Donnerstag, 14. November 2013

The Immanent Frame

Taylor geht dem epochaler Wandel nach von einer Welt um das Jahr 1500, in der es so gut wie unmöglich war, glaubenslos zu sein, zum nahezu entgegengesetzten Zustand um 2000. Er liefert eine großangelegte sektorale Gesellschaftsbeschreibung ohne eigentliche Gesellschaftstheorie, so daß es nicht immer einfach ist, den Autor inmitten der Fülle seiner Gegenstände ausfindig zu machen. In seinem Buch Sources of the Self, das auch bereits umfänglich auf die Säkularisierung eingeht, räumt er wiederholt ein, daß hinter den von ihm behandelten Phänomenen vermutlich harte, kausalitätsverdächtige Faktoren stehen, deren Berücksichtigung größere Distanz erlauben  würde, für deren Analyse er sich aber nicht gerüstet sieht.
Im fünfzehnten Kapitel von A Secular Age erreicht Taylor das Ziel seiner Zeitreise, das Leben im Immanenten Rahmen, in einer Welt ohne Transzendenz und damit, geht man davon aus, daß Religionen nach der Unterscheidung von immanent und transzendent kodiert sind, in einer tendenziell glaubenslosen Welt. Beim immanenten Rahmen handelt es sich um ein historisch erzeugtes, inzwischen dominantes Vorstellungsmuster, in das ein Großteil, wenn nicht die Mehrzahl der heute Lebenden hineingeboren wurde. Es ist schwer, sich gegen ein derartiges als dominant vorgefundenes, nicht unmittelbar nach der Entbindung hinterfragbares Muster zu wehren, gleichzeitig aber ist das Muster als vorgefundenes der Natur der Natur der Sache nach immer schon veraltet. Entstanden ist das Vorstellungsmuster des immanenten Rahmens in der triumphalen Frühphase des rational-wissenschaftlichen Denkens, das sich vor einigermaßen schlichte Aufgaben gestellt wähnte. Die vollständige Erklärung der physikalischen Welt wurde ohne große Anstrengungen für die allernächste Zukunft erwartet, die sogenannte Einrichtung einer gerechten Welt ein war dann nur noch ein Klacks.

Die moderne Wissenschaft zeigt sich inzwischen weit offen zur Transzendenz, allerdings nicht unbedingt zu einer, in der sich die abrahamitischen Religionen noch wohlfühlen können. Von Niels Bohr stammt der Satz, wer behaupte, über die Quantentheorie nachdenken zu können, ohne verrückt zu werden, habe sie nicht verstanden, den Narren in Christo entsprechen mithin der Verrückten in der Physik. Gödel hat, wenn man so will, die Unmöglichkeit der Immanenz bewiesen, Gegenstand der Evolutionstheorie ist eine permanent sich selbst transzendierenden Immanenz, die Gläubigen sollten sich eher mit ihr verbünden als sie auf der Grundlage einer engen Bibelauslegung zu bekämpfen; nicht auszuschließen - nach dem Bild, das die Menschheit momentan abgibt, allerdings unwahrscheinlich -, daß uns auf evolutionärem Wege irgendwann Flügel wachsen und wir zu Engeln werden. Niklas Luhmann läßt öfters durchblicken, daß er den Namensvetter aus Kues an der Mosel, aus der Zeit noch vor 1500, als Weltenerklärer über Habermas stellt &c.

Angestoßen von den Erfolgen des rational-wissenschaftlichen Denkens ist eine neue moralische und geistige Disposition entstanden. Sie gründet auf einer wie auch immer verstandenen Mündigkeit des Menschen, und ihre Jünger erleben sich in einer vom Menschen selbst gestaltete Sozietät focussed on human ends: human welfare, human rights, human flourishing, equality between human beings geleitet von der Idee des mutual benefit. Aus avancierter wissenschaftlicher, hier: soziologischer Sicht ist diese Disposition, verstanden als Zustandsbeschreibung oder reale Zielerwartung, nicht weniger abwegig als der viel gescholtene Glaube an die Jungfrauengeburt. Demokratie ist eine Regierungstechnik und nicht der Name des heiligen Geistes, der im neuzeitlichen Gewand angetreten wäre, die chiliastische Erwartung der Christenheit zu erfüllen, die durchschnittlich drei voll- oder halbautomatischen Feuerwaffen in amerikanischen Haushalten dienen erkennbar nicht dem mutual benefit, und das Florieren der Menschheit kann, wo es denn stattfindet, vielfach als Sedierung durch Konsum unter Inkaufnahme kollateraler Umweltvernichtung interpretiert werden.

