Dienstag, 23. April 2013

El que hem menjat


 
Wittgensteins Einlassung, ihm sei egal, was er esse, wenn es nur immer das gleiche sei, spaltet die Erzählwelt. Vor allem die Südländer wollen in ihrer Mehrzahl dem Philosophen nicht folgen. Bei Montalban sind, wenn die Erinnerung nicht täuscht, dem Erzählablauf gar Kochrezepte eingefügt. Paduras Held Mario Conde erholt sich am besten beim gemeinsamen Verzehr der Mahlzeiten, die die Mutter seines Freundes Flaco zubereitet. In Josep Plas Prosa zählen die Mahlzeiten nicht nur in El que hem menjat zu den Protagonisten. Chandlers Held hingegen, Wittgenstein deutlich näher, trinkt und raucht den Tag über, wenn er Festes zu sich nimmt, dann in der Regel zähe Hamburger und geschmacklose Tomaten. Altman hat in seiner Verfilmung des Long Goodbye diese Attitüde noch einmal erheblich gesteigert. Der Film beginnt mit einer langen Sequenz, in der Marlowe vergeblich versucht, seine Katze zu füttern. Das Tier ist von der Werbung verdorben und will nur das Dosenfutter eines bestimmten Herstellers fressen, das sich aber nicht auftreiben läßt. Die Katze bleibt ungesättigt, Marlowe selbst raucht ohne jede Pause und trinkt dazu hinreichend, ausschließlich geistige Nahrung also. Zum Essen angeboten wird ihm in dem fast zweistündigen Film einzig eine Dörrpflaume, und die verschwindet nach einer kurzen Bißprobe nicht in der Mundhöhle, sondern in der Reverstasche seines Sakkos. Sebalds Detektiv nimmt eine Mittelstellung ein, er beginnt wie Josep Pla und endet meist wie Marlowe. Ich weiß nicht, wie ich mir in den fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. – Alles in allem aber ist Sebald auf der Seite Wittgensteins, seinen Helden Paul Bereyter hat nie jemand etwas essen sehen, und tatsächlich könnte man ihn auf den beigegebenen Photos für Kafkas Hungerkünstler halten. Aurach zieht das betont schlechte Essen im Wadi Halfa allem anderen vor.

In Dostojewskis Dämonen haben zwei Nichtessensszenen einen prominenten Platz. Einmal wird zur unrechten Zeit Essen gereicht, und einmal wird es zur unrechten Zeit vorenthalten. Für Stawrogins Besuch in der NACHT hat der Kapitän Lebjadkin einen Imbiß vorbereitet, undenkbar aber, daß Stawrogin zugreifen und wir ihm beim Essen zuschauen würden; ebenso undenkbar wie im Fall der verschiedenen Geistesmenschen Bernhards, der seine Wittgensteinnähe in ihrer nahrungsspezifischen Ausprägung in den Billigessern verdeutlicht hat. Eine Stawrogin in mancher Hinsicht nahestehende Figur in Sebald ist Cosmo Solomon. Er teilt mit ihm die reiche Herkunft, die Kühnheit und Unbesiegbarkeit, das Unbefriedigtsein, das exzentrische Verhalten – das wörtlich genommene Herumführen an der Nase oder der Biß ins Ohr im Falle von Stawrogin, das berittene Betreten eines Luxushotels im Falle des Cosmo Solomon -, den destruktiven und autodestruktiven Zug. Sämtliche Einladungen zu Diners schlägt Cosmo aus und speist sozusagen nur rein pragmatisch in der Gesellschaft seines Dieners und Freundes Adelwarth.

