Donnerstag, 14. November 2013

The Immanent Frame

Taylor geht dem epochaler Wandel nach von einer Welt um das Jahr 1500, in der es so gut wie unmöglich war, glaubenslos zu sein, zum nahezu entgegengesetzten Zustand um 2000. Er liefert eine großangelegte sektorale Gesellschaftsbeschreibung ohne eigentliche Gesellschaftstheorie, so daß es nicht immer einfach ist, den Autor inmitten der Fülle seiner Gegenstände ausfindig zu machen. In seinem Buch Sources of the Self, das auch bereits umfänglich auf die Säkularisierung eingeht, räumt er wiederholt ein, daß hinter den von ihm behandelten Phänomenen vermutlich harte, kausalitätsverdächtige Faktoren stehen, deren Berücksichtigung größere Distanz erlauben  würde, für deren Analyse er sich aber nicht gerüstet sieht.
Im fünfzehnten Kapitel von A Secular Age erreicht Taylor das Ziel seiner Zeitreise, das Leben im Immanenten Rahmen, in einer Welt ohne Transzendenz und damit, geht man davon aus, daß Religionen nach der Unterscheidung von immanent und transzendent kodiert sind, in einer tendenziell glaubenslosen Welt. Beim immanenten Rahmen handelt es sich um ein historisch erzeugtes, inzwischen dominantes Vorstellungsmuster, in das ein Großteil, wenn nicht die Mehrzahl der heute Lebenden hineingeboren wurde. Es ist schwer, sich gegen ein derartiges als dominant vorgefundenes, nicht unmittelbar nach der Entbindung hinterfragbares Muster zu wehren, gleichzeitig aber ist das Muster als vorgefundenes der Natur der Natur der Sache nach immer schon veraltet. Entstanden ist das Vorstellungsmuster des immanenten Rahmens in der triumphalen Frühphase des rational-wissenschaftlichen Denkens, das sich vor einigermaßen schlichte Aufgaben gestellt wähnte. Die vollständige Erklärung der physikalischen Welt wurde ohne große Anstrengungen für die allernächste Zukunft erwartet, die sogenannte Einrichtung einer gerechten Welt ein war dann nur noch ein Klacks.

Die moderne Wissenschaft zeigt sich inzwischen weit offen zur Transzendenz, allerdings nicht unbedingt zu einer, in der sich die abrahamitischen Religionen noch wohlfühlen können. Von Niels Bohr stammt der Satz, wer behaupte, über die Quantentheorie nachdenken zu können, ohne verrückt zu werden, habe sie nicht verstanden, den Narren in Christo entsprechen mithin der Verrückten in der Physik. Gödel hat, wenn man so will, die Unmöglichkeit der Immanenz bewiesen, Gegenstand der Evolutionstheorie ist eine permanent sich selbst transzendierenden Immanenz, die Gläubigen sollten sich eher mit ihr verbünden als sie auf der Grundlage einer engen Bibelauslegung zu bekämpfen; nicht auszuschließen - nach dem Bild, das die Menschheit momentan abgibt, allerdings unwahrscheinlich -, daß uns auf evolutionärem Wege irgendwann Flügel wachsen und wir zu Engeln werden. Niklas Luhmann läßt öfters durchblicken, daß er den Namensvetter aus Kues an der Mosel, aus der Zeit noch vor 1500, als Weltenerklärer über Habermas stellt &c.

Angestoßen von den Erfolgen des rational-wissenschaftlichen Denkens ist eine neue moralische und geistige Disposition entstanden. Sie gründet auf einer wie auch immer verstandenen Mündigkeit des Menschen, und ihre Jünger erleben sich in einer vom Menschen selbst gestaltete Sozietät focussed on human ends: human welfare, human rights, human flourishing, equality between human beings geleitet von der Idee des mutual benefit. Aus avancierter wissenschaftlicher, hier: soziologischer Sicht ist diese Disposition, verstanden als Zustandsbeschreibung oder reale Zielerwartung, nicht weniger abwegig als der viel gescholtene Glaube an die Jungfrauengeburt. Demokratie ist eine Regierungstechnik und nicht der Name des heiligen Geistes, der im neuzeitlichen Gewand angetreten wäre, die chiliastische Erwartung der Christenheit zu erfüllen, die durchschnittlich drei voll- oder halbautomatischen Feuerwaffen in amerikanischen Haushalten dienen erkennbar nicht dem mutual benefit, und das Florieren der Menschheit kann, wo es denn stattfindet, vielfach als Sedierung durch Konsum unter Inkaufnahme kollateraler Umweltvernichtung interpretiert werden.