Taylor rüttelt seiner Art entsprechend verhaltener an den geschlossenen Türen der sich einigelnden Immanenz. Seine Geduld, jedweder Position ihr Recht zu geben und keiner das ganze Recht, ist gleichermaßen bemerkens- wie bewundernswert. Anders als hier geschehen, vermeidet er jede Polemik. Unnachsichtig ist er allerdings gegenüber der von ihm so genannten Subtraktionstheorie, wonach sich der immanente Rahmen zwanglos durch Wegstreichen überflüssigen Glaubensdekors ergeben hätte. Ebensowenig akzeptiert er die Ersatztheorie, die mit Kants pompösem Austritt aus der Unmündigkeit etwas völlig Neues, zuvor Unbekanntes anbrechen sieht. Stattdessen sieht er eine komplizierte, auf verschiedenen Ebenen stattfindende Umformung der Disposition 1500 in die Disposition 2000. Eben das erlaubt ihm, allen ihr Recht einzuräumen, denen, die sich nicht gerührt haben, denen, die sich ganz im immanenten Rahmen eingerichtet haben, und denen, die auf einer der vielen Zwischenstufen verharren, vor allem aber auch dem großen Heer der Neutralen, die sich selbst weder als gläubig noch als dezidiert ungläubig sehen.

Der immanente Rahmen ist weder die leuchtende Wahrheit jenseits fehlgeleiteten Aberglaubens noch die Wahrheit als schale Neige nach dem verklungenen Fest der Religionen. Bei der Gegenüberstellung der beiden Positionen, der immanent-transzendenten von 1500 und der immanenten von 2000, gibt es keinen Sieger und keinen Verlierer, so wie es der Fall sein müßte, wenn 2000 einfach die von allem Übel gereinigte Fassung 1500 wäre. Im Fazit ist das Leben im immanenten Rahmen nicht nachweislich gescheiter als das in einer transzendent ergänzten Welt. Dabei berücksichtigt Taylor noch nicht einmal das wort- und argumentationslos in den Bildwerken Giottos und anderer und in der Musik Bachs und anderer verwahrte unvergleichliche christliche Erbe, das dem Gezänk Schweigen gebietet. Cioran hat eingestanden, daß Bach uns den Tod Gottes vergessen läßt, und Sebald fragt sich und uns, ob die weißen Flügel der Engel Giottos mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde nicht das weitaus Wunderbarste von allem sind, was wir uns jemals haben ausdenken können.