Die Dämonen erhalten ihre Sonderstellung im Werk Dostojewskis dadurch, daß alle Worte Anton Lawrentewitsch G., dem sogenannten Chronisten des Geschehens, in den Mund gelegt sind. Tatsächlich findet er für kurze Strecken immer wieder zum trockenen Chronikstil zurück, orchestriert in Wahrheit aber mit äußerster Kunstfertigkeit den von fortwährend sich überbietenden Skandalen geprägten Ablauf. Mal ist er bei Gesprächen im kleinsten Kreis dabei, und wenn er nicht dabei ist, kennt er gleichwohl alle Einzelheiten, mal läßt er die Bevölkerung der Gouvernementstadt nach der Art des griechischen Chors agieren. Dabei befreit sich die Tragödie nach und nach von der zunächst ganz ud gar komödienhaften Inszenierung. Höhepunkt der komödienhaften Entwicklung ist die von langer Hand geplante, doppelteilige, aus einer Lesesoireé und einem anschließenden Ball bestehende Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten gealterter Gouvernanten. Rückblickend wird es als schwerer Planungsfehler angesehen, daß das zunächst geplante, im exorbitant hohen Eintrittspreis inbegriffene Buffet im Sinne der vom Erlös der Veranstaltung begünstigten Gouvernanten gestrichen wurde. Wochen zuvor hatte bei einer als Geburtstagsfeier getarnten Sitzung der Fortschrittsfreunde der Umstand, daß nur Tee gereicht wurde, noch als Symbol des nüchtern-heiligen Ernstes der Sache gegolten, nun aber hatte man es mit einer größeren und gemischten Menge mit anderen Bedürfnissen zu tun. Angesichts der vielfältigen und noch sorgfältiger als der Prasdnik selbst geplanten Sabotageakte hätte das Buffet aber wohl nur eine sehr relative Entspannung leisten können.
Mit dem Ende der Festveranstaltung ist auch die Komödie am Ende, schon der Ruin der Lembkes läßt sich schließlich nicht mehr nur mit Schadenfreude verfolgen. Es folgt eine Dezimierung des Personals nach dem Maße Shakespeares. Lebjadkin, dessen Schwester und zugleich Stawrogins Ehefrau, Lisa Drosdowa, Schatow, Kirillow, Fedka Katorschny und Stawrogin selbst müssen auf gewaltsame Weise dahin. Stepan Werchowenski, der ebenso liebenswerte wie unerträgliche, und Schatows Frau Marja sterben nicht gewaltsam, aber doch in Folge der wüsten Ereignisse. Es stirbt auch Marja Schatowas neugeborenes Kind. Wir erleben die beiden Mörder, jeden für sich, bei einer einsamen Mahlzeit, zunächst Pjotr Werchowenski, der, auf dem Weg zu Kirillow, um den zugesagten Suizid einzufordern, in aller Ruhe einkehrt, um sich zu stärken; und dann Fedka, den Sträfling, der die Essensreste schon beiseite geschoben hat und sich mit der Wodkaflasche beschäftigt, bevor er Werchowenski gerechterweise bewußtlos schlägt. Nur die Mörder essen, darüber kann man ins Grübeln geraten. Als Werchowenski Kirillow in seiner letzten Stunde noch einmal besucht, bittet er sich ein Hühnchen aus, das dieser sich bereitet aber nicht verzehrt hat und nicht mehr verzehren wird. Ist das dies- oder jenseits von Wittgenstein?

Ein Säkulum nach Dostojewskis Arbeit an den Dämonen stellte sich das Jahr 1968 ein mit seinem Rückgriff auf gesellschaftsphilosophische Ansätze des neunzehnten Jahrhunderts. Dem einen oder anderen Literaturfreund wird Dostojewskis Buch als Verständnisfolie für die ablaufenden Ereignisse und das Binnenleben einer revolutionären Zelle gedient haben. Eine Dekade zuvor bereits hatte Camus die Besy als Les Possédés in Erinnerung gerufen, nachdem er wiederum eine Dekade zurück La Peste mit einem Chronisten nach Dostojewskis Vorbild ausgestattet hatten. Der Besuch von Feinschmeckerlokalen ist eine der hauptsächlichen Beschäftigungen der von der Pest in der Stadt Oran Eingeschlossenen.