Taylor rüttelt seiner Art entsprechend verhaltener an den geschlossenen Türen der sich einigelnden Immanenz. Seine Geduld, jedweder Position ihr Recht zu geben und keiner das ganze Recht, ist gleichermaßen bemerkens- wie bewundernswert. Anders als hier geschehen, vermeidet er jede Polemik. Unnachsichtig ist er allerdings gegenüber der von ihm so genannten Subtraktionstheorie, wonach sich der immanente Rahmen zwanglos durch Wegstreichen überflüssigen Glaubensdekors ergeben hätte. Ebensowenig akzeptiert er die Ersatztheorie, die mit Kants pompösem Austritt aus der Unmündigkeit etwas völlig Neues, zuvor Unbekanntes anbrechen sieht. Stattdessen sieht er eine komplizierte, auf verschiedenen Ebenen stattfindende Umformung der Disposition 1500 in die Disposition 2000. Eben das erlaubt ihm, allen ihr Recht einzuräumen, denen, die sich nicht gerührt haben, denen, die sich ganz im immanenten Rahmen eingerichtet haben, und denen, die auf einer der vielen Zwischenstufen verharren, vor allem aber auch dem großen Heer der Neutralen, die sich selbst weder als gläubig noch als dezidiert ungläubig sehen.

Der immanente Rahmen ist weder die leuchtende Wahrheit jenseits fehlgeleiteten Aberglaubens noch die Wahrheit als schale Neige nach dem verklungenen Fest der Religionen. Bei der Gegenüberstellung der beiden Positionen, der immanent-transzendenten von 1500 und der immanenten von 2000, gibt es keinen Sieger und keinen Verlierer, so wie es der Fall sein müßte, wenn 2000 einfach die von allem Übel gereinigte Fassung 1500 wäre. Im Fazit ist das Leben im immanenten Rahmen nicht nachweislich gescheiter als das in einer transzendent ergänzten Welt. Dabei berücksichtigt Taylor noch nicht einmal das wort- und argumentationslos in den Bildwerken Giottos und anderer und in der Musik Bachs und anderer verwahrte unvergleichliche christliche Erbe, das dem Gezänk Schweigen gebietet. Cioran hat eingestanden, daß Bach uns den Tod Gottes vergessen läßt, und Sebald fragt sich und uns, ob die weißen Flügel der Engel Giottos mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde nicht das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können.

