Samstag, 22. November 2008

Lemberg sehen


An Ende eines schönen Festes mit vielen guten Freunden, bei dem sich nicht endgültig klären ließ, ob es nun am holländischen Meer oder am Rhein auf der Höhe Königswinter/Bonn stattgefunden hatte, begaben wir uns, so wie wir es immer gern und voller Behagen bei Fontane lesen, in Gruppen durch die Nacht nach Haus. Ich konnte den Weg zunächst mit meinem sehr guten Freund Chr. und dessen Sohn M. gemeinsam machen. Nach einiger Zeit freilich langten wir an der Stelle an, wo Chr.s jüngerer Bruder mit den Fahrrädern auf die beiden wartete. Mein geheime Hoffnung, sie würden die Räder schieben und mich noch eine Weile begleiten, konnte sich angesichts der sehr fortgeschritten Stunde vernünftigerweise nicht erfüllen. Mit meiner langjährigen Sekretärin, der Französin M.C., der jetzt die Versetzung in eine andere Abteilung droht, und die mir noch am Tag zuvor recht heftig vorgehalten hatte, ich würde dem nicht entschlossen genug entgegenwirken, bestieg ich das bereitstehende Flugzeug, das allerdings, wie sich schon bald erwies, nicht den richtigen Zielort hatte. Es war ein leichtes, den Piloten zu einer Zwischenlandung auf einer Wiese oberhalb der Eifelortschaft Mayschoß zu bewegen. M. C. hatte es von dort aus nicht mehr weit, von Dunkelheit war, obwohl Zeit kaum vergangen war, längst nicht mehr die Rede, und Margrit und ich hatten unsererseits nur einen sanften Wiesenabhang zur im Tal gelegen Stadt hin zu durchschreiten mit Ziel auf den jenseits gelegenen Flughafen. Bei dieser Stadt aber handelte es sich ohne Zweifel um Lemberg, seit langem schon ein Ziel unserer gemeinsamen tiefen Sehnsucht, und so fand ein an sich schon sehr schöner Abend einen beglückenden Ausklang, den in dieser Form niemand hatte voraussagen können.

Freitag, 21. November 2008

Updike

Gelesen: Toward the End of Time

This stir of mild misery we call life

Ein tiefes, ein reiches Buch, das seinen Reichtum einer Verarmung verdankt. Das Geschehen ist in das Jahr 2020 verlegt nach einem, bislang noch, fiktiven amerikanisch-chinesischen Krieg, die Menschheit ist stark ausgedünnt, in China offenbar noch stärker als in den USA, aber China interessiert weiter nicht. Staatliche Strukturen sind praktisch verschwunden, oder doch unsichtbar. Die Überlebenden haben Anlaß, sich auf die fundamentalen Bedingungen des Lebens, ihren kosmischen und biologischen Hintergrund zu besinnen. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt, die Kapitelüberschriften beginnen alle mit einem D: Deer, Dollhouse, Deal, Deaths, Dahlia. Es ist wohl das D des Todes, dem auch die anderen D unterliegen. Die Begegnungen mit dem Deer werden unvergeßliche Seiten abgewonnen, große Szenen des Einverständnisses mit der Kreatur aus einer nicht überbrückbaren Distanz heraus. Unvergeßlich auch die Szene mit der kleinen Schlange, der bei Gartenarbeiten die hintere Körperhälfte abgetrennt wird: Jeremy put the snake gently back into the grass and it slithered off with unimpaired fluency, but I thought that a snake was not a ribbon that could be snapped anywhere: it had an anatomy, intestines and an anus and no more than I could it live long with its nether portion crushed. Tief einprägsam ferner die Erwägungen zum Seelenleben der Pflanzen: How strange must it be, being an autumn flower, waiting while the others – the snowdrops and crocuses, the daisies and loosestrife, the Queen Anne’lace and goldenrod – all have their go at romancing the busy pollinators; and then, as the days shorten and the insect population grows sluggish and terminal but for a few darting dragonflies and aimlessly bobbing butterflies, to unfurl their modest, virginal, starlike attractions.

Und doch oder deswegen, man wünscht sich, die Kriegsfolgen wären noch etwas heftiger ausgefallen, denn wie durch ein Wunder geht das schreckliche amerikanische middle-class life, Updikes erste Muse (aber ist da nicht inzwischen alles gesagt?), im Rhythmus der Dentisten und Schönheitssalons, des Golfspiels und Familienbesuche seinen unveränderten Gang. Und man wünscht sich ferner, die Kastration in Form einer Prostataoperation am Ende des Buches hätte sich vor seinem Beginn abgespielt. Aber was wäre dann gewesen? If I can no longer give her orgasm with my stiff prick, my only use to Gloria is a stiff corpse bequeathing to her liquid capital. – Hier muß man nun doch argwöhnen, daß mehr noch als der Dollar und das ständige Kriegführen die sogenannte sexuelle Befreiung Amerika auf den Hund gebracht und nihilisiert hat.

