Dienstag, 22. Dezember 2009

Die nächste Stadt

Kafka lebensnah

Der alte Mann pflegte zu sagen: Die Tage sind erstaunlich kurz. Denke ich nur an den morgigen, so drängt er sich mit derart zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, zur Arbeitsstelle in die nächste Stadt zu fahren, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Tages für eine solche Fahrt bei weitem nicht hinreicht.

Montag, 21. Dezember 2009

Weisheiten

Je ne lirai plus les sages

Als Liebe zur Weisheit ist die Philosophie passé, lehrt Niklas Luhmann. Hinter jeder Weisheit stehe eine schlichte Beobachtung der ersten Stufe, die Beobachtung eines Objektes. Alle Objekte sind aber schon tausendfach beobachtet worden, in unserer Welt multipler Perspektiven zählen allein Beobachtungen der zweiten Stufe, Beobachtungen von Beobachtungen. Die Weisheiten müssen sich gegenseitig stoßen und rammen. Schaut man in eine der Fernsehserien, in denen einer weiser Mann mit weisem Haar Weisheiten sekretiert, die sich nach der Art von Fettflecken ausbreiten, wird einem elend wie sonst kaum. Man wünscht sich nichts anderes, als daß die Putzkolonne, die einst Joseph Beuys’ unweisen Fettfleck entfernt hat, noch aktiv wäre. Einer Weisheit ist nur noch zu ertragen in einer Umgebung, wo man sicher sein kann, an der nächsten Ecke auf ihr Gegenteil zu stoßen, das nicht ihr genaues Gegenteil sein darf, denn sonst würden die Weisheiten einander einfach verschlucken.

Gómez Dávila hat Scholien zu einem und damit in Beobachtung eines impliziten Text verfaßt, der implizite Text ist der Mainstreamtext von der Würde und dem Stolz des sich emanzipierenden Menschen, und bei jeder Scholie kann mit Genuß und Freude der Abprallwinkel berechnet werden, oft liegt er allerdings nahe den hundertundachtzig Grad. Bei Cioran fehlt der implizite Text, er ist zerschossen und vernichtet, wir befinden uns im Chaos eines Teilchenzoos der Weisheiten und Antiweisheiten, ihrer gegenseitigen Beobachtung und Vernichtung, und nur für Augenblicke kehrt Ruhe ein: Nur das dauert, was in der Einsamkeit konzipiert wurde, im Angesicht Gottes, ob man glaubt oder nicht.

Zwei Frauen sind auffällig in Ciorans Werk, Teresa von Avila und Emily Brontё: Alles was von ihr kommt, hat die Gabe, mich zu erschüttern. Haworth ist mein Wallfahrtsort. Teresa von Avila geht ohne weiteres durch, ohne daß man sich in Einzelheiten vertiefen müßte, aber Emily Brontё? In der Jugend hat man wohl selbst das Buch von den Sturmhöhen gelesen und sich begeistert, es dann aber doch, ohne die frühe und unzuverlässige Lesung noch einmal zu überprüfen, als eher nicht ganz für voll zu nehmen in die Ablage verfügt. Cioran, Zeit seines Lebens und bis in das hohe Alter um größere Nähe zum Tod als zum Leben bemüht, war offenbar fasziniert vom Bild der drei Schwestern, von denen jede einige wenige Bücher verfaßt hat, um dann, noch keine dreißig oder kaum vierzig Jahre alt, zu verschwinden. Stimmen aus dem impliziten Text Dávilas, dem explizit unser Gegenwart bestimmenden also, versuchen Anne in den Vordergrund zu rücken, da sie sich in besonderem Maße um die Frauenemanzipation verdient gemacht habe, sodann Charlotte, die in Jane Eyre die Maxime von der sexuellen Gleichberechtigung vertreten habe, vor den beiden vernünftigen Schwestern besonders geliebt worden ist aber immer Emily mit ihrem wüsten, unweisen und keiner guten Absicht verpflichteten Buch.

Ohne Emily als ihre brennende Mitte wäre Cioran, neben Iwan Karamazow und Stawrogin eine typische, dem Roman allerdings ins Reale entsprungene Gestalt Dostojewskis – er selbst hat auf seine Nähe zum russischen Byronismus hingewiesen - auf das Dreigespann der Schwestern wohl nicht aufmerksam geworden. Man muß nicht allzu sehr abstrahieren, um ein Beschreibungsniveau zu erreichen, das Emily Brontёs Roman und Ciorans Aphorismenwelt gleichermaßen gerecht wird.

Die jeweilige soziale und politische Wirklichkeit ist weitestgehend beiseitegeschoben, um einen freien Blick auf die vermuteten Eigentlichkeiten der menschlichen Existenz zu gewinnen. Der Haß kann Gemeinschaft stiften und sie nicht schlechter zusammenhalten als die Liebe. Die Menschen sitzen hinter Mauern verriegelt und gewähren nur höchst ungern Zutritt. Nicht geboren werden ist unbestreitbar die beste Lage, leider steht sie niemandem zu Gebote. Die intrauterine Existenz läßt sich womöglich etwas gnädiger beurteilen, niemand aber sollte die Langlebigkeit eines Totgeborenen übertreffen. Aber auch diese Vorgabe läßt sich im Roman nicht in Reinheit einlösen, die zugestandene Frist würde weder dem Autor zur Niederschrift noch den fiktiven Gestalten zur angemessenen Entfaltung hinreichen, es kann also nur um Annäherung an den Idealwert gehen. Die Unannehmlichkeit, geboren zu sein, wird gemildert durch dem frühen Tod. Die Figuren des Romans erreichen kaum die Dreißig und wenn sie sie überschreiten, so nur, weil sie gegerbt sind vom Racheverlangen und vom Bösen. Die Frauen haben den Vorteil, noch als junge Mädchen gleich bei der Geburt ihres ersten Kindes sterben zu dürfen, ein Vorteil, den sie in unseren Tagen weitgehend eingebüßt haben, würde der Philosoph ergänzen. Seine Vision von der Zukunft ist so genau, daß er Kinder, falls er sie denn hätte, sogleich erwürgen würde. Und im Zentrum dieser unguten Welt ein glühender, gleißender Kern, Gott bei Cioran und die Liebe bei Emily Brontё, bei dem man annehmen muß, daß das Böse sich darin eingenistet hat, le mauvais démiurge, le mauvais amour.

Niemand kann sich uneingeschränkt in dieser Welt aufhalten. Der Roman ist aus der uns vertrauten, von der Hauhälterin Nelly Dean verkörperten Normalperspektive geschildert. Am Ende des Buches treten Catherine die Jüngere und Hareton aus der Hölle hervor wie einst Adam und Ewa aus dem Paradies, und selbst Heathcliff scheint auf eine seltsame Art irre geworden am Bösen. Ciorans Bücher haben keine der Norm verpflichtete Rahmenhandlung, die Aphorismen sind mit sich allein. Immer wieder aber werden sie durchleuchtet von der Freude, so viele Herbste mag ich das Schauspiel dieser Blätter beobachtet haben, dennoch empfinde ich jedesmal wieder eine Überraschung, in welcher das „Erschauern“ weitaus den stärksten Anteil hätte, bräche nicht im letzten Augenblick ein Jubel aus, dessen Ursprung ich nicht zu enträtseln vermag. Besucher Ciorans waren verwundert und erleichtert, wie wenig seine Umgangsformen mit denen Heathcliffs gemein hatten. Wir haben Photos, auf denen er lauthals und offenbar völlig undiabolisch lacht. Sein Grabmal ist, wenn nicht christlich so doch bürgerlich und traut, er ruht auch nicht allein.