Mittwoch, 19. Oktober 2011

In die Stadt

Ich war mit dem Fahrrad auf dem Weg in die Stadt. Schon seit langer Zeit verlief der Weg parallel zur Bahnstrecke, irgendwann würde es zu viel werden, und ich würde umsteigen. Auf den wenigen Streckenteilen, die ich mit den Autos teilen mußte, ließ ich ihnen immer die Vorfahrt, ob sie ihnen zukam oder nicht, das verringerte zusätzlich meinen Vorsprung gegenüber der aus der Ferne wohl schon herannahenden Bahn. Nun querte der Radweg die Gleise und bog ab ins Feld. Es schien, als ob er in einem weiten Rechtbogen, durch einen kleinen Ort hindurch, nur eine Ansammlung weniger Häuser, schon bald wieder zum Schienenstrang zurückführen würde, es schien auch, als ob sich in nicht allzu großer Ferne erste Anzeichen der Stadt andeuten würde, beides war aber nicht gewiß. Ich spürte die Verlockung der Felder, zögerte nur einen kurzen Augenblick und trat wieder an. Nun begann das Abenteuer.

Freitag, 2. September 2011

Nach dem Rennen

Als ich S. am Montagmorgen auf dem Schulhof unweit des Pausenkiosks stehen sah, wirkte er verloren, nichts war zu spüren vom gestrigen Triumph in den Ardennen. Er stand allein, niemand hatte sich bisher getraut, ihn anzusprechen. Wie mochte er zurechtkommen mit seinem zweigeteilten Leben, mit dem Internatsalltag unter der Woche. Mich hatte er nicht gesehen, ich stand in seinem Rücken. Vielleicht, so ging mir, sein Halbprofil vor Augen, durch den Sinn, vielleicht war es falsch, von einem zweigeteilten Leben zu sprechen, vielleicht gab es noch ein weiteres, ein Drittes, das ihm das wichtigste war, und von dem wir allesamt nichts wußten, der Inhalt seiner Einsamkeit. Ohne daß er sein Schweigen aufgegeben hätte, betraten wir gemeinsam das Klassenzimmer.

Montag, 25. Juli 2011

Zweifel an der Hölle

Nicht sei schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen, heißt es, und tatsächlich sehnten sich Adam und Eva schon nach kurzer heraus aus dem Paradies. Denkt man an Dante, fallen sogleich die verschiedensten Höllenszenen ein aber kaum etwas aus dem Bereich der ewigen Seligkeit. Dem unbekannten Meister unseres Höllenbildes aber mag durch den Kopf gegangen sein, daß es in der unteren Region unserer Welt vielleicht gar nicht so sehr anders aussieht, daß eine Reihe von schlimmen Tagen kaum schwerer oder kaum weniger leicht zu ertragen ist als die endlose Reihe der guten.
Dem Sünder in der Mitte des Schmor- und Feuertopfes, mit einem Mönch gemäßen Kopfbedeckung, ist jedenfalls deutlich anzusehen, daß er jede Lust an der immerwährenden Tortur verloren hat und entschlossen ist, nicht mehr mitzumachen, auszusteigen, notfalls ohne den Topf zu verlassen.
Die Dame rechts unten fragt uns, was der Aufwand soll, wenn ihr strahlender Leib dabei nicht den geringsten Schaden nimmt,
und ihre in der linken oberen Ecke aufgehängten Schwestern, haben ihre Qual längst in eine körperliche Übung umgewandelt, wie man sie tagtäglich in endlos vielen sogenannten Sportstudios antreffen kann. Aber auch bei den Teufeln und Teufelinnen, die in drastischer Darstellung die uns alle erwartende Pein abschildern sollen, scheinen erste Zweifel am Sinn ihres Tuns aufzukommen. Sie fragen sich, ob sie, die ohne Pause für ein gleichmäßig hohes Niveau der Qualen verantwortlich sind, am Ende nicht das schlechteste Los gezogen haben.

Mittwoch, 20. Juli 2011

En el rincón de una iglesia

Mis convicciones son las mismas que las de la anciana que reza en el rincón de una iglesia.
Meine Überzeugungen unterscheiden sich nicht von denen der alten Frau, die im dunklen Winkel einer Kirche sitzt und betet.

