Montag, 19. Januar 2009

Kakophonie im Dreiklang


Gelesen: Updike, The Widows of Eastwick
How much fucking?

Für Christian, der Updike auf der Sonnenseite sieht

Im Wüstenhagener Tagebuch heißt es anläßlich des Todes von John Updike: Updike war in sexuellen Dingen sehr deutlich und detailgetreu. Wenn ich ihm je begegnet wäre, hätte ich ihn als erstes gefragt, warum – aber ich ahne schon, daß er mir von der alten Tradition der Realisten erzählt hätte, zu denen er mit Balzac, Flaubert, Dickens, Tolstoi, Fontane und Thomas Mann gehörte, und die alle sehr bewußt um ihre Glaubwürdigkeit im Herzen des Lesers gekämpft haben. Die hing oft davon ab, ob man das Mobiliar eines Wohnzimmers, in das die Hauptfigur des Romans gleich eintreten würde, im Detail richtig beschrieb.

Alle Zimmer des Hauses haben, neben dem Mobiliar, einen tiefen und zugleich der Lebenspraxis zugewandten Symbolcharakter. Das Wohnzimmer ist Symbol schlechthin und Faktum der überwundenen Unbehaustheit. Im Eßzimmer wird gemeinsam und zudem ohne Streit und Zurücksetzung das Mahl eingenommen, eine kulturelle Leistung und ein kulturelles Glück sondergleichen, für die Christenheit noch einmal deutlich und sofort um mehrere Stufen überhöht durch das Abendmahl des Herrn. Die Symbolik und die Faktizität des Schlafzimmers sind vielfältig. Die Zimmer sind sogleich in eine dialektische Spannung gesetzt. Wenn wir Wohnzimmer und Haus nicht wieder verlassen dürfen, wird es uns bald zu eng und zum Gefängnis. Das Verlangen und die Entschlossenheit, das Mahl im Freien zu verzehren, haben im letzten Jahrzehnt eindeutig wahnhafte Züge angenommen, in praller Sonne auf steinernem Boden oder in Eiskälte unter einem Gasbrennöfchen, Dante wäre für diese Ergänzung seiner Höllenphantasie dankbar gewesen. Das Schlafzimmer, - auch hier besteht erhebliche Konkurrenz durch Übernachten unter freiem Himmel und Geschlechtsakt auf dem Küchentisch, die Zivilisierungsschicht ist dünn und im Grunde unbeliebt.

Zur Lektüre der Widows of Eastwick (2008) wurde gelockt mit dem Versprechen, Updike, nun doch schon recht alt und, wie wir jetzt leider wissen, dem Tod sehr nah, würde hier auf Deutlichkeit und Detailgetreue in sexuellen Dingen weitgehend verzichten. Tatsächlich wird der erste und einzige Geschlechtsakt in der realen Erzählzeit erst gegen Ende des Romans abgeschildert. Das heißt natürlich nicht, Sexualität würde bis dahin fehlen. Schon sehr früh wird die Frage aufgeworfen: How much fucking does Nature need? Ausgangspunkt für die Frage ist das Sexualverhalten der Elche. Fighting and servicing their ladies wore the old bulls out and left them to winter exhausted and half-starved. They died of Nature’s furious will to propagate. Sexualität ist offenbar eine Vibration im Großen Dreiklang Natur, Mensch und Gott. Natur: Vermehrung und Tod. Mensch: oft nicht ohne Vergnügen für die Beteiligten, wie heute über die Maßen hervorgehoben wird. Gott: der göttliche Funken, so heißt es, kann hier lebhafter verspürt werden als an vielen anderen Orten.