Sonntag, 10. November 2013

Säkularisierung

In seinem monumentalen, von ihm selbst immer wieder angesichts der Größe der Aufgabe als bei weitem zu schmal empfundenen Werk zeichnet Charles Taylor den Prozeß der Säkularisierung im Zeitraum von 1500 bis 2000 nach. Während um 1500 ein glaubenloses Leben so gut wie undenkbar war, sind in unserer Zeit die Anhänger eines exklusiven, gottfreien Humanismus in der Überzahl. Es ist aber nicht einfach die Ablösung eines Zustands durch einen anderen, currents swirl in different directions, es gibt inzwischen zahlreiche Formen des Glaubens und nicht weniger Formen des Unglaubens und dazwischen eine große neutral zone, a kind of no-man’s-land. 500 Jahre, nach unserem heutigen Kenntnisstand nur ein Wimpernschlag im Auge des Herrn, nach traditioneller Berechnung, die das Alter der Welt auf nur wenige Tausend Jahre veranschlagte, allerdings eine beträchtliche Spanne und in jedem Fall, wie es scheint, Zeit genug, den Herrn aus dem Auge zu verlieren.
Der Prozeß der Säkularisierung umfaßt eine Reihe von Komponenten. Da ist die bereits von Max Weber ins Spiel gebrachte Entzauberung der Welt. Im Jahre 1500 führten Geister, Hexen, Engel u.a. noch ein reales Leben, heute sind sie aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Die Individuen, die dem Zugriff der übernatürlichen Kräfte schutzlos ausgeliefert waren, sind jetzt durch die Gewohnheit rationalen Denkens bestens gepolstert (buffered). Neben der unablässig ablaufenden physikalischen Zeit gab es die Hohe Zeit, die als Abglanz der Ewigkeit an den Festtagen der Christenheit spürbar wurde. Niemand, der heute in der Adventszeit durch das auf Konsum getrimmte, dudelnde Innere der Stadt geht, spürt noch den Hauch des Ewigen. Der Mensch hatte eine privilegierte Stellung in einem von Gott auf seine Belange hin geordneten Kosmos, heute schaut er in die gnadenlose Raum- und Zeitweite des Universums. Diese und andere Veränderungen haben die Glaubenswelt aus ihrer als unverrückbar erscheinenden Verankerung gehoben.
Nach der üblichen Erklärung hat das in der Neuzeit aufkommende und sie seither bestimmende wissenschaftlich-rationale Denken das Denken in Glaubenskategorien gleichsam verscheucht. Diese Art der historischen Nacherzählung ist Taylor zufolge nicht falsch, aber eindeutig zu dünn. Säkularisierung bedeutet nicht unmittelbar Abkehr von der Religion, sondern zunächst eine graduelle Abkehr der Religion von spezifischen, auf das Jenseits gerichteten Lebensformen, wie dem Mönchstum, hin zum Saeculum, zu einem innerweltlich gelebten Glauben. Im Deismus gingen das religiöse und das rationale Denken eine eigenartige Verbindung ein. Gott verzichtete fortan auf unmittelbare Eingriffe in das Weltgeschehen, blieb aber greifbar in dem auf ihn zurückgehenden vernünftigen Design der Welt, das von der korrespondierenden menschlichen Vernunft entschlüsselt werden kann. In diesem letztlich labilen Verhältnis zeichnet sich aber bereits ab, daß der Glaube in Zukunft nicht mehr auf die Vernunft, die Vernunft im Rahmen eines exklusiven Humanismus aber sehr wohl auf den Glauben verzichten kann. Allerdings kann auch der exklusive, gottlose Humanismus in seiner spezifischen europäischen, für den Kanadier Taylor: in seiner nordatlantischen Ausprägung seine Geburt aus dem Geist des Christentums nicht verhehlen: A moral temper to which it seems obvious that our major concern must be our dealings with others, in justice and benevolence; and these dealings must be on the level of equality.
Wenn dies die den nordatlantischen Raum offiziell dominierende Einstellung sein mag, so ist sie es sicher nicht in unbestrittener Weise. Für jemanden, der sich im Wegenetz Romantik, Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Foucault voranbewegt hat, wird sie lachhaft, wenn sie mehr sein will als die nüchterne Grundlage politischen Handelns und beansprucht, den Sinnbezirk bis zum Horizont auszufüllen. Auch für den Glauben ist die einseitige Bindung an einen optimistischen Humanismus nicht gesund. Die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, vom Einzug in die strahlende Ewigkeit auf der einen und vom Höllenverdammnis auf der anderen Seite offered, for all ist faults, an articulation of the dark side of creation. Simply negating it, as many of us modern Christians are tempted to do, leaves a vacuum. Or it leaves an unbelievably and childishly benign picture, which cannot but provoke people either to unbelief, or to a return to an hyper-Augustinian mode of faith, unless it leads to a recovery of the mystery of the Cruifixion, of world-healing through the suffering of the God-man.

Taylor betont, daß er sich nicht im Rahmen einer soziologischen Theorie, sondern im Feld sozialer Einbildung (social imaginary) bewegt, in dem, was normale Menschen als ihre soziale Umgebung erleben. Die Unterscheidung erinnert ohne weiteres an Luhmanns Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Mit Semantik (social imaginary) beschäftigt sich Luhmann allerdings nur zum Zweck und zum Beleg seiner Theorie. Da für ihn Gesellschaft ausschließlich aus Kommunikation (und nicht etwa aus Menschen) besteht, ist gleichzeitig ein scharfer Unterschied zwischen Semantik und Theorie nicht auszumachen, auch Theorie ist Semantik, allerdings in einer sehr speziellen und extremen, bei Taylor fehlenden Form. In dieser Sichtweise entfällt auch das Pingpong zwischen Hegel und Marx, die Frage also, ob nun das Bewußtsein (Semantik/social imaginary) das Sein (Gesellschaftsstruktur) bestimmt oder umgekehrt, die Unterscheidung selbst ist obsolet. Dem Luhmannadepten geht es bei der Lektüre Taylors wie einem bislang allein auf die Klasse der Wirbeltiere spezialisierten Zoologen, der mit einer Studie über das Leben der Tintenfische beauftragt wurde. Schon bald aber kann er die Begeisterung vieler seiner Kollegen für diese wundersamen Tiere verstehen.