den, der das eine nicht besser versteht als das andere. Plas Gesicht ist das der katalanischen Sprache, das Kastilische hat viele Gesichter.



Montag, 12. Juli 2010

Sancho Pansa

Eine neue Wahrheit über

Die Wahrheit des Sancho Pansa

Sancho Pansa, der sich dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Bereitstellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend und Nachtstunden einen Teufel, dem er später den Namen Don Quijote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemanden schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortungsgefühl dem Don Quijote auf seinen Zügen und hatte und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.



Benjamin hat diese Erzählung als Kafkas bedeutendste angesehen, und das mindeste, was man tun kann, ist, nicht in Wettstreit zu treten mit seiner Deutung, und stattdessen einen Seitenweg einzuschlagen. Es fällt auf, daß Cervantes, dem Nelson Goodman die Denotierbarkeit bescheinigt, nicht mit von der Partie ist, während Don Quijote, dem er sie verweigert, eine überraschende erhält: die des Teufels. Goodman wird entgegnen, alles bliebe beim alten, der Teufel sei seinerseits nicht denotierbar, aber das kann er nun wirklich nicht wissen.

Sancho Pansa wird zum Autor des Don Quijote, schlüpft also in die Rolle des Cervantes, der daraufhin zusammen mit Sancho das Privileg der Denotierbarkeit im Sinne Goodmans ersichtlich eingebüßt hat. Es wird ihn nicht besonders traurig stimmen, und ob die Toten denotierbar sind, ist ohnehin die Frage.

Sancho Pansa habe sich dessen, also seiner Autorenschaft, nie gerühmt, das klingt wie eine Notiz nebenher, die Kafka sich für einen möglichen späteren Gebrauch am Zeilenrand gemacht hat. Bei näherer Betrachtung aber fragt sich in der Tat, warum hätte Sancho sich rühmen sollen, er hat sich schreibend nur selbst geholfen und von seinem Dämon befreit, indem er ihn fiktionalisiert auf Abenteuerreise schickt. Das ist anerkannt als eine mögliche Quelle der Autorenschaft, bei Sebald heißt es im gleichen Sinne, daß ihm die nicht mehr von der gewohnheitsmäßigen Schreibarbeit ausgefüllten Tage ungemein lang wurden, und daß er tatsächlich nicht mehr wußte, wohin sich wenden. Zu rühmen gibt es dabei nichts, denn letztlich hat er wohl nicht gewußt, ob er als Autor und Gefolgsmann seiner Figuren klüger oder verrückter geworden ist. Der Autor kann bereits froh und beruhigt sein, wenn er, wie Don Quijote, niemandem schadet.

Literatur kommt aus Literatur, die heilsame Fiktionalisierung des Dämonen setzt die Bereitstellung einer Menge Ritter- und Räuberromane voraus. Abend- und Nachtstunden: die Stunden des Dämons und die Stunden, in denen Kafka vorzugsweise den seinen bekämpft hat.

Ein freier Mann: eine weitere dieser anscheinend willkürlichen Zuschreibungen aus dem Off, die Kafkas Zeilen Brise und Aufwind verleihen, eine Frische, die sich auch dann nicht verliert, wenn sich das Textstück als semantisch überaus integriert erweist. In der Tat: solange er schreibt und den Dämonen verscheucht, ist der Autor befreit und frei.

Neben Cervantes fehlt eine weitere Person im Bilde, die des Lesers. Ist nicht vorzugsweise er es, der von den verrücktesten Taten eine große und nützliche Unterhaltung hat bis an sein Ende? Cervantes muß sich seinen Platz im Inneren des Sancho Pansa teilen. Sancho ist weder Cervantes noch der Leser, sondern das eigenständige Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers, in dem die verrückten Geschichten sich einrichten müssen, sollen sie denn gelingen.

Die Wahrheit über Sancho Pansa ist, neben vielem anderem, die bündigste Erzählung vom Entstehen und der heilsamen Kraft der Literatur.

Samstag, 10. Juli 2010

Dear Heather

white from the winter


Die Welt ist Selektion, alles kann nur sein, weil anderes nicht ist, das ist überdeutlich gerade im Reich der Formen. Das Etwas kann das Nichts kaum einschüchtern, die Selektivität der viertausendseitigen Recherche du Temps Perdu ist, aufs Ganze gesehen, nur in vernachlässigbarer Weise geringer als die eines Haiku. Eine größere Aufgabe als die, über das zu schreiben, worüber ein Dichter geschrieben hat, wäre es, über das zu schreiben, worüber er nicht geschrieben hat. Dabei kann es nicht um das große Nichts gehen, das schwärzeste der schwarzen Löcher, sondern nur um die kleinen Nihiles an den Rändern des Etwas.