Sonntag, 10. November 2013

Säkularisierung

In seinem monumentalen, von ihm selbst immer wieder angesichts der Größe der Aufgabe als bei weitem zu schmal empfundenen Werk zeichnet Charles Taylor den Prozeß der Säkularisierung im Zeitraum von 1500 bis 2000 nach. Während um 1500 ein glaubenloses Leben so gut wie undenkbar war, sind in unserer Zeit die Anhänger eines exklusiven, gottfreien Humanismus in der Überzahl. Es ist aber nicht einfach die Ablösung eines Zustands durch einen anderen, currents swirl in different directions, es gibt inzwischen zahlreiche Formen des Glaubens und nicht weniger Formen des Unglaubens und dazwischen eine große neutral zone, a kind of no-man’s-land. 500 Jahre, nach unserem heutigen Kenntnisstand nur ein Wimpernschlag im Auge des Herrn, nach traditioneller Berechnung, die das Alter der Welt auf nur wenige Tausend Jahre veranschlagte, allerdings eine beträchtliche Spanne und in jedem Fall, wie es scheint, Zeit genug, den Herrn aus dem Auge zu verlieren.
Der Prozeß der Säkularisierung umfaßt eine Reihe von Komponenten. Da ist die bereits von Max Weber ins Spiel gebrachte Entzauberung der Welt. Im Jahre 1500 führten Geister, Hexen, Engel u.a. noch ein reales Leben, heute sind sie aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Die Individuen, die dem Zugriff der übernatürlichen Kräfte schutzlos ausgeliefert waren, sind jetzt durch die Gewohnheit rationalen Denkens bestens gepolstert (buffered). Neben der unablässig ablaufenden physikalischen Zeit gab es die Hohe Zeit, die als Abglanz der Ewigkeit an den Festtagen der Christenheit spürbar wurde. Niemand, der heute in der Adventszeit durch das auf Konsum getrimmte, dudelnde Innere der Stadt geht, spürt noch den Hauch des Ewigen. Der Mensch hatte eine privilegierte Stellung in einem von Gott auf seine Belange hin geordneten Kosmos, heute schaut er in die gnadenlose Raum- und Zeitweite des Universums. Diese und andere Veränderungen haben die Glaubenswelt aus ihrer als unverrückbar erscheinenden Verankerung gehoben.
Nach der üblichen Erklärung hat das in der Neuzeit aufkommende und sie seither bestimmende wissenschaftlich-rationale Denken das Denken in Glaubenskategorien gleichsam verscheucht. Diese Art der historischen Nacherzählung ist Taylor zufolge nicht falsch, aber eindeutig zu dünn. Säkularisierung bedeutet nicht unmittelbar Abkehr von der Religion, sondern zunächst eine graduelle Abkehr der Religion von spezifischen, auf das Jenseits gerichteten Lebensformen, wie dem Mönchstum, hin zum Saeculum, zu einem innerweltlich gelebten Glauben. Im Deismus gingen das religiöse und das rationale Denken eine eigenartige Verbindung ein. Gott verzichtete fortan auf unmittelbare Eingriffe in das Weltgeschehen, blieb aber greifbar in dem auf ihn zurückgehenden vernünftigen Design der Welt, das von der korrespondierenden menschlichen Vernunft entschlüsselt werden kann. In diesem letztlich labilen Verhältnis zeichnet sich aber bereits ab, daß der Glaube in Zukunft nicht mehr auf die Vernunft, die Vernunft im Rahmen eines exklusiven Humanismus aber sehr wohl auf den Glauben verzichten kann. Allerdings kann auch der exklusive, gottlose Humanismus in seiner spezifischen europäischen, für den Kanadier Taylor: in seiner nordatlantischen Ausprägung seine Geburt aus dem Geist des Christentums nicht verhehlen: A moral temper to which it seems obvious that our major concern must be our dealings with others, in justice and benevolence; and these dealings must be on the level of equality.
Wenn dies die den nordatlantischen Raum offiziell dominierende Einstellung sein mag, so ist sie es sicher nicht in unbestrittener Weise. Für jemanden, der sich im Wegenetz Romantik, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Foucault voranbewegt hat, wird sie lachhaft, wenn sie mehr sein will als die nüchterne Grundlage politischen Handelns und beansprucht, den Sinnbezirk bis zum Horizont auszufüllen. Auch für den Glauben ist die einseitige Bindung an einen optimistischen Humanismus nicht gesund. Die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, vom Einzug in die strahlende Ewigkeit auf der einen und vom Höllenverdammnis auf der anderen Seite offered, for all ist faults, an articulation of the dark side of creation. Simply negating it, as many of us modern Christians are tempted to do, leaves a vacuum. Or it leaves an unbelievably and childishly benign picture, which cannot but provoke people either to unbelief, or to a return to an hyper-Augustinian mode of faith, unless it leads to a recovery of the mystery of the Cruifixion, of world-healing through the suffering of the God-man.

Taylor betont, daß er sich nicht im Rahmen einer soziologischen Theorie, sondern im Feld sozialer Einbildung (social imaginary) bewegt, in dem, was normale Menschen als ihre soziale Umgebung erleben. Die Unterscheidung erinnert ohne weiteres an Luhmanns Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Mit Semantik (social imaginary) beschäftigt sich Luhmann allerdings nur zum Zweck und zum Beleg seiner Theorie. Da für ihn Gesellschaft ausschließlich aus Kommunikation (und nicht etwa aus Menschen) besteht, ist gleichzeitig ein scharfer Unterschied zwischen Semantik und Theorie nicht auszumachen, auch Theorie ist Semantik, allerdings in einer sehr speziellen und extremen, bei Taylor fehlenden Form. In dieser Sichtweise entfällt auch das Pingpong zwischen Hegel und Marx, die Frage also, ob nun das Bewußtsein (Semantik/social imaginary) das Sein (Gesellschaftsstruktur) bestimmt oder umgekehrt, die Unterscheidung selbst ist obsolet. Dem Luhmannadepten geht es bei der Lektüre Taylors wie einem bislang allein auf die Klasse der Wirbeltiere spezialisierten Zoologen, der mit einer Studie über das Leben der Tintenfische beauftragt wurde. Schon bald aber kann er die Begeisterung vieler seiner Kollegen für diese wundersamen Tiere verstehen.