Unüberhörbar aber herrscht Kakophonie im Dreiklang. It was all – the continental drift reversing direction, the folding of rocks like ribbon pasta in the earth’s warm ovens – as challenging to belief as the most fantastic dogmas of religion, but accepted by everybody sane in the modern world. - Alexandra leaned on Nature. She was from it, she was it, and yet there was something in her, something else, that feared and hated it. - Other people’s religions make even your own seem ridiculous - ein wichtiger Zwischenruf im sogenannten Dialog der Religionen. - I had the experience of there being too much Nature, and only at the end did Iget on top of it. I had a religious experience. But the trouble with such experiences is that the other side, whatever it is, the place you get to, isn’t very clear – it just is, for a minute. Then it’s over. Gone. - The power of sex and generation, a ribbon of DNA tweaked in Africa and snaking forward into a teeming future, cells knitting from microscopic knots into upright men. - Some supernatural inklings left over from his days of a peyote-smoking hippie; etc. Der enorme Erfolg der Naturwissenschaften macht Gottes Lage prekär und die Natur, die, wissenschaftlich erklärt, keineswegs einleuchtender und zugänglicher wird, nur umso bedrohlicher.

In jedem Fall muß, um Klarheit zu gewinnen, die zentrale Frage zu einem eigenen Dreiklang erweitert werden: How much fucking does Nature need? How much fucking does God need? How much fucking does mankind need? Das christliche Abendland hat sich traditionell für die erste Frageform nicht interessiert, die zweite in der Gestalt der Jungfrau Maria mit dem Nullwert beantwortet und bei der dritten zum Minimum geraten, schon der Minnesang wurde überwiegend in Entsagung gesungen. Der Mehrwert, so hat es Freud es dann erläutert, wurde abgeschöpft als Sublimation und ging in den Aufbau von Zivilisation und Kultur. So blieb es, mit erheblichen Schwankungen natürlich und unter zum Teil kräftigen Gegenströmungen, einschließlich Balzac, Flaubert, Dickens, Tolstoi, Fontane und Thomas Mann bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Dann hieß es plötzlich: Triebunterdrückung, und das Optimum sollte nicht mehr mit dem Minimum oder auch nur mit einem Mittelwert, sondern mit dem Maximum zusammenfallen. A whole lotta fucking going on, Wilhelm Reich war der Hohe Priester der neuen Heilslehre, die weitaus mehr Anklang findet beim Publikum als verschiedene libertinistische Schübe zuvor. Das sind die Jahre, zu denen Updike immer wieder zurückkehrt, um die sein gesamtes Dichten sich dreht. Er hat den Zeitenbruch, als Sexualitätsgewinn und Gottesverlust, zumindest dem Anschein nach, konfluent wurden, offenbar in keiner Weise weniger traumatisch erlebt als der Papst Benedikt. Während aber der Papst von außen zurückweisende Gesten vollführt, hat sich Updike bis zum Schluß im Tumult aufgehalten. Der im Wüstenhagener Tagebuch diagnostizierte Schritt heraus aus dem bürgerlichen Wohnzimmer und hinein ins spätmoderne Schlafzimmer erfordert mehr als das bloße Überschreiten einer Türschwelle.

Der leere Begriff der Säkularisierung ist im Buch glatt übersprungen, es handelt sich um Repaganisierung. Wir haben es mit Hexen, zu tun, wo Liebe die Welt verzaubern sollte, wird Sexualität wieder als schwarze Magie ausgeübt. Nun versuchen die inzwischen verwitweten Hexen zur white magic zu finden, das löst aber einen auf spaßige Art elektromagnetisch und quantenmechanisch verbrämten Gegenzauber aus. Unerklärliche Dinge geschehen, teils zum Guten und teils zum Schlechten. Der eingangs erwähnte einzige in der realen Erzählzeit geschilderte Sexualakt führt zu einer Art Waffenstillstand an der magischen Front. Das Buch endet in einem etwas ratlosen Frieden.

Das Ganze ist mit makabrem Humor geschildert, immer aber ein wenig makabrer als humorvoll. Zwischen Updikes Figuren herrscht eine seltsame Lieblosigkeit, der komplette Verzehr des Liebesmehrwerts der Sexualität bleibt nicht ohne Folgekosten, aber alle Romangestalten befinden sich spürbar in der liebevollen Hand ihres Schöpfers. Möge der unsrige ebenso liebevoll umgehen mit uns, so kann man vielleicht Updikes erzählerisches Gebet verstehen. Gnade uns Gott.