Wir sind in den Innenraum einer großen lateinamerikanischen Barockkirche versetzt. Das Kirchenschiff wölbt sich hoch, wenn der Blick nach oben geht. Ein Gottesdienst wird zu dieser Zeit nicht gefeiert, eine Messe wird nicht gelesen, Worte sind nicht zu hören, wohl auch kein Gesang, jedenfalls nimmt die alte Frau dergleichen nicht wahr, es ist still um sie. Die Frau sitzt allein in ihrer Ecke, falls noch weitere Menschen in der Kirche sind, sieht sie sie nicht, die Entfernungen in der Kirche sind groß. Es ist dunkel, einige Kerzen scheinen, das Tageslicht dringt nur schwach durch die Fenster. Die Wahrheit des Glaubens ist im Gemäuer, in den Säulen, in den Bildwerken. Die Bildwerke sind nicht von Fra Angelico oder Grünewald, die Frau, wenn sie aufschaut, stört sich daran nicht, die Bilder sind ihr nicht weniger schön und eindringlich, die unbekannten Maler haben sich nicht weniger gemüht. Die Frau ist alt, nicht so alt wie der Glaube, aber alt genug, um die Kraft des Überkommenen zu spüren. Es mag eine Frau aus dem Volk sein oder aus dem gehobenen Bürgertum, gebildet oder ohne Schulabschluß, das ist unerheblich. Wichtig ist dem Verfasser der Scholien zu einem inbegriffenen Text ihre Weiblichkeit. Es geht ihm, dessen männlicher Blick immer wieder abschweift, nicht um die Gleichheit der Geschlechter, ihre Auswechselbarkeit, bewahre. Es geht ihm um das Denken hinter der Beschlossenheit des weiblichen Auges, wie Pisanello sie angedeutet hat bei der Principessa durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze. Die Überzeugungen der alten Frau sind tief aber ohne scharfe Umrisse. Ihr Beten, das sind vielleicht gemurmelte Worte, die sie selbst kaum versteht, vielleicht ist es aber auch ein wortloser Zustand, das Große Gebet.

Donnerstag, 7. Juli 2011

In der großen Stadt

Um die Freunde zu besuchen, waren wir leichtfertig mit dem Auto angereist, obwohl die große Stadt jenseits des Ozeans lag. Schon während der langen Fahrt waren uns immer wieder die zu erwartenden Parkschwierigkeiten durch den Sinn gegangen, nun erwiesen sie sich als schier unüberwindlich. Alle Stellplätze waren besetzt, reserviert oder so irrsinnig im Preis, daß man an sie nicht einmal denken konnte. Die Häuserblocks schrumpften zunächst kaum wahrnehmbar, dann zusehends, viele Häuser verschwanden spurlos, die Parkflächen wuchsen im gleichen Maß und erreichten schließlich ungeheuere Dimensionen, ohne daß sich aber an der Situation irgend etwas geändert hätte. Schließlich standen nur noch vereinzelte Bauten, vor allem Hotels, inmitten riesiger so gut wie leerer Parkflächen da, aus den wenigen abgestellten Fahrzeugen trugen Glückliche Koffer und andere Gepäckstücke in die Herberge. Über den Rand der Parkfläche blickte man hinunter in ein tiefes bewaldetes Tal, im Talgrund eine Aue, ein kleiner Fluß in der Mitte. Eine hinabführende Autostraße war nicht zu sehen, und wo war die Garantie, daß wir dort unten unseren Wagen hätten abstellen können. Ja, wenn man ein Mohawk sein und durch die Wälder streifen könnte.

Sonntag, 5. Juni 2011

Bild einer Ausstellung


Im Katalog kommt Goethe zu Wort: Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen. Der Großmeister fährt dann beschwichtigend fort: Doch indem wir uns darin bemühen, findet sich für den Verstand so mancher Gewinn, der dem ausübenden Vermögen auch wieder zugute kommt. Unabhängig vom versprochenen Gewinn kann man sich fragen, was wir denn wohl vom Unaussprechlichen wüßten, wenn wir es nicht fortwährend immer wieder besprechen würden, und zum anderen sind zumindest in der Wortkunst Sprache und Unaussprechliches ununterscheidbar eins. Wer einen künstlerischen Text als eine Abfolge von Mitteilungen und Aussagen liest, hat ihn, wenn der Text seinen Kunstanspruch denn zu Recht erhebt, nicht verstanden.