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Unter dem Farn

Auch unsererseits unterwegs im Wald - unbeschwert und grundlos, wie im Tanz, es läßt sich nicht mehr sagen, wer mit von der Partie war -, sahen wir ihn, wie er im Schutz der hohen Bäume unter dem Farn mit einem sichelartiges Messer Wurzel und Kräuter ausgräbt. Als er sich aufrichtet und zu uns herüberschaut, eine gelinde Überraschung: es ist Martin Walser. Das heraufziehende Unwetter würde schrecklich sein. Wir bieten ihm Unterschlupf in unserer Hütte an.








Donnerstag, 30. Mai 2013

Städtebilder

Die untergegangene Sowjetunion ist verwahrt in ihrer Enzyklopädie. Die Bilder der Städte erwecken unsere Sehnsucht, wie alles vergangene Leben, an dem wir nicht teilhaben konnten.

Alma Ata
Amiens
Andischan
Archangelsk
Batumi
Beslan
Biarritz 
Bucharest
Drogobytsch
Jelgava
Jenakijewo
Leninabad
Megri
Parakar
Pensa
Plowdiw
Rjasan
Sofija 
Tbilissi
Warschawa
Wiljnjus
Wologda

Dienstag, 14. Mai 2013

Fragen des Stils

In einer Rezension vom 27. April 2013 in der FR ist zu lesen: Michon ist ein fabelhafter Stilist, durchaus auf der Suche nach dem perfekten, flaubertschen Ausdruck für die äußere, vor allem jedoch der inneren Wirklichkeit seiner Figuren. Immer aber, wenn der Stil nichts auszurichten vermag, wenn der Wohlklang der Worte zu verpuffen droht, weil sie der existenziellen Situation nicht beikommen, zeigt sich eine Neigung zum Archaischen in Michons Prosa.
Der in diesen Zeilen erscheinende Begriff von Stil ist gewöhnungsbedürftig. Stil wäre eine Schönwettervorrichtung, die weichen muß, wenn es ernst wird und Sturm aufkommt. Bei Michon müßten nach dieser Lesart zwei Schichten der Prosa festzustellen sein, eine stilhafte und eine stillose; eine entsprechende Feststellung läßt sich aus eigener Kraft nicht treffen. Der Rezensent gibt allerdings einen Hinweis, was bei Michon in der Krisensituation an die Stelle des Stils tritt: eine Neigung zum Archaischen. Sofern Stil vordringlich an sprachlichen Merkmalen festzumachen ist, könnte man an ein Ausweichen ins Patois denken oder an ein Zurückgreifen auf ältere Zustände des Französischen, ähnlich wie Brian Ó Nualláin an einer Stelle des Béal Bocht vom Neuirischen ins Mittelirische wechselt; nichts dergleichen aber ist festzustellen bei Michon. Il plut pendant tout septembre: sollen wir glauben, Michon, der fabelhafter Stilist, habe aufgrund der andauernd schlechten Wetterlage in Castelnau auf Stil ganz verzichten müssen?

Alles spricht dafür, daß der vorgeschlagene Stilbegriff, auch bei intensivem Bemühen, nicht gewöhnungsfähig und in sein Gegenteil zu verkehren ist. Stil tritt überhaupt erst auf, wenn es ernst wird, wenn es Dinge zu sagen gilt, die sich nicht sagen lassen, wenn es sich, wie der Theoretiker formuliert, um Operationen im Medium des Wahrnehmbaren oder Anschaulichen handelt, die, auch und gerade dann, wenn es um Wortkunst, um Dichtung geht, die übliche Sinnleitung der Sprache nicht in Anspruch nehmen. Stil ist die übergreifende, einem Ausdruckszwang entspringende, in Wortwahl, Satzbau, Motivik und Thematik eingezeichnete künstlerische Formentscheidung. Nach dieser Begriffskorrektur läßt sich bestätigen: Michon ist ein fabelhafter Stilist.