Montag, 12. Januar 2009

Abstieg ins Tal

Die Schneeschmelze war nicht länger zu übersehen oder zu leugnen, die verbliebenen weißen Felder und Placken wurden zusehends kleiner und verliefen, Wasserbäche stürzten über den Weg, und Geröll kam immer leichter in Bewegung. Ob ich nun zu Fuß unterwegs war oder auch im Jeep, angesichts der sich rapide verschlechternden Wegeverhältnisse war nicht zu spaßen, es galt vielmehr, sich zu sputen und auf dem Weg ins Tal und Aufenthalte und Verzögerungen zu vermeiden. Auf der Höhe des Berghofs konnte ich dann aber doch nicht umhin anzuhalten. Also hatte man tatsächlich begonnen, die Renovierungs- und Umbauabsichten, von denen ich gerüchteweise gehört hatte, in die Tat umzusetzen. Das kleinere Nebengebäude war schon gar nicht wiederzuerkennen, und es war auch nicht klar, ob es in völlig neuem Stil wieder erbaut oder aber gänzlich abgetragen werden sollte. Auch im Hauptgebäude klaffte eine große, mit einer Plane abgespannte Lücke. Jetzt trat der Hausherr, gerade erst von seiner Lohnarbeit im Tal zurück, vor die Tür und nahm Platz auf der Bank. Das Leben ging also unter diesen widrigen Umständen weiter, und sogar Augenblicke der Behaglichkeit blieben möglich. Die weibliche Gestalt allerdings, wenn es denn die Frau und nicht Mutter des Hausherrn war, zeigt deutliche Spuren der Verbrauchtheit und des harten Lebens am Hang. Margrit und die anderen waren mir verabredungsgemäß entgegengekommen aus dem Tal und hatten jetzt schon diese Höhe erreicht und waren am Berghof eingetroffen: deutlich zu viel Zeit hatte ich schon vergeudet. Auf keinen Fall konnten wir also noch fragen, ob denn der Gastbetrieb aufrechterhalten blieb, und eine Jause gereicht werden könne. Vielleicht hätte man das ohnehin als rücksichtslos angesehen und andererseits, vielleicht warteten sie nur darauf. Der angesagt Orkansturm war, soweit die gute Nachricht, bislang noch ausgeblieben.

Montag, 5. Januar 2009

Laboratorien


Gelesen: Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung

A la Remei, lost in strange and unknown worlds

Will man begrifflich über einen Weltausschnitt reden, muß man ihn Laborbedingungen unterwerfen. Das stellt die Philosophie, deren Aufgabe es ja ist, das Ganze im Auge zu behalten, vor besondere Schwierigkeiten, da die Welt kein Labor sein kann. Habermas etwa wird immer wieder der Vorwurf gemacht, er dehne die realen Laborbedingungen des philosophischen Hauptseminars bis an den Horizont, um dann über den Horizont und das, was hinter ihm liegt, etwas sagen zu können.

Goodmans globale Laborbedingungen überzeugen zumindest den, der gerne Philosophie rezipiert, ohne selbst über philosophisches Vermögen zu verfügen: Solange gegensätzlich richtige (Welt-)Versionen, die nicht alle auf eine einzige reduzierbar sind, zugelassen werden, ist Einheit nicht in einem ambivalenten oder neutralen Etwas unterhalb dieser Versionen zu suchen, sondern in einer sie alle umfassenden Organisation. Von geradezu poetischer Schönheit ist seine Anmerkung, daß die möglicherweise den verschiedenen Versionen zugrunde liegende Welt, die ausdrücklich zu bestreiten nicht lohne, ganz und gar verloren ist.

