Donnerstag, 2. Dezember 2010

Les jours et les plaisirs

Die Freude des Lesens, das Wohlgefühl und die Sicherheit, die es verschafft, werden vielleicht nirgends deutlicher als in der kaum zwei Seiten langen Erzählung Continuidad de los parques, der ersten in Julio Cortázars Band Final del juego. Jemand, so wird erzählt – sein Name bleibt ungenannt -, findet Gefallen an einem Roman, er muß die Lektüre aber zunächst wegen negocios urgentes zurückstellen. Dann aber am Abend, in seinem sillón favorito, überläßt er sich ganz dem erzählten Geschehen. Offenbar ist es ein Roman mit kriminalistischen Einschlag, ein Mensch mit einem puñal, einem Dolch, tritt auf, und irgendwann sieht es so aus, als habe er den vorgesehenen Rahmen der Geschichte verlassen und nähere sich in gefährlicher Weise dem Lesenden an, schon sieht er durch eine Tür la cabeza del hombre en el sillón leyendo su novela. Aber was kann dem Lesenden geschehen, im Nu kann er das Buch schließen, und der Messerheld ist hilflos und bewegungsunfähig eingeklemmt zwischen den Buchdeckeln oder doch von seiner Atemluft abgeschnitten. Und was gar könnte uns geschehen, die wir in unserem Lieblingssessel sitzen und die Geschichte lesen von dem Mann, der in seinem bevorzugten Lesesessel sitzt und die Geschichte vom Messerhelden liest. Daß der Meuchler mit seinem gezückten Dolch auch uns erreichen könnte, müssen wir in keiner Weise fürchten, für eine derartige Verkettung von unglücklichen Zufällen reicht die Zeit einer in gewöhnlicher Weise ablaufenden Ewigkeit bei weitem nicht hin. Sicherer als in unserem Lesesessel können wir unseres Lebens gar nicht sein.

Sonntag, 7. November 2010

Versandcouvert



Die Frage, ob der Jazz Kunstcharakter hat, ist müßig für den, der Miles Davis lauscht. Die Minister Pofalla und Röttgen planten einen Aufstand gegen Kanzlerin Merkel, ich sollte helfen. Zuvor aber mußte Pofalla aus dem Erdloch, das er bewohnte, umziehen in eine bürgerliche Bleibe. Über dem dachähnlichen Vorbau des Erdlochs ragte ein gefüttertes Versandcouvert hervor, an die drei Meter breit und vier Meter lang. Leider war es an der einen Ecke beschädigt und im Inneren nicht ganz sauber. Nicht weit entfernt aber lag ein gleichartiges und makelloses Exemplar, Pofallas gesamte Habe ließ sich darin unterbringen. Alles war bereit.

Montag, 18. Oktober 2010

Blick ins Wasser


Sie lief die Landstraße entlang, ich sah sie nicht, ich merkte nur, wie sie im Laufen schwang, wie ihr Schleier flog, wie ihr Fuß sich hob, ich saß am Feldrand und blickte in das Wasser des kleinen Baches. Sie durchlief die Dörfer, Kinder standen in den Türen, sahen ihr entgegen und sahen ihr nach.


Wir möchten mehr wissen, ist die Schöne auf der Flucht und vor wem? - denn schön stellen wir sie uns unweigerlich vor hinter ihrem Schleier. Die Szene wirkt bedrohlich, aber vielleicht täuschen wir uns, und es ist kein Fliehen, sondern Kurzweil, ein Spiel, ein Haschen. An eine bloße körperliche Laufertüchtigung, wie sie in dieser Art seither beträchtlich um sich gegriffen hat, können wir nicht glauben. Kafka schaut in das Wasser des kleinen Baches, sieht nicht viel von der Umgebung und verrät noch weniger. Wir schauen daraufhin hilfesuchend in die Schwindel.Gefühle, die wir immer mehr als einen Kommentar zu Kafkas Werken verstehen, und stoßen bei den Recherchen auf eine nicht veröffentlichte, im Schattenreich verbliebene Episode, die vieles erklärt. Offenbar konnte Beyle die Flüchtige trotz seiner Beleibtheit erhaschen, vielleicht mit einfachen Mitteln der Telepathie, denn bald sehen wir die zwei schon wieder einträchtig in den Bergen, wo es kühler und grüner wurde um sie herum, worüber sich Mme Gherardi, die so oft unter den staubigen Sommern ihrer Heimat zu leiden hatte, aufs äußerste entzückt zeigte.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Tauromachie

Kafka hat das Land Spanien geliebt. Die zunächst recht konventionelle Theorie zum Don Quijote, dessen Unglück sei nicht seine Phantasie, sondern Sancho Pansa, hat er alsbald verfeinert und auf den Kopf gestellt: Sancho Pansa gelang es, einen Teufel, dem er später den Namen Don Quijote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemanden schadeten. – Vor allem aber hat er sich intensiv mit Spaniens maßgeblicher Berufsgruppe befaßt, den Stierkämpfern:

Manchmal geschieht es, die Gründe dessen sind oft kaum zu ahnen, daß der größte Stierkämpfer zu seinem Kampfplatz die verfallene Arena eines abseits gelegenen Städtchens wählt, dessen Namen bisher das Madrider Publikum kaum gekannt hat. Eine Arena, vernachlässigt seit Jahrhunderten, hier wuchernd von Rasen, Spielplatz der Kinder, dort glühend mit kahlen Steinen, Ruheplatz der Schlangen und Eidechsen. Oben an den Rändern längst abgetragen, Steinbruch für alle Häuser in der Runde, jetzt nur ein kleiner Kessel, der kaum fünfhundert Menschen faßt. Keine Nebengebäude, keine Ställe vor allem, aber das Schlimmste, die Eisenbahn ist noch nicht bis hierher ausgebaut, drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg von der nächsten Station.

In Kafkas Tagebüchern, Heften und Blättern sind zahllose Edelsteine zu finden, nicht selten haben sie den Glanz des Staubs, das Leuchten verlassener und heruntergekommener Orte. Zwei davon, die Barke des Jägers Gracchus und den Dachboden des Jägers Hans Schlag, hat Sebald hervorgezogen und ihren Glanz in den Schwindel.Gefühlen leuchten lassen. Man fragt sich, was aus der verlassenen Stierkampfarena geworden wäre unter seinen Händen.

Man kann sich des weiteren fragen, ob überhaupt jemand den Austragungsort der Corrida erreicht. Auch dem glühendsten Aficionado dürften drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg im Anschluß an die Bahnfahrt zu denken geben, und gar der Stier, wo sollte er sich aufhalten, wenn keine Nebengebäude, keine Ställe zu finden sind. Wir sehen lediglich den von ungefähr eingetroffenen Matador inmitten der Kinder, die hier grad so spielen wie auf der Kaimauer in Riva bei der Einfahrt der Barke des Jägers Gracchus, und inmitten der Schlangen und Eidechsen, die ihn umschwärmen wie den Major Le Strange das Federvieh; der aber war zuvor Georg Miles gewesen und hatte die große Echse zur Strecke gebracht. Wir nennen den bis dahin namenlosen Matador Jordi und erleben ihn in der seiner Herkunft angemessenen Einsiedelei. Dem blutigen Treiben hat er den Rücken gekehrt.

Freitag, 20. August 2010

Europäische Neuordnung

Im


ist zu lesen:

Selon cette théorie l’ancestre de la langue basque aurait été parlé dans toute L’Europe occcidentale avant la venue par vagues successives des peuplades indo-européennes. Cette hypothèse a été plus récemment élaborée à partir des données de l’étude génétique des populations européennes actuelles. On y observe une concentration décroissante et régulière à partir du Pays basque vers le reste de ‘Europe d’un certain type d’AND. Or, l’on sait que la population européenne durant la dernière glaciation s’est réfugiée dans le Bassin aquitain ainsi que les Pyrénées, seules zones encore habitables. Chose que la topomymie tendrait à démontrer.



À partir du Pays basque vers le reste de ‘Europe. - Falls es der Toponymie gelingen sollte, zu den Ergebnissen der DNA-Analyse aufzuschießen, wären Europa und das Christliche Abendland in der jetzigen Form nicht mehr zu halten. Der ETA wäre die Stoßrichtung genommen, und allenfalls bliebe die Frage, ob die Basken bereit wären, den Rest Spaniens weiterhin als Teil von Euskal Herria zu dulden. Alle europäischen Institutionen wären umgehend von Brüssel und Straßburg nach Bilbo zu verlagern, Baskisch, als die einzig wahrhaft europäische Sprache der einzig wahren Europäer, würde obligatorisch an allen Schulen von Lissabon bis zum Ural, die Ungarn, Finnen, Esten und, horribile dictu, die Türken, die alle bereits die längste Zeit behende agglutinieren, hätten einen enormen Startvorteil. Europa hätte sein Herz und seine Mitte, hätte zu sich gefunden.




Donnerstag, 12. August 2010

Pyrenäenmütze

Dos senyors

Munduan ez da guizonic nic ana malura debenic


Abgesehen von den Feriengebieten an der Küste kennen und wissen viele von Spanien nicht mehr als von Polen, einem Land, von dem die Deutschen bekanntlich wenig wissen. Zwei Bevölkerungsgruppen, die Basken und die Katalanen, so hat man gehört, fühlen sich dem spanischen Land nicht recht zugehörig. Das mag auf das Pyrenäengebirge - für die einen Pirinioak, für die anderen Pirineus - zurückzuführen sein, das sie sich teilen. Das um einiges heftigere Bestreben des Basken nach Eigenständigkeit mag dem für einen Augenblick einleuchten, der die Welt weniger politisch als philologisch erlebt, denn das Baskische hat unbestritten mit dem Spanischen ebensowenig Verwandtschaft wie mit irgendeiner anderen Sprache; von daher bestünde für die Basken ein Anspruch auf uneingeschränkte Isolation, während den Katalanen unter dem gleichen Gesichtspunkt nur eine maßvolle Absonderung zusteht. Beide, Katalanen und Basken, haben traditionell eine Vorliebe für die gleiche Art von Kopfbedeckung, für die einen die Boina, für die anderen der (die, das: das Baskische kennt kein grammatisches Geschlecht) Txapel. Die deutsche Baskenmütze ergreift unnötig Partei, man sollte von Pyrenäenmütze sprechen. Sowohl Pio Baroja, den Basken, als auch Josep Pla den Katalanen hat man, nachdem sie ein gewisses Alter erreicht hatten, mit der Pyrenäenmütze vor Augen. Reicht das hin, um sie gemeinsam zu betrachten?