Dear Heather
please walk by me again

with a drink in your hand
and your legs all white
from the winter.


Ein karger Liedtext, auch wenn die Vortragszeit immerhin 3:41 Minuten beträgt, offenbar näher beim Haiku als bei der Recherche, small wonder, Cohen hatte zuvor mehrere Jahre beim und mit dem Meister des Zens Sasaki Roshi verbracht. Das umgebende Nichts ist um ein Unmeßbares aber doch Auffälliges größer als bei Proust, umso größer ist auch die Verlockung, sich in das umgebende Nichts einzuschreiben. Welchen Status des Text es soll man denken. Denkt man sich die wenigen Worte als geschrieben in einem Brief, auf Papier oder elektronisch. Werden sie gesprochen, vielleicht am Telephon. Gelangen diese Worte auf einem dieser Wege zu Heather, wird der Brief abgesandt, murmelt der Homo Lyricus die Worte nur vor sich hin, denkt sie vielleicht nur, wagt kaum sie zu denken, hat ihn aller Mut verlassen. Gegen Ende des Liedvortrags werden einzelne Wort buchstabiert, DawweljuAiEnTiAhr, sucht der Dichter nach Klängen und Tönen, ist das Lied, das wir hören, der erste und ursprüngliche Weg der Übertragung auch an Heather, die wir uns nicht anders als lebendig und schön vorstellen wollen, dear Heather.


Please walk by me again, Bescheidenheit spricht hier, nicht äußerste Nähe wird erfleht, im by allerdings doch eine nicht geringe emotionale Nähe, war das vielleicht schon zu verwegen: with a drink in your hand, Dich vielleicht nicht einmal berühren, der kühle Wein, fast eisig noch vom Winter, könnte verschüttet werden. Die goldene Flüssigkeit im Kristallglas, Emblem des eingefangenen und gezähmten Glücks. You stand there so nice in your clear air of ice.

With your legs all white from the winter – ist die Weißheit der Beine ein besonderer erotischer Thrill, alles nur Verzögerung und Steigerung, und wie würde das passen zu I’m crazy with love but I’m not coming on. Ist der für die Blässe der Beine verantwortliche Winter vorüber oder dauert er noch an. Hat der Sänger dear Heather den ganzen Winter über nicht gesehen. Ist es überhaupt ein kalendarischer Winter, oder eine längere, womöglich eine schlimme Zeit. Ist es der Winter des Lebens. Sind die Haare womöglich weißer noch als die Beine. Der Dichter räumt ein: Well, my friends are gone and my hair is grey, seine Frauen aber bleiben for ever young, und wenn sie gar älter sind als er, der alte Mann, dann nur um den Preis seiner radikalen, perversen Verjüngung:

Women have been
exceptionally kind to my old age.

They bend over the bed
and cover me up
like a baby that is shivering.


Steht der weiße Winter für Reinheit, für Askese, für Leere, für das Nichts, das Nichts nicht nur riesig an den Rändern des Textes, sondern auch als Abgrund in ihm. Heather aber wollen wir uns nicht anders als schön und lebendig vorstellen.


Das ist soweit nur küstennahes Navigieren in Sichtweise der Gestade des Etwas, die Syrenen locken zu Großer Fahrt auf den Meeren des Nichts.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Artes

Blade Runner



Die Künste sind auf die Sinne angewiesen, die Musik auf das Ohr, Malerei, Bildhauerei und Architektur auf die Augen, Tanz auf das Auge oder, sofern mit Musik unterlegt, auf Auge und Ohr, Theater und Film auf Auge und Ohr. Geschmack und Geruch, die sich aus der gleichen Quelle speisen sollen, werden die Koch- oder auch Eßkunst zugeordnet, aber nicht alle sind vom hohen Rang dieser Kunstform überzeugt. Die Sinnesdaten gelangen ins Hirn und werden dort nach der Überzeugung der Konstruktivisten nicht etwa nur entgegengenommen, sondern recht eigentlich erst hergestellt. Diese Frage soll hier auf sich beruhen.