Oder verrennen wir uns, ist der Vorwurf, den wir dem Autor machen wollen, sein eigener Vorwurf, ist der Endzeitroman des Neuengländers auf seine Art eine nicht weniger radikale Absage an die Menschheit als die Endzeitromane des Texaners McCarthy? Einiges spricht dagegen, an einer Stelle gesteht sich Ben, der Held des Buches, ein, der Gedanke, nicht mehr zu leben, mißfalle ihm weniger als der Gedanke, nicht mehr als Amerikaner zu leben. Oder ist wiederum genau diese Ambivalenz der Kern des Buches? Vieles spricht dafür. Auch den Vorwurf, China interessiere weiter nicht, greift das Buch selbst leise aber in durchaus wahrnehmbaren Tönen auf. Amerikanisches Leben ist nur noch in Neuengland möglich, der mittlere Teil ist radioaktiv verseucht, Texas, Neu Mexiko, Arizona und Kalifornien sind wieder bei Mexiko, die Grenze wird jetzt von der anderen Seite aus bewacht.


Eben lese ich in der Zeitung, nach Einschätzung der Geheimdienste werde bie 2025 eine Verschiebung der Machtverhältnisse in einem ungeahnten Ausmaß stattfinden. Die USA werden nur noch ein Akteur unter anderen sein, China wird die globale Entwicklung beeinflussen wie kein anderes Land. - Diese Rechnung ist noch ohne den amerikanisch-chinesischen Krieg gemacht.


Dahlia:

This planet supports but two life-forms - myself, and an immense fungus that has covered all but the stoniest of available land.

The background radiation - the temperature of the space - has risen to 300C°, or 572F° and will continue to rise as the universe halves in dimension every few million years.

The priests have a saying in their archaic language: Our minds harry God from every covert, and yet he lives within. He is killed, and killed, and yet not.

One day I went looking for the dahlia.

Roger and Marcia in the year past have produced a male child, named Adam.


Montag, 10. November 2008

Im Parador

En els ossos del temps no hi ha tendresa.
Els llocs ja no existeixen.


Schließlich war auch ich des Wartens überdrüßig und wollte mich meinerseits auf Erkundung begeben. J., der mit dem Suchtrupp bereits unterwegs war, würde sicher nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich eins von seinen beiden Autos fuhr, die Schlüssel lagen auf dem Tisch. Obwohl alle Wagen unmittelbar oberhalb der Berghütte abgestellt waren, habe bei den schlechten Wetter- und Sicht- verhältnissen den Weg dann doch verfehlt und fand mich, einigermaßen überrascht, auf dem Nachbarhügel wieder. Es zeichnete sich von dort aus aber eine weiter oberhalb verlaufende – Besalú lag unten im Tal - und allem Anschein nach übersichtliche Querverbindung ab, die sich aber, einmal beschritten, dann doch als nicht ganz so unkompliziert erwies. Andererseits aber war jetzt die gesamte Gruppe, einschließlich der ursprünglich Vermißten, wieder beisammen, so daß das alles nichts machte und keine Eile mehr war. Vielmehr freuten wir uns darauf, nach so langer Zeit wieder gemeinsam im Parador von Beget einzukehren, der bei Licht besehen gar kein Parador war, sondern nur eine einfache Dorfgastwirtschaft. Der große unbearbeitete Holztisch war schon für uns frei gemacht, aber nun waren ärgerlicherweise doch wieder viele verschwunden und andere hatten sich verwandelt. Meine Tante Martha war plötzlich mit von der Partie, so jugendfrisch und zupackend, wie ich mich nicht entsinnen konnte, sie im Leben zuvor jemals gesehen zu haben. So und in dieser Zusammensetzung konnten wir uns nun wirklich nicht zu Tisch begeben, für wie viel Personen sollte denn auch bestellt werden? Ich mußte erneut hinaus auf die Suche, aber die Schuhe fehlten. Margrit konnte meinen aufkeimenden Unmut leicht besänftigen, auf den steinernen Bodenplatten des Vorraums waren nicht weniger als drei Paar abgestellt, darunter auch das neue Paar aus dem Schwarzwald. Obwohl somit bestens versehen, konnte ich große Hoffnung in einen erfolgreichen Ausgang der neuerlichen Such- und Zusammenführungsunternehmung nicht aufbringen