Peter Weiss, Dichter und Maler, bringt in seiner Ästhetik des Widerstands Werke verschiedener großer Maler und Künstler im Stein, Gaudí, Breughel, Picasso, van Gogh, wortwörtlich zur Sprache, zum Sprechen. Auch Sebald spricht nicht über die Bildwerke, sondern läßt Gemälde von Grünewald, Pisanello, Rembrandt Giotto, Valckenborch Geschichten erzählen, nicht unbedingt das, was der Maler uns sagen oder vorführen will, wenn er denn solche Absichten hatte, sondern etwas, das das Bild ihm und uns ins Ohr flüstert, ob der Maler, ganz zu schweigen von uns, nun zuhört oder nicht, eine Kleinigkeit vielleicht nur wie die kaum auszumachende stürzende Dame im kanariengelben Kleid bei Valckenborch, wie der von Proust entdeckte Mauerfleck auf dem Bild Vermeers - aber gibt es denn Kleinigkeiten in der Kunst.

Bei Dieter Rübsaamen gehen Bild und Sprache durchweg die engste Verbindung ein. Die Betitelung der Bilder ist oft überbordend: Ein Satz nur ... Verdeckter Tanz hinter hehren Worten. Offenbart der Künstler hier souverän den Bildgehalt, oder ist das Bild verbal übergeflossen, ein Wasserschaden sozusagen, den es zu beheben gilt. Vielleicht auch erwartet der Maler Frost und lockt uns auf Glatteis. Die Bildfläche selbst ist beschriftet: Der Satz sagt nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist. Wir können diesen Satz bedenken, so wie Wittgenstein selbst seine Sätze immer wieder bedacht und auch verworfen hat, wir können aber auch darauf verzichten. Der Satz ist mit allen Anzeichen der Sachbeschädigung eingeritzt in eine dunkle Fläche. Beim Wort Bild schreckt der Maler, zu Recht oder zu Unrecht, auf, und die Beschädigung, die Schramme, wird zu einer blutroten Wunde, die sich nicht wieder schließen will.

Wie sähe das Bild aus, wäre es nicht beschädigt und verletzt worden von den Worten, vielleicht eine monochrome graue Fläche. So wie das Bild ist, sähen wir dann verdeckt hinter den Worten nicht, wie verheißen, einen Tanz, sondern eine Verzerrung im Schmerz. Oder wir sehen beides, denn wenn der Tanz Ausdruck der Lust ist, so kann, wie wir wissen, der Schmerz ohne weiteres Lust werden und der Tanz seinerseits Totentanz. Ein Bildwerk, das die Worte in sich aufgenommen hat, tut sich mit der Erzählung seiner Geschichten vielleicht besonders schwer, fordert aber um so hartnäckiger auf zur Entzifferung.

Dienstag, 31. Mai 2011

Hohes Laufgitter

Wir gingen zu zweit durch ein hohes, auf Metallpfeiler und -streben gesetztes Laufgitter, das die ganze Stadt zu durchqueren schien. Endlich waren wir ungestört in unserem Gespräch und konnten einander berichten, was sich zugetragen hatte in der langen Zeit seit unserem letzten Zusammentreffen. Bald aber kamen wir an eine Stelle, an der das Laufgitter unterbrochen war. Als ich hinüberhangelte auf die andere Seite, sah ich, daß unter der Lücke im Steg auch das tragende Untergestell fehlte, nur Leere bis zum Asphalt. Sie konnte mir nicht nachfolgen, und auch mir fehlte der Mut für den Weg zurück. Während wir noch ratlos dastanden, ein jeder auf seiner Seite, sahen wir einen Jungen eine Treppenleiter hinabeilen, die uns nicht aufgefallen war. Es waren bei genauerem Hinsehen zwei Treppenleitern, eine auf jeder Seite, die uns mühelos nach unten trugen. Wir vergaßen, die Treppe jenseits der Lücke gemeinsam wieder aufzusteigen, um unseren Weg im Hochgitter fortzusetzen, und waren bald wieder umringt von den anderen und ihren unschuldigen Worten. Unser Gespräch konnten wir nicht fortführen.