Was ist mit der Literatur? Das Auge ist zuständig, wird man sagen, man liest mit den Augen, aber Literatur ist ein Begriff aus einer späten Phase, zuvor wurde gesprochen oder auch gesungen. Literarische Hörbücher rücken vor, man muß nicht mehr lesen, und Robert Dylan ist bereits mehrfach für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht worden, das wäre ihm als reinem Textdichter nicht widerfahren. Die Erfahrung von Literatur als Kunst ist weder eine des Auges noch des Ohres. Kann man vielleicht sagen, daß bei Schöner Literatur Ohr oder Auge eine zwar notwendige darüber hinaus aber nicht wichtige Zubringerfunktion haben, da, anders als bei den anderen Kunstformen und anders auch als bei anderen Texten, das Hirn selbst als Sinnesorgan genutzt wird? Das Hirn schaltet um auf einen anderen, wahrnehmenden Modus des Vestehens. Die Stille der Buchstaben scheint dabei dem Lärm des Ohres denn doch vorzuziehen zu sein.


Die Kunstformen sollen ineinander verwandelt werden. Die Musik scheint gegenüber dieser Zumutung weitgehend sicher. Sie kann hinzugezogen werden als Tanz-, Film oder Opermusik, unterliegt aber keiner Metamorphose. Einige, die es wissen wollen, behaupten allerdings, die tiefste Erfahrung der Musik ergebe sich beim stummen Lesen der Partitur. Das wäre dann zwar keine Verwandlung der Musik in Literatur - anders als die notierten bedeutungslosen Klänge können die notierten Wörter die Bedeutungen nicht abschütteln - aber doch eine erhebliche Annäherung an sie und das Hirn würde ein weiteres Mal zum Sinnesorgan. - Auch die Koch- oder Eßkunst scheint auf der sicheren Seite, sie kann in Film, Theater und Literatur thematisiert werden, aber das ist nicht das gleiche wie Umwandlung, und was die Mimen tatsächlich essen, weiß ohnehin niemand, auch wenn sie die Augen rollen in gespielten Entzücken. Peter Weiss und Sebald haben gezeigt, wie sich Werke der bildenden Kunst in Literatur verwandeln lassen, die häufigste Metamorphose aber ist wohl die der Verfilmung. Nach unserem Ansatz würde dabei eine Kunstform, die das Hirn von der bloßen materiellen Zuführung abgesehen unmittelbar als Sinnesorgan nutzt, in eine verwandelt, die Auge und Ohr vorschaltet.


Blade Runner
ist alles in allem ein schlichtes Buch, das Hirn arbeitet wie gewohnt als denkendes Hirn, wenig angestrengt überdies, und auch bei denen, die über den Umschaltmechanismus verfügen, kaum je unmittelbar als Sinnesorgan - manchmal allerdings doch. Blade Runner ist zutiefst deprimierend und insofern ein gutes Buch. Der Autor, Philip K. Dick, wird als Pulp-Fiction Kafka bezeichnet, aber was Kafka im steilen Winkel eines Satzes erledigt, dafür benötigt Dick aufwendige thematische Konstruktionen. Am eindrücklichsten vielleicht das Motiv der Tiere, die nur noch in Form seltener Zuchtexemplare als Pets verfügbar sind. Das nach wie vor gültige Knappheitsgesetz der Ökonomie hat den Wert der Tiere ins Unermeßliche steigen lassen. Ein wahrhaft lebendiger Strauß kostet dreißigtausend Dollar, ein elekronischer nur achthundert. Die Haltung eines lebendigen Tieres ist zum Statussymbol schlechthin geworden.



Am besten sollten nur Bücher Kategorie der Kategorie Blade Runner verfilmt werden, nicht eine Metamorphose von Kunstformen findet dann statt, sondern die übliche Verwandlung von Material in Kunst. Literatur als Kunstform unmittelbar des Hirns wird durch Übertragung in eine visuelle Kunstform gewissermaßen zurückbefördert. Es ist schwer zu sehen, wie eine visuelle Barke an die Stelle von Kafkas Prosabarke mit dem Jäger Gracchus darin treten könnte.