Aber natürlich kann auch Goodman, wenn er sich konkreten Weltausschnitten zuwendet, keinen gleichmäßigen begrifflichen Druck auf die Welt aufrecht erhalten. Im zweiten Kapitel wendet er sich Fragen des Stils zu: Manche sagen, so Goodman, der Stil beginne dort, wo Tatsachen aufhören, und Gefühle anfangen. Das ist locker hingeworfen, wer unter anderem mit Benn groß geworden ist, gehört offenbar nicht zu diesen Manchen, aber darum soll es gar nicht gehen. Goodman baut hier auch nur etwas auf, um es dann schleifen zu können. Dabei kann er diesem ohnehin zur Zerstörung bestimmten Gebäude nur reduzierte Aufmerksamkeit widmen. Gefühl gewinnt zwar im Prozeß der Zerstörung gewisse Konturen, geht letztendlich aber längst nicht mit vergleichbar scharfen Umrissen aus dem Gefecht wie Stil. Daraus ist kein Vorwurf abzuleiten, der gleichmäßige Blick auf die Welt ist allein die Sache Gottes und vielleicht die Sehnsucht einiger Künstler, Sebald hat sie bei Pisanello festgestellt. Aber vielleicht kann doch der Eindruck entstehen, daß Goodman für das komfortable Labor, das er sich zur Untersuchung der Symbolsysteme eingerichtet hat, eine recht hohe Miete zu zahlen hat.

Goodman akzeptiert den Vorwurf, er habe den Begriff der Denotation ohne Argument zum Kern der Darstellung gemacht, ohne weiteres. Das sei eine Setzung seines Theoriedesigns. Dann bleibt die Frage, wie klug diese Setzung ist. An einer Stelle erwähnt Goodman Fehden mit den Kollegen aus der Linguistik, der Streitgegenstand bleibt unerwähnt, sollte es die Denotation gewesen sein, würde das niemand verwundern.

Zu Don Quijote stellt Goodman fest, er könne nicht denotiert werden, weil es ihn einfach nicht gibt. Woher weiß Goodman das, und was bedeutet „einfach“? Ist die Einsicht der Innenschau entnommen? Von einer eingeborenen Don Quijote-Idee ist nicht auszugehen. Mehrheitsmeinung? Die klare Mehrzahl unserer Mitmenschen weiß nichts von Don Quijote geschweige denn von seiner vorhandenen oder fehlenden Denotierbarkeit. Cervantesforschung? Dann aber gibt er einem bestimmten Symbolsystem den Vorrang und gerät in die Nähe der zugrundeliegenden Welt, die er doch auf so schöne Art ganz und gar verloren hatte. Außerdem weiß niemand, ob die Cervantesforschung schon zum Ende gekommen ist, vielleicht erweist sich der Don Quijote ja doch noch als Schlüsselroman über einen gewissen, seinerzeit ganz realen, wenn auch im Augenblick uns noch unbekannten Don Quojite, die fiktionale Ausschmückung würde nicht stören und kein Argument sein, denn auch im realen Leben begegnen wir einander und zumal uns selbst nicht ohne ein dauerhaftes klares Übergewicht an Fiktion.

Die Sprache selbst macht denn auch nicht mit, zwischen den Ausdrücken: Don Quijote hatte einen Bart und: Cervantes hatte einen Bart gibt es keinen Unterschied, ein wie immer geartetes Denotationsformans tritt nicht auf. Und außerdem, warum sollte es in unserer Gegenwart auch Cervantes noch „mehr geben“ als Don Quijote, haben Zeit und Tod den Menschen Cervantes nicht inzwischen real fiktionalisiert? Die Zeit hat offenbar nur begrenzten Zutritt zu Goodmans Labor und der Tod gar nicht.

Die Wahrnehmung suggeriert uns unwiderstehlich die verlorene zugrundeliegende Welt als real, die Sprache ebenso unwiderstehlich als denotierbar. Wie immer die Welt aber sein mag, wenn sie denn ist, sie ist sicher nicht so, wie Wahrnehmung und Sprache sie uns suggerieren. Die Vorsicht, die inzwischen im Umgang mit dem Begriff der Realität, la gran hipótesis de la mente pensante, State of the Art ist, sollte sich auch auf den Begriff der Denotation erstrecken.