Mittwoch, 4. Mai 2011

Freude

Wohl jeder, der zuhörte, als die Kanzlerin Freude über die Tötung Bin Ladens bekundete, wird sich gefragt haben, war der Wortlaut unbedacht oder kalkuliert. Vielleicht ging es der Kanzlerin um eine Diskussion nicht ganz so flach und lustlos wie seinerzeit bei den Ceaucescus. Hoch schlagen die Wellen aber auch dieses Mal nicht. Vertreter der Kirchen schlagen gemäßigt freudlose Formulierungsvarianten vor, Atheisten bekennen sich zu christlichen Werten und bezeugen so ein weiteres Mal die Herkunft der Aufklärung aus dem Evangelium. Vertreter des totalen Rechtsstaats seien hier auf ästhetische Bedenken hingewiesen. Kein ernstzunehmender Verfasser von Kriminalromanen wird darauf verzichten, wenn schon nicht die Haupt-, so doch eine Nebenrolle mit einem Verfechter des kurzen Instanzenwegs zu besetzen. Was wären die schwedischen Filme vom Kommissar Beck ohne den Assistenten Gunvald Larsson – sie wären grauenhaft. In Hollywood sind erste Verfilmungen des Lebenswegs Osama bin Ladens angelaufen. Billy the Kid ist mit jeder weiteren Verfilmung nur edler und liebenswerter geworden. Denkbar, daß auf diesem langen Weg auch der Outlaw Bin Laden noch zum amerikanischer Nationalhelden läutert.

Sonntag, 3. April 2011

Jed Le Strange

Nicht ohne darüber irritiert zu sein, fühlt sich der Sebaldianer in Houellebcques Buch La carte et le territoire zunehmend daheim. Die erzählerische Oberflächegestaltung und die ablaufenden Erzählprogramme der beiden Autoren sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können, ähnlich aber ist das ihnen zugrundeliegende und sie generierende Weltverhältnis. Das wird vollends deutlich, wenn sich der Protagonist Jed Martin am Ende in Sebalds säkularen Paradeheiligen Le Strange verwandelt.

Auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Erfolges als bildender Künstler Jed décida de déménager pour s’installer dans l’ancienne maison de ses grands-parents dans la Creuse. Er arrondiert das Grundstück durch Zukauf auf einen Umfang von nicht weniger als siebenhundert Hektar, zäunt das fortan ungenutzte Gelände ein und baut eine Straße hindurch, die es ihm erlaubt, ohne Berührung mit der umwohnenden Dorfbevölkerung einen einigermaßen entfernten Supermarkt zu erreichen. Indem sie ihm die biologische Existenz ermöglicht, tritt die Straße bei ihm gleichsam an die Stelle von Le Stranges Haushälterin. Am großelterlichen Haus selbst wird nichts an-, ausgebaut oder renoviert. Die Kosten für den Ausbau seiner Einsamkeit beziffern sich auf 8 Millionen €, nach den im Roman zuvor genannten Zahlen ein Drittel seines Vermögens. Jed Martin ist damit der gleichen Vermögenskategorie zuzuordnen wie der Major Le Strange. Bei den Preisen, die seine Bilder erzielen, könnte er sein Vermögen im übrigen beliebig steigern, unternimmt in dieser Richtung aber nichts. Anders als ihre heiligen Vorläufer denken die beiden Eremiten bei Eintritt in die Einsiedelei nicht an ein Wegschenken ihres Vermögens, die Barmherzigkeit ist den Sozialsystemen gewichen, deren melioristisches Element ihnen fremd ist. Wie die Heiligen haben sie verstanden, daß der Mensch nicht für die Welt gemacht ist, haben aber nicht mehr die Möglichkeit, zu Gott zu flüchten. Le Strange mimt in gewissem Sinne noch die Heiligkeit, indem er sich auf seinen Gelände mal als der heilige Franz und dann wieder als der heilige Hieronymus darstellt. Wenn der Mensch aber sich nicht mehr aus der Welt zu Gott flüchten kann, wird augenblicklich klar, daß, noch weniger als die Welt zum ihm, er zur Welt paßt. Bei Sebald flammen immer wieder Vernichtungsvisionen auf, die den Menschen von der Erdoberfläche tilgen, Jed Martin gibt seine späten Lebensjahrzehnte an ein unter Ausschluß der Öffentlichkeit betriebenes Kunstprojekt, qui constitue sans nul doute la tentative la plus aboutie, dans l’art occidental, pour représenter le point de vue végétal sur le monde. Das Buch schließt mit dem Satz: Puis tout se calme, il n’y a plus que les herbes agitées par le vent. Le triomphe de la végétation est total.