Ridley Scotts Film Blade Runner spricht man den Kunstcharakter nicht ab, konstatiert vielmehr, daß er, ungehemmt durch die literarische Vorlage, sich frei entfalten kann. Der Film entwirft Bilder, die das Hirn aus den normalen Bahnen werfen. Wir sehen ausschließlich eine artifizielle, vom Menschen erzeugte Welt, konkret soll es sich um Los Angeles handeln. Es gibt keinen Baum, keinen Strauch, keinen Grashalm, nur Innenräume, Straßen enger noch und geschlossener als die Innenräume, eine totale technische Ummantelung, der Himmel, falls er, selten genug, überhaupt in den Blick kommt, ist wie eine Ausdünstung der Bauten, es regnet ohne Unterlaß, ein letzter Rest von Natur, wenn man so will. Die klaustrophobische Wirkung ist überwältigend. Die Menschen sind eingesperrt, verknäult, pliziert, repliziert, verdoppelt, künstlich erzeugte Replikanten, die nur durch aufwendige Verfahren von den wahren Menschen zu unterscheiden und nach ihrer Erkennung auszuschalten sind, das ist das moralische Problem, von dem der Film sich an der Storyoberfläche leiten läßt.


In der Originalversion des Films gelingt Deckard und Rachael die Flucht, und Rachaels Lebenszeit ist nicht begrenzt wie die der anderen Replikanten. Im Director’s Cut bleibt offen, ob die Flucht gelingt und ob Rachael leben wird. Mehr ist eigentlich nicht glaubhaft. Man hofft aber sehnlichst, die Flucht möge gelingen und wir könnten mit den beiden entfliehen zurück in unsere Welt, so wie sie immerhin noch ist. Jeder Dichter, jeder Künstler schenkt uns die Welt neu, und für die Kunst ist es nicht die entscheidende Frage, ob diese Welt verlockend oder schrecklich ist.


Mittwoch, 7. Juli 2010

Portbou

Angeli nuovi e vecchi

Holy are the souls lost in your unnaming

Den Deutschen ist Erinnerung befohlen, das trifft die, die ohnehin gern zurückschauen, weniger hart als die, denen die Aktualität eigentlich ausreicht. Bei Inszenierungen kollektiven Erinnerns schaut man in die Gesichter und die Augen der Einzelnen und fragt sich, wie es wohl um sie bestellt ist in dieser Hinsicht.



Auch die Kunst mit ihren exemplarischen Blicken zurück und nach vorn ist verwirrt. Es besteht die Gefahr, daß das befohlene Erinnern den Rezipienten Erinnerungswillen und genuine Erinnerungslust verdeckt. Wer etwa den Dichter Sebald zum prime speaker of the Holocaust erklärt, verkennt, daß der den entsetzlichen Anlaß für den Blick zurück so wenig benötigte, wie Proust ihn hatte und haben konnte zu seiner Zeit.

Im Suhrkampverlag ist der Band Profanes Leben, Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung erschienen. Titel und Untertitel treffen offenbar genau den Scheitelpunkt zwischen dem Blick zurück und dem Blick nach vorn in unserer Zeit. Der Herausgeber stellt die Aufsatzsammlung in den Zusammenhang eines turn to oder auch return of religion. Daß sich die Religion so einfach nicht verabschieden läßt, wie viele erwartet hatten, liegt auf der Hand, die Erinnerung an sie ist übermächtig und steckt aller Kultur buchstäblich in den Gliedern. Noch nie zuvor wohl hat es eine Gesellschaft gegeben, die sich säkular will und als solche beschreibt, selbst die Pirahās, vielleicht vierhundert Leute insgesamt, mit einem zeitlosen, weder zurück noch nach vorn schauenden Leben am Maici, einem Nebenfluß des Marmelos, dieser wiederum ein Hauptnebenfluß des Madeira, der seinerseits in den Amazonas fließt, würden sich nicht als säkular verstehen, wenn sie einen derartigen Begriff denn bilden könnten, sie sehen Geister, wenn ihnen danach ist.

Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Diese Sätze Walter Benjamins befinden sich an den Passagen, seinem Gedenkort nahe beim Friedhof der kleinen katalanischen Grenzstadt Portbou. Die junge, unlängst erst vermählte katalanische, in New York ansässige Philosophin und Architekturphilosophin hat ihren Beitrag in dem Benjaminbuch dem von Dani Karavan entworfenen Gedenkort gewidmet. Die Erinnerung an Benjamin führt sie zusammen mit der Bearbeitung des Themas der Erinnerung bei Benjamin und der Gestaltung von Erinnerung durch Dani Karavan in den Passagen.