Der Tod hat keinen Zutritt zu Goodmans Labor, das unterscheidet es auf das angenehmste von biologischen Labors, in denen Affen gemartert und zerstört werden. Das Labor ist licht, angenehm temperiert, intelligent ausgestattet, versteht sich, und keineswegs ohne Humor. Wer sich dort für einige oder längere Zeit aufhalten und mitarbeiten darf, hat es sicherlich nicht schlecht getroffen.

Samstag, 3. Januar 2009

Gewohnheitsrecht

Sicher bin ich immer noch der erste, wenn es darum geht, den besonderen Adel des Gewohnheitsrechtes zu betonen, und der letzte, der nicht bereit wäre, verbleibende Sonneninseln der Unvernunft gegen die trüben Fluten der Vernunft zu verteidigen, soweit sich das vernünftigerweise rechtfertigen läßt. Geradezu heilig war mir immer die schöne Sitte, an dieser einen und einzigen Gefällstrecke in Kontinentaleuropa - es entzieht sich meiner Kenntnis, ob es auf den britischen Inseln, zu denen unter diesem Gesichtspunkt bekanntlich auch Malta zu rechnen ist, einen sozusagen gegenläufigen Hügel gibt – an dieser Gefällstrecke also es den Radfahrern freizustellen, die linke Fahrbahn zu benutzen. Beobachtungen aus der jüngsten Zeit zwingen mich aber einzuschreiten. Selbst habe ich schon gesehen, wie auch Fahrer von Motorrädern und Motorrollern das den Velofahrern vorbehaltene Privileg in Anspruch nehmen, andere wollen auch schon den einen oder anderen Kleinwagen auf der linken Fahrbahnhälfte gesichtet haben und nicht etwa beim Überholen, das vermittels einer durchgezogenen Linie ohnehin untersagt ist. Da kann es nicht mehr lange dauern, und der erste Sattelschlepper donnert links herab. Hier wird ganz offenbar mit Menschenleben gespielt. Schweren Herzens werde ich ein Verfahren zur Aufhebung dieser kontinentaleuropäischen Observanz anstrengen.

Es wundert mich in diesem Zusammenhang, daß, wie zu hören war, K. angereist sein soll, um die Antragsgegner zu vertreten. Eigentlich ist er es doch, der allenthalben für Gleichheit und Vernunft eintritt, und auch als leidenschaftlicher Freund der schönen Unvernunft der Künste ist er bislang nicht aufgefallen. Was mag ihn wohl bewegen? Bloßer Widerspruchsgeist, Langeweile, eine Möglichkeit, die langen Stunden und Tage zu füllen? Noch weiß er nicht, daß die Verbotsinitiative von mir ausgeht. Das Hotel, in dem er abgestiegen ist, werde ich besser großräumig meiden bis zum Prozeßbeginn.

Freitag, 2. Januar 2009

Homunculus

Gelesen: Heinsohn/Steiger: Eigentum, Zins und Geld

Liest man als Unbedarfter in wirtschaftstheoretischen Schriften, ergibt sich leicht das folgende Bild: Zahlreiche nicht unmittelbar verständliche Begriffe mit dem Wortbildungsteil „Grenz“, Tabellen und Formeln und in der Mitte des Ganzen der unablässig vorteilssuchende, rational tauschende Homo Oeconomicus, offenbar ein mit den kargen anthropologischen Merkmalen der Frühaufklärung ausgestatteter Homunculus. Nun fehlt es sicherlich nicht an Versuchen, den Homunculus Oeconomicus dadurch zu belegen, daß man ihn realisiert. Vor einem Telephonat verbringt der Homunculus nach dieser Vorstellung zwei Stunden mit der Suche nach der günstigsten Vorwahl, widmet den weiteren Vormittag der Frage, ob sein derzeitiger Gasversorger noch der richtige ist und verbringt den Rest des Tages mit Preisvergleichen, um den Kauf einer neuen Hose angemessen vorzubereiten. Ohne Frage gibt es empirische Annäherungen an diesen Idealtypus, in seiner Reinheit wäre er aber, darüber dürfte Einvernehmen zu erzielen sein, dem klinischen Bereich zuzuordnen.