Dienstag, 4. November 2008

Handschmeichler


Kaum noch jemand trägt große Mengen von Lyrik als Flagge und Lebenstrost mit sich. Ein kleiner Vers aber, vielleicht die schönste poetische Definition des Glücks, ist mir schon vor Jahrzehnten zu einer Art mentalem Handschmeichler geworden, den ich immer bei mir trage. Er ist schon so abgegriffen, daß ich gar nicht weiß, ob er noch seine ursprüngliche Form hat. Es ist ein Vers in russischer Sprache, und in der von mir erinnerten Version, für die, wie gesagt, Garantie nicht übernommen werden kann, lautet er OmU so:


Schtschastliw tjem, schto tsjelowal ja zhenschtschin
Glücklich bin ich darin, daß ich Frauen küßte

Mjal tswjety, waljalsja na trawje
Blumen zerdrückt und mich im Gras gewälzt habe

I zwerjo kak naschich bratjew mjenschich
Und die Tiere als unsere kleineren Brüder

Nikogda nje bil po golowje.
Niemals über den Kopf gehauen habe.

In den ersten zwei Zeilen werden umstandslos drei gut eingeführte, jedermann vertraute Bilder des Glücks ausgestreut. Ein wenig auffällig vielleicht das zweite Glücksexempel, das mit dem Verb mjat': drücken, kneten – eine gewisse, in diesem Zusammenhang nicht unbedingt übliche Gewalttätigkeit ins Spiel bringt, die auch auf das Eingangsbild (Kuß) zurückstrahlt und es mit Leidenschaft auflädt. Mjat' streckt zudem seine Fühler aus zum anderen gewalttätigen Verb bit' in der zweiten Verhälfte, dies freilich in der negierten Form nje bil: nicht gehauen.

Besonderes erwartet man nach diesem doch ziemlich konventionellen Auftakt eigentlich schon nichts mehr. Und dann die abrupte Wende in eine Sphäre, die den zuvor angerissenen Glücksraum zertrümmert und in den nur vier Zeilen einen übergreifenden Raum ungeahnter Weite aufreißt. Der den kleineren Brüdern ersparte Schlag auf den Kopf trifft uns umso härter und öffnet uns die Augen und die Sinne. Die heidnische Welt der Eingangszeilen schlägt noch durch die Grenze hindurch, die das Christentum gezogen hat, wenn es zwar von den Geringsten unter uns spricht, zugunsten der noch geringeren Brüdern aber eigentlich nur den Heiligen Franz von Assisi ins Feld führen kann. Die ersten zwei Zeilen werden nicht vergessen oder widerrufen, sie werden vielmehr erneuert und erst jetzt zum Quell wirklicher Freude. Ja, das eine ist Glück und das andere ist Glück, und Glück ist das Ganze.

Der Vers entfaltete seine ganze Schönheit und Bedeutung nur im russischen Original. Dem extrem hellen und weitgehend unreinen Reim zhenschtschin (Frauen) // mjenschich (kleineren: die formale Gestalt des Verses zählt offenbar auch die Frauen zu den Schutzempfohlenen) korrespondiert der dunkle und reine Reim trawje (Gras) // golowje (gesprochen: galawje – Kopf). Der erste Teil handelt vom körperlichen, vegetativen Glück und schließt folgerichtig mit „Gras“, der zweite Teil handelt vom moralischen Glück und schließt ebenso folgerichtig mit „Kopf“; dem Kopf der kleineren Brüder, in einer Welt, die möglicherweise ohne Gott auskommen muß, die einzigen Gefährten unserer Einsamkeit.

Gelegenheiten, den kleinen Glücksbringer in die Hand zu nehmen, gibt es genug. Der Vers ist von Sergej Jessenin, in der vor mir liegenden umfänglichen Sammlung seiner Gedichte kann ich ihn nicht wieder auffinden.

Sonntag, 2. November 2008

Navegar pelo rio Amazonas

Va ser el paisatge de la nostra vida:
És, ja, el paisatge de la nostra mort.