Die erste von drei Passagen und das Hauptelement des Kunstwerks ist eine lange schmale Treppe. Passagen ist ein Kunstwerk mit viel Raum um sich, wenn man aber den Korridor betritt, gibt es lediglich Raum für einen, höchstens zwei Besucher. Man bewegt sich zu auf das helle Ende der Treppe mit ihren siebzig Stufen und sieht, isoliert von der hinter einem liegenden äußeren Welt, wirbelndes Wasser, an manchen Tagen wild schäumende Wellen unter der pfeifenden Tramuntana, an anderen ruhiges Schaukeln der Wellen oder auch eine vollständig stille, glatte See. Das Individuum gilt als die letzte verbleibende metaphysische Instanz, als letztes Sacrum, das Göttliche sei in uns, heißt es, da aber wird ihm, dem Göttlichen, klaustrophobisch zumute, und unversehens springt es uns an von draußen. Man möchte sich ins Meer stürzen, wenn nicht die Glaswand wäre, die es unmöglich macht, die Glaswand mit ihren lichtdurchlässigen Buchstaben in fünf Sprachen, Deutsch, Katalanisch, Spanisch, Französisch und Englisch: És una tasca més àrdua honorar la memòria dels éssers anòmims que la de les persones cèlebres. La construcció històrica es consagra a la memòria dels qui no tenen nom.


Die Geschichtsschreibung muß neue Wege finden, weg von den namentragenden Siegern und hin zur Erinnerung an die Namenlosen, sie muß vom Monumentalismus und von der gemächlichen Simplizität des Historismus loskommen und zu einem systemischen Verständnis finden. Benjamin war noch auf ein frühes Format, das des Historischen Materialismus als Orientierungsrahmen angewiesen.

Portbou ist eine Grenz- und Bahnhofsstadt, und um ein Haar hätte sie Eingang gefunden in Sebalds Bahnhofsbuch Austerlitz. Am Ende des Buches macht sich der Titelheld vom Pariser Austerlitzbahnhof, eine Spur seines verschollenen Vaters verfolgend, auf den Weg in die Pyrenäen, allerdings nicht nach Portbou, sondern nach Gurs in den Pyrénées-Atlantiques. Zum einen hat Selysses Spanien auch bei anderer Gelegenheit nicht betreten, und zum anderen vermeidet er vielleicht ausdrücklich die Begegnung mit Benjamin, sie hätte in einer mit den Proportionen dieses Buches nicht vereinbaren Weise aufwendig ausfallen müssen als eine Begegnung unter Freunden, denn Benjamins, Paul Klee nachgezeichneter Angelus Novus, der, zurückblickend, nur eine einzige Katastrophe sieht, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor sie Füße schleudert, der verweilen möchte, die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen, ist auch der Engel Sebalds, ist die Verwandlung eines der alten Engel über der Szenerie des Unheils, wie er sie bei Giotto gefunden hat.


Sebalds unausgeführtes Korsikaprojekt stellen wir uns als eine Art mediterrane Ringe des Saturns vor, in der Phantasie haben wir uns von Napoleon schon nach Rußland tragen lassen, warum nicht auch nach Spanien, da war er auch, und in diesem Kontext hätte Selysses sehr wohl in Portbou Benjamin treffen können. Benjamin hätte sich dabei, seinem eigenen Wunsch entsprechend, den Namenlosen angenähert. Die Berühmten, Kafka, Stendhal, Rousseau, Conrad, Chateaubriand und viele andere, haben in der Begegnung mit Selysses natürlich ihren Namen noch nicht verloren, aber auch die Namenlosen wie Paul Bereyter oder Ambros Adelwarth sind nicht ohne Namen, und das sie ehrende Erinnern fällt um nichts geringer aus. Ein umfassendes Erinnern kann nur Vorbereitung sein auf ein umfassendes Vergessen und Vergessen aller Namen, das der Preis ist für die Aufnahme in die Ewigkeit.

Der Blick zurück und der Blick nach vorn werden überlagert von dem die Ewigkeit suchenden Blick. Der Kunst und vielleicht auch schon der Sprache ist die Sehnsucht nach Ewigkeit inhärent, umso mehr, als die Theologie nur noch ein schwacher Vertreter des Ewigen ist. Sebalds profane Welt ist voller sakraler Splitter - auch jüdischer: der Tempelbau, Ci vediamo a Gerusalemme, die Gebetsformel des observanten Judentums -, voller Erinnerung an die Heiligen und dicht besiedelt von seltsamen Heiligen, vom Dichter gerade noch erinnert, sich selbst aber bereits vergessend, auswandernd wie Benjamin über Portbou hinaus.