Wenn, nach seiner Einschätzung, Flauberts Stillektionen nur teilweise befolgt werden konnten, so bietet der Rezensent doch weitere Orientierungspunkte an: Stellen Sie sich eine Figur von Céline in der Provinz vor. Einen Icherzähler wie bei Gombrowicz, der umherrennt und den Spuren seiner Erregung folgt. – Die Anweisung läßt sich nur schwer beherzigen, anderen Lesern wären die beiden genannten Autoren eher nicht in den Sinn gekommen. Zum besseren Verständnis Michons kommt aber noch ein weiteres, diesmal negatives Wegezeichen ins Spiel: Wer Michon vor fünfzehn Jahren schon gelesen hat, fiel gewiß weniger heftig auf Houellebecq herein. – Auch das stimmt nachdenklich. Wieso ist Houellebecq kein Autor, den man mehr oder weniger schätzen oder auch ablehnen kann, sondern einer, auf den man notwendig hereinfällt, es sei denn, Michon stellt sich warnend in den Weg. Es handelt sich um zwei französische, in französischer Sprache schreibende Prosaautoren, beide offenbar in besonderer Weise dem Tabak zugetan, weitere Ähnlichkeiten sind auf den ersten Blick nicht festzustellen. Wenn es allerdings nicht mehr als zwei französische Autoren gäbe, Houellebecq und Michon, und man müßte sich für einen entscheiden, dann, und insofern hat der Rezensent in einem tieferen Sinne Recht, bestünden gute Gründe, sich für Michon zu entscheiden.

Dienstag, 23. April 2013

El que hem menjat


 
Wittgensteins Einlassung, ihm sei egal, was er esse, wenn es nur immer das gleiche sei, spaltet die Erzählwelt. Vor allem die Südländer wollen in ihrer Mehrzahl dem Philosophen nicht folgen. Bei Montalban sind, wenn die Erinnerung nicht täuscht, dem Erzählablauf gar Kochrezepte eingefügt. Paduras Held Mario Conde erholt sich am besten beim gemeinsamen Verzehr der Mahlzeiten, die die Mutter seines Freundes Flaco zubereitet. In Josep Plas Prosa zählen die Mahlzeiten nicht nur in El que hem menjat zu den Protagonisten. Chandlers Held hingegen, Wittgenstein deutlich näher, trinkt und raucht den Tag über, wenn er Festes zu sich nimmt, dann in der Regel zähe Hamburger und geschmacklose Tomaten. Altman hat in seiner Verfilmung des Long Goodbye diese Attitüde noch einmal erheblich gesteigert. Der Film beginnt mit einer langen Sequenz, in der Marlowe vergeblich versucht, seine Katze zu füttern. Das Tier ist von der Werbung verdorben und will nur das Dosenfutter eines bestimmten Herstellers fressen, das sich aber nicht auftreiben läßt. Die Katze bleibt ungesättigt, Marlowe selbst raucht ohne jede Pause und trinkt dazu hinreichend, ausschließlich geistige Nahrung also. Zum Essen angeboten wird ihm in dem fast zweistündigen Film einzig eine Dörrpflaume, und die verschwindet nach einer kurzen Bißprobe nicht in der Mundhöhle, sondern in der Reverstasche seines Sakkos. Sebalds Detektiv nimmt eine Mittelstellung ein, er beginnt wie Josep Pla und endet meist wie Marlowe. Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. – Alles in allem aber ist Sebald auf der Seite Wittgensteins, seinen Helden Paul Bereyter hat nie jemand etwas essen sehen, und tatsächlich könnte man ihn auf den beigegebenen Photos für Kafkas Hungerkünstler halten. Aurach zieht das betont schlechte Essen im Wadi Halfa allem anderen vor.

In Dostojewskis Dämonen haben zwei Nichtessensszenen einen prominenten Platz. Einmal wird zur unrechten Zeit Essen gereicht, und einmal wird es zur unrechten Zeit vorenthalten. Für Stawrogins Besuch in der NACHT hat der Kapitän Lebjadkin einen Imbiß vorbereitet, undenkbar aber, daß Stawrogin zugreifen und wir ihm beim Essen zuschauen würden; ebenso undenkbar wie im Fall der verschiedenen Geistesmenschen Bernhards, der seine Wittgensteinnähe in ihrer nahrungsspezifischen Ausprägung in den Billigessern verdeutlicht hat. Eine Stawrogin in mancher Hinsicht nahestehende Figur in Sebald ist Cosmo Solomon. Er teilt mit ihm die reiche Herkunft, die Kühnheit und Unbesiegbarkeit, das Unbefriedigtsein, das exzentrische Verhalten – das wörtlich genommene Herumführen an der Nase oder der Biß ins Ohr im Falle von Stawrogin, das berittene Betreten eines Luxushotels im Falle des Cosmo Solomon -, den destruktiven und autodestruktiven Zug. Sämtliche Einladungen zu Diners schlägt Cosmo aus und speist sozusagen nur rein pragmatisch in der Gesellschaft seines Dieners und Freundes Adelwarth.