Wir treiben auf dem Amazonas, eine gutgelaunte, vom Leben verwöhnte Freundesschar, offenbar sind wir schon im Delta, Land ist nicht zu sehen. Die anfallenden kleinen Aufgaben wollen wir frohen Herzens reihum erledigen. Welche raffiniert-einfachen Speisen hatten wir gerade in froher Runde geteilt? – jedenfalls will ich den Aufwasch übernehmen, habe aber weder eine Schüssel noch warmes Wasser. Eine unbekannte tropische Frucht hat die noch nie zuvor beobachtete Eigenschaft, sich nach innen zu wölben und zu verholzen, wenn man sie nur ins Wasser taucht. Das so entstandene Gefäß ist freilich nur klein, aber es wird gehen. J. zeigt mir, wie ich durch geschicktes Hineinlangen in das dampfbetriebene Nebelhorn unseres in diesem Augenblick der African Queen ziemlich ähnlichen Schiffes Heißwasser, wenn auch freilich nur tropfenweise, abzapfen kann. Die Wassertiefe messen wir auf eine einfache und sehr direkte Art. Am Boot wird eine Schwimmflosse aus massivem, wunderbar lackierten Tropenholz ausgefahren, ein Mann – unverkennbar Mr. Rico aus The Enforcer, aber wie kommt der hierher, zu unserer Schar gehört er nicht, offenbar haben wir eigens eine Crew für derartige Aufgaben – stützt seine Arme darauf und läßt sich ins Wasser gleiten. Er gleitet nicht tief, bei Brusthöhe steht er auf Grund. Er zeigt es uns an den verschiedensten Stellen wieder und wieder mit wachsender Schadenfreude, Piranhas fürchtet er zu meiner nicht geringen Verwunderung kein bißchen in dem schmutzigen, undurchsichtigen und reglosen Deltawasser - ist es, nebenbei bemerkt, vielleicht doch eher der La Plata?. Eben waren wir noch eine Bella Compania, und nun sind wir in Not. Worin besteht sie? Margrit, so hört man, will in ein Kloster eintreten und Nonne werden, wahrscheinlich geradewegs in ein brasilianisches Kloster, denn die portugiesische Sprache, das läßt sie mich später wissen, will sie ohnehin lernen.

Proust

Wieder gelesen: Combray

No l'e oblidat malgrat no recordar-lo

Als seien jemandem hundertfingrige Sprachhände gewachsen, die mit unendlicher Geduld und Behendigkeit die Welt abtasten, um kaum je Wahrgenommenes und nie Erfaßtes ins Wort zu nehmen. Als habe dieser jemand die verlorene Zeit längst und zur Gänze gefunden und habe nun alle Zeit der Welt. Als nutze er diese Zeit für den Versuch, das unerbittliche Gesetz der Sprache, wonach nur unter Verzicht auf fast alles Sagbare sich überhaupt irgendetwas sagen und durch das Nadelöhr des Augenblicks fädeln läßt, immer nur das jeweils eine Wort unter Verzicht auf die Millionen anderen im Wartestand, immer nur der jeweils eine Satz unter Verzicht auf viermal unendliche viele Sätze, deren Geburt noch aussteht: als versuche ein Prometheus der Beharrlichkeit und des Geschicks ALLES zu sagen, die von Gott aus nur einem Wort, Logos, entlassene Welt in einer endlosen Reihe von Worten wieder einzufangen. Eine Welt überdies, die in ihrer Aktualität nur die allerflüchtigsten Berührungen überhaupt duldet und sich, als gegenwärtige, voller Trug unserem Begehren fast völlig entzieht und grausiges Spiel mit uns treibt. Erbarmungslose Weltgesetze, die den mit ausschließlicher, alles andere Leben zerstörenden Sehnsucht und unter minutiösesten Vorbereitungen erwarteten Gutenachtkuß der Mutter augenblicklich und übergangslos in die grenzenlose Trauer verwandelt, nur zuschauen zu können in hilfloser Panik, wie er in der Vergangenheit verschwindet, als habe er nie stattgefunden. Eine Welt aber auch, die in kleinen, lindenblütenteegetränkten Kuchenstücken gefaßte Augenblicke der Gnade enthält, aus denen sie, bereits verloren geglaubt, sich zur Gänze neu entfaltet, um sich Proust, dem hundertfingrigen Dichter, dem nacherzählenden Demiurgen, dem zweiten Gott darzubieten. Wer würde nach der Lektüre von Combray in der Blüte des Weißdorns, wo immer man ihr begegnet, fortan nicht zwei Schöpfer am Werk sehen. Ein Demiurg, der, soviel ist klar, nicht bloß seinen an der Oberfläche tastenden Händen folgt, sondern alle Höhen und alle Tiefen in allen Aggregatzuständen von der Wärme des Mutterschoßes bis zu Bereichen interstellarer Kälte in der sozialen Welt duchmißt, die „inhumane Welt des Vergnügens (du plaisir)“. Gewaltige metaphorische Sprünge und Transpositionen reißen unversehens immer wieder den mikroskopischen eingeengten Blickwinkel auf, durchschießen entfernte Sphären der Kunst oder der Prähistorie bis in die kosmischen Weiten von Raum und Zeit. Die ebenso kühnen wie fortwährenden und planmäßigen metaphorischen Überbrückungen zwingen Dinge aus größter Ferne in ein Tableau. Nicht nur der Weißdorn erscheint letztlich wie ein Schmuckelement in einem kostbaren Wandbehang, auch noch die weitesten Weiten werden beharrlich eingewoben in den allem Anschein nach endlosen Wortteppich und damit humanisiert - oder wird vielmehr das Humane kosmologisiert?