Fremde, von niemandem gewollt, das ist, soweit absehbar, unsere Lebenslage. Allons, je n'ai pas eu une mauvaise vie, bilanziert Jed Martin am Ende. Sebald hätte ihm beigepflichtet, über Wyndham Le Strange wissen wir zu wenig, als daß wir in dieser Hinsicht für ihn sprechen könnten.

Freitag, 25. März 2011

Ein großer Dichter


Die Dichter bewohnen in ihrem Turm unterschiedliche Etagen, Handke, um ein Beispiel zu nennen, wohnt auf keinen Fall im selben Geschoß wie Kafka. Im jeweiligen Geschoß aber läßt sich die Größe der Dichter nicht weiter vergleichen, nach welchem Maßstab wollte man Kafka gegen Proust ausmessen. Fragt man, desungeachtet, nach dem größten Dichter spanischer Sprache, kann man allerdings ohne allzu großes Risiko auf Julio Cortázar wetten, er war Einsdreiundneunzig groß. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß zu seinen Lebzeiten die Menschen noch um einiges kleiner waren als heute, inflationsbereinigt mißt Cortázar Zweimeterdrei. Das belegt, nebenbei gesagt, auch, daß die Decken der Wohnungen in den Obergeschossen des Dichterturms nicht niedrig gezogen sein können. Wollte man freilich die Größe der Dichter an ihrer Lebensspanne messen, müßte Cortázar dem von ihm geschätzen Juan Filloy weichen, Filloy war Hundertundsechs, als der Tod ihn schneckengleich erschlich.










Freitag, 25. Februar 2011

Archimedes

Kafka, der angreifbarste aller Menschen, durch eine rätselhafte Wandlung aber immer gänzlich unangreifbar in seinen Sätzen, notiert: Er hat den Archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich ausgenützt, offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden dürfen.
Den Archimedischen Punkt haben wir 1789 gefunden, Liberté, Égalité, Sororité, kurz: Menschenrecht, wie kann das sich gegen uns wenden. Mancher, der sich in seinem näheren Umfeld umschaut, wird die biologische Reproduktionsrate europäischer Frauen auf Nullkommaeins veranschlagen und sich dann über den offiziellen Wert Einskommadrei freuen, in Rußland allerdings nur knapp Eins noch und in der Ukraine schon darunter, Populationen, die dahinschmelzen wie Joghurtbutter in der Julisonne. Ohne Belang wird man rufen, wir haben den Archimedischen Punkt gefunden, und der liebe Gott, an den wir naturgemäß nicht glauben, muß ihn besetzt halten und reihum weiterreichen. Der liebe Gott aber, von dem einige meinen, er habe nur wenig Liebes an sich, wird, seine eigene Existenz für den Augenblick postulierend, darauf verweisen, daß Er der einzige logisch unangreifbare und Kafkas Diktum nicht unterworfene Archimedische Punkt ist, und er wird sein allermüdestes Lächeln lächeln.

Sonntag, 23. Januar 2011

Säulenheilige

Nicht, daß sie dauerhafte Säulenheilige werden wollten, die beiden, er und seine Tochter, wollten lediglich die Möglichkeit der Säulenheiligkeit erkunden. Die Säulen ragten nicht allzu sehr empor, kurze stämmige Säulen mit einer anständigen Standplatte. Er hatte auch bereits einen Plan, die Säulenheiligkeit zu entschärfen, ihr den Mythos, ja recht eigentlich die Heiligkeit zu nehmen und sie als möglichen Teil einer jeglichen bürgerlichen Existenz zu erweisen. Gleich zu Beginn gab es eine kleine Schwierigkeit, die Aufzugwinde, mit der ich die Nahrung auffahren sollte, versagte den Dienst. Das kühlte den Säulenheiligkeitsmut kein bißchen. Es war ein Scherz und die Tiefe der Bedeutung schwer zu ermessen.