Die Dämonen erhalten ihre Sonderstellung im Werk Dostojewskis dadurch, daß alle Worte Anton Lawrentewitsch G., dem sogenannten Chronisten des Geschehens, in den Mund gelegt sind. Tatsächlich findet er für kurze Strecken immer wieder zum trockenen Chronikstil zurück, orchestriert in Wahrheit aber mit äußerster Kunstfertigkeit den von fortwährend sich überbietenden Skandalen geprägten Ablauf. Mal ist er bei Gesprächen im kleinsten Kreis dabei, und wenn er nicht dabei ist, kennt er gleichwohl alle Einzelheiten, mal läßt er die Bevölkerung der Gouvernementstadt nach der Art des griechischen Chors agieren. Dabei befreit sich die Tragödie nach und nach von der zunächst ganz ud gar komödienhaften Inszenierung. Höhepunkt der komödienhaften Entwicklung ist die von langer Hand geplante, doppelteilige, aus einer Lesesoireé und einem anschließenden Ball bestehende Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten gealterter Gouvernanten. Rückblickend wird es als schwerer Planungsfehler angesehen, daß das zunächst geplante, im exorbitant hohen Eintrittspreis inbegriffene Buffet im Sinne der vom Erlös der Veranstaltung begünstigten Gouvernanten gestrichen wurde. Wochen zuvor hatte bei einer als Geburtstagsfeier getarnten Sitzung der Fortschrittsfreunde der Umstand, daß nur Tee gereicht wurde, noch als Symbol des nüchtern-heiligen Ernstes der Sache gegolten, nun aber hatte man es mit einer größeren und gemischten Menge mit anderen Bedürfnissen zu tun. Angesichts der vielfältigen und noch sorgfältiger als der Prasdnik selbst geplanten Sabotageakte hätte das Buffet aber wohl nur eine sehr relative Entspannung leisten können.
Mit dem Ende der Festveranstaltung ist auch die Komödie am Ende, schon der Ruin der Lembkes läßt sich schließlich nicht mehr nur mit Schadenfreude verfolgen. Es folgt eine Dezimierung des Personals nach dem Maße Shakespeares. Lebjadkin, dessen Schwester und zugleich Stawrogins Ehefrau, Lisa Drosdowa, Schatow, Kirillow, Fedka Katorschny und Stawrogin selbst müssen auf gewaltsame Weise dahin. Stepan Werchowenski, der ebenso liebenswerte wie unerträgliche, und Schatows Frau Marja sterben nicht gewaltsam, aber doch in Folge der wüsten Ereignisse. Es stirbt auch Marja Schatowas neugeborenes Kind. Wir erleben die beiden Mörder, jeden für sich, bei einer einsamen Mahlzeit, zunächst Pjotr Werchowenski, der, auf dem Weg zu Kirillow, um den zugesagten Suizid einzufordern, in aller Ruhe einkehrt, um sich zu stärken; und dann Fedka, den Sträfling, der die Essensreste schon beiseite geschoben hat und sich mit der Wodkaflasche beschäftigt, bevor er Werchowenski gerechterweise bewußtlos schlägt. Nur die Mörder essen, darüber kann man ins Grübeln geraten. Als Werchowenski Kirillow in seiner letzten Stunde noch einmal besucht, bittet er sich ein Hühnchen aus, das dieser sich bereitet aber nicht verzehrt hat und nicht mehr verzehren wird. Ist das dies- oder jenseits von Wittgenstein?

Ein Säkulum nach Dostojewskis Arbeit an den Dämonen stellte sich das Jahr 1968 ein mit seinem Rückgriff auf gesellschaftsphilosophische Ansätze des neunzehnten Jahrhunderts. Dem einen oder anderen Literaturfreund wird Dostojewskis Buch als Verständnisfolie für die ablaufenden Ereignisse und das Binnenleben einer revolutionären Zelle gedient haben. Eine Dekade zuvor bereits hatte Camus die Besy als Les Possédés in Erinnerung gerufen, nachdem er wiederum eine Dekade zurück La Peste mit einem Chronisten nach Dostojewskis Vorbild ausgestattet hatten. Der Besuch von Feinschmeckerlokalen ist eine der hauptsächlichen Beschäftigungen der von der Pest in der Stadt Oran Eingeschlossenen.