Samstag, 22. Mai 2010

Ká kaákakaá kaákaá

Auf- und absteigend in Wellen wie ein lang anhaltender Schrei: AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA.




Die Kultur der Pirahās, insgesamt vielleicht vierhundert Leute, mit Wohngebiet am Maici, einem Nebenfluß des Marmelos, dieser wiederum ein Hauptnebenfluß des Madeira, der seinerseits in den Amazonas fließt, muß uns dem Bericht Daniel Everetts in seinem Buch Don’t Sleep, there are Snakes zufolge sowohl in ihren materiellen als auch in ihren geistigen Aspekten als äußerst karg erscheinen. Keine Bauwerke ernsthafter Art, nichts mit Außen- oder Innenwänden, bloße Dächer auf aufgestellten Ästen, nichts, was auch nur einem einzigen Sturm standhalten würde. Reine Gegenwart, kein Interesse an Vergangenheit und Zukunft, wenig Rituelles, keine aufwendigen Mythenerzählungen und eine Sprache, der es am Notwendigen zu mangeln scheint, keine Zahlworte, kaum Abstraktion und wenig Generalisierung und vor allem keine Rekursivität, keine Möglichkeit, in den laufenden Satz fremde Aspekte hypotaktisch einzuspiegeln und damit nicht die geringste Möglichkeit, Sebald, den Großmeister der Spiegelung, in die Sprache der Pirahās zu übersetzen. Das ist sicher ein Verlust, denn Sebald erzählt seinerseits beifällig von den kleinen kupfrig glänzenden Leuten in der grünen Wildnis am Amazonas, und vieles deutet darauf hin, daß er bei den Kupferleuten, deren Sprache fast nur aus Vokalen besteht und vor allem aus den in unendlichen Variationen betonten und akzentuierten Laut A, die Pirahās im Sinn hatte. Dabei hat das Pirahā zugegebenermaßen neben drei Vokal- acht Konsonantenphoneme, der Glottisverschluß mitgezählt, und unter den Vokalen weiß man nicht recht, ob das A oder doch eher das I den Ton angibt. Zum einen aber bleibt die phonologische Potenz der Konsonanten oft ungenutzt, wenn die Bedeutung bereits auf anderem Wege geklärt wurde, sie variieren dann weitgehend frei, K für P &c., und zum anderen gibt es neben der Sprechversion des Pirahā eine Schreiversion, in der das A in der von Sebald ausgeführten Art dominiert, aus Kó Xiáisoxái, Baósaí wird Ká, Kaákakaá, kaákaá, und in einen ganz ähnlichen Schrei mündet schließlich die fragliche Erzählpassage in Austerlitz. - Zu meinen, bei der Pirahāsprache würde es sich um ein Stammeln knapp oberhalb der Artikulation handeln, wäre ein völlige Verkennung der Wahrheit, die Sprache hat ihre intrikaten Seiten, zwar ist das Hauptwort ohne Numeruskategorie, aber jedes Verb hat ein Minimum von fünfundsechzigtausend möglichen Abwandlungsformen, da muß die Inogermanistik auf der ganzen Linie passen. Wie jede Sprache ist Pirahā ein Gebilde der Schönheit, und wohl alle haben wir uns schon das eine oder das andere Mal gewünscht, befreit vom Übel, das wir erleiden, und dem, das wir zufügen, als Geister nur in unserer Sprache und von ihrer Schönheit zu leben.



Everett war ursprünglich als christlicher Missionar zu den Pirahās gekommen, und es ist nicht auszuschließen, daß die Gleichnisse Christi in ihrer, nach der Einschätzung Wittgensteins, metastilistischen Unmittelbarkeit und Einfachheit, sich in die Pirahāsprache hätten übersetzen lassen. Gleichwohl ist der missionarische Schuß, wenn man so sagen darf, nach hinten losgegangen, Everett hat sich in gewissem Maße von den Pirahās bekehren lassen und ist vom Glauben abgefallen.

Sowenig wie das Werk Sebalds läßt sich aber das säkulare Evangelium von Gleichheit und Menschenrecht den Pirahās sprachlich nahebringen. Es hat denn auch nicht an Versuchen gefehlt, Everett das Etikett des Rassismus anzuhängen, eine ebenso grotesker wie hilfloser Abwehrreflex des radikalen Universalismus, der hier, im Stromgebiet des Amazonas, auf seine Begründungsparadoxie stößt, um sich als ein bloßer Partikularismus der europäisierten Welt zu erweisen, der den Anschein von Universalität allein der erfolgreichen Vernichtung anderer Partikularismen verdankt. Sie würden Wahrheiten vertreten, so die Annahme der Universalisten, zu denen durch Bildung und Aufklärung jedermann notwendig gelangen müsse, was aber ist zu tun im Angesicht monoglotter Sprecher eines Idioms, dessen Außenhaut alle Bemühung um Aufklärung souverän abtropfen läßt. Die Pirahās sind gänzlich bildungsverschlossen, das Zählen auch nur bis zur Zahl Zwei wollen sie nicht erlernen, es fehlt ihnen jede sprachliche Vorratskammer für die Zahlenvorstellung.

Die Versuchung ist da, aber es fehlt der Mut zu sagen, auf die paar Urwaldbewohner käme es, das Große und Ganze vor Augen, nicht an. Die Menschenwürde nämlich, so haben wir gelernt, erlaubt kein Aufrechnen und Zählen, und auf einem großen Umweg haben wir uns damit den zahlenlosen Pirahās angenähert.

Man kann versuchen, sich damit zu trösten, daß die Pirahās offenbar ohnehin schon nicht wenige unserer großen kulturellen Kontrastträume real leben, keine nennenswerte Machtausübung, wenig Zwang, kaum Gewalt, Gleichberechtigung der Frau alles in allem zufriedenstellend - allerdings haben die Frauen einen Kononanten weniger zur Verfügung , das S ist den Männern vorbehalten ebenso wie die neben der Sprech- und der Schreiversion existierende Pfeifversion, und die Singversion der Sprache schließlich verwenden sie nicht auf die gleiche Weise -, Rousseaus edler Wilder scheint in der völlig unsentimentalen und von allen Idealisierungen freien Schilderung Everetts so gut als überhaupt nur möglich auf den Plan zu treten. Die Pirahās sind, Everett kann es nicht anders bezeichnen: glücklich, sie lachen fortwährend und am liebsten über eigene Mißgeschicke; auch unsere Lebensweise, heißt es, stehe ganz im Dienst des Pursuit of Happiness. Gleichwohl treten bei den Pirahās in nicht geringer Menge Aspekte auf, bei denen Bewohner der Ersten Welt, die inzwischen beansprucht, die Eine zu sein, große Mühe haben, an sich zu halten: Kinderarbeit schon im Vorschulalter, hundertprozentiger Analphabetismus, unterlassene Hilfeleistung in Fällen, in denen der Tod auf einfache Weise vermeidbar wäre, latente Mordbereitschaft gegenüber Nichtpirahās und andere mehr.

Das Quellgebiet des Amazonas liegt in Peru, und dort soll auch der Indiojunge wohnen, der, dem Trällerliedchen zufolge, so leben will wie du. Die Idee hat ihre Berechtigung dort, wo Angehörige von uns zerstörter Kulturen die Slums und Favelas der Städte bevölkern, außerhalb diese Kontextes ist es die pure Anmaßung und Selbstgefälligkeit, wir müssen wissen und es soll uns Trost sein: kein Piranhājunge will auch nur im entferntesten so leben wie Du oder gar ich.