Da ist es wohltuend, im Inneren einer ausgearbeiteten Wirtschaftstheorie den Homunculus Oeconomicus der anthropologischen Folklore zugewiesen zu finden. Heinsohn und Steiger periodisieren ähnlich wie Luhmann, wenn auch mit anderen Begriffsnamen, in primär segmentär (tribale), primär hierarchisch (feudale) und primär funktional differenzierte (freie) Gesellschaften und schränken das Wirtschaften im Sinne der modernen Wirtschaftswissenschaften allein auf die letztgenannte Gesellschaftsform ein. Modernes Wirtschaften ist nicht vom Tauschparadigma abzuleiten und damit auch schon beim Neandertaler festzustellen, sondern entsteht allein durch die gänzlich immaterielle, wirtschaftsendogene Umformung von ökonomisch - wenn auch zum Beispiel kriegerisch - nicht zu gefährdenden Besitz in beleihbares, blockierbares, verpfändbares und damit ökonomisch verlierbares und daher mit einer Eigentumsprämie ausgestattetes Eigentum. Die Theorie kommt weitgehend ohne nicht verifizierbare anthropologische Annahmen aus und befreit uns, wie immer es im einzelnen um sie bestellt sein mag, auf das angenehmste vom Homunculus Oeconomicus.

Die Ökonomie, aufgehängt am uneingeschränkt mathematisierbaren Geld wie sie scheint, gilt wohl als der am besten erforschbare gesellschaftliche Bereich. Was aber, wenn die Herkunft und die Natur des Geldes unbekannt oder falsch verstanden sind? Als Ausweg aus Wirtschaftskrisen empfehlen die Autoren eine radikale Neuverteilung des Eigentums nach dem Vorbild des Romulus zur Wiederherstellung der Verschuldungsfähigkeit. Es ist nicht ganz deutlich, ob sie darin lediglich die theoretisch wirksamste oder auch eine praktisch mögliche Maßnahme sehen. Immerhin ging es bei Romulus, wie überliefert ist, ja nicht ohne Blutvergießen ab.

Donnerstag, 1. Januar 2009

Im Schloßpark

Die Arbeiten an der Neugestaltung des Schoßparks sind abgeschlossen, eng zusammengepfercht stehen die Arbeiter, offenbar sämtlich sogenannte Gastarbeiter, auf der Ladefläche eines LKWs zum Abtransport bereit. Vielleicht sind es Palästinenser aus dem Gazastreifen, an Platzmangel gewohnt. Aber die ersten werden schon blau im Gesicht, dem Erstickungstod nahe, wie sollen sie die endlos lange Fahrt überstehen? Muß denn das Schöne immer noch mit dem Leid und dem Leben unzähliger Menschen bezahlt werden? Der Anblick wurde immer qualvoller. Wenn der Wagen doch wenigstens endlich abfahren würde uns aus den Augen.

Schon sind die ersten Staats- und sonstigen Ehrengäste eingetroffen zur Einweihungsfeier. Sie lustwandeln zwischen den nach französischer Art geschnittenen Büschen, Bäumchen und Hecken. Gaddafi steht sinnend an einem Wasserlauf. Welche tiefen Gedanken mögen ihn bewegen? Es war ein mehr als einfacher Gedanke, der ihn bewegte, eine schlichte Frage nur: Bin ich imstande, diesen Graben zu überspringen? Nun steht er da in seinem langen schwarzen Gewand, naß bis auf die Haut, es tropft aus seinem langen grauen Bart. Kann man sagen, er strahle auch in diesem Zustand noch Würde aus? Aber ist seine Würde nicht ohnehin ein immerwährender Popanz? Er begibt sich mit seinem Leibwächter zum Schloß die Kleider wechseln. Zu kurz gesprungen.