Bei Baroja, dem um einiges Älteren, dominiert das fiktionale Werk, Pla hat die Fiktion - wie die wenigen Ausnahmen zeigen: zu Recht - gemieden. Pla hat den Petit món del Pirineu durchwandert, Baroja Blick geht hinaus aufs Meer, folgt den Pilotos de altura. Was Pla der pagès ist, ist Baroja der marinero. Immerhin wagt sich auch Pla mit Un senyor de Terra del Foc weit hinaus übers Meer.

Ist aber der Unterschied etwa zwischen Fiktion und Biographie entscheidend? Plas Rafael Puget gewidmetes Buch Un senyor de Barcelona besteht aus einer Galerie von Personen, denen Puget in seinem Leben begegnet ist, der General Savalls, Ramon Casas, Ramon Casellas, Emili Junoy, Vazques Mella &c. Barojas Shanti Andía beginnt mit Kapitelüberschriften wie Mi abuela, La tía Ursula, Lope de Aguirre, Mi tío Juan. Die Personen sind mit wenigen Strichen gezeichnet, die sie nicht umreißen, sondern ihnen von Innen den notwendigen Halt geben für freie Bewegung. Sie werden emporgehoben für einen Augenblick, daß der Leser sie erkenne, und wieder frei gelassen. Es kommt nicht zu den ermüdenden Beziehungsgeschichten, die heute dominieren, so als würden die Verlorenen der Jetztzeit einander suchen mit giftigen Tentakeln, con sus horribles brazos llenos de ventosas. Die Grenze, an der die Figuren sich ernst nehmen und nicht ernst nehmen, ist bei beiden die gleiche. He tenido fama de indolente y optimista, de indiferente y apático, heißt es bei Baroja. Die Menschen haben eine enorme Bewegungsfreiheit untereinander und gegenüber ihrem Autor, sind von großer Desinvolture und Ungezwungenheit und vertreten gern haarsträubende Theorien: Según él, en la raza blanca no hay más que dos tipos: el cabeza redonda y el cabeza larga: Caín y Abel. - Der eine über den anderen: Baroja és un paisatgista finíssim, a la manera del realisme dels impressionistas i un retratista fascinador, viu, animadíssim.

Kann man die Menschen auch heute noch so schildern? Las condiciones en que se desliza la vida actual hacen la mayoría de la gente opaca i sin interés. Hoy, a casi nadie le occurre algo digno de ser contado.
Muchas veces me he figurado ser unicamente dos pupilas. Wem würde da nicht der Blick des Selysses in den Sinn kommen.


Dienstag, 10. August 2010

Crêuza de mä

Man hört ein Lied in einer Sprache, die man nicht versteht, hat sich aber kundig gemacht über die Bedeutung des Titels. Das Lied geht nun schon über fünf Minuten, spärliche Verständnisbrocken aus benachbarten Sprachen, und dann, endlich, die musikalisch betonten Titelworte: Crêuza de mä. Ein Licht bis zu Horizont, umfassendes Verständnis, die ligurische Küste liegt strahlender da als für alle, die dort gewesen sind. Kann man sich so die Offenbarung vorstellen, als plötzliches Verstehen einer Sprache, die man nicht kennt?


Gleich darauf bricht eine Frauenstimme in einen grellen Schreigesang aus, lang gezogene, kaum modulierte Schreie, die traumwandlerisch ihren Ton treffen und plötzlich abbrechen. Wie könnte man schöner auf die Offenbarung antworten.

Mittwoch, 4. August 2010

Tenente Drogo

Il periodo non mi è stato detto

Das Morphem ESK ist keinem anderen Dichter auch nur annähernd so zugewachsen wie Kafka, um sich von dort über die Welt zu verstreuen und Myriaden von Welteindrücken und Literaturerzeugnissen zu bezeichnen, wenn sie nur auf die eine oder andere Weise ins Absonderliche und Ungewohnte ragen. Die Anwendung auf Buzzatis Tartarenbuch wäre längst nicht die fehlgehendste.


An einem entlegenen Ort, einem Schloß, einem Fort erscheint ein noch junger Landvermesser, ein noch junger Leutnant für eine zeitlich eng bemessene berufliche Tätigkeit, schon gleich aber wissen wir, er wird diesen Ort nicht wieder verlassen. – Wir brechen ab, noch manche Verwandtschaft wäre zu nennen, aber zum einen fördert jede Ähnlichkeit nicht weniger als fünf Verschiedenheiten zu Tage, und zum anderen ist der Vergleich mit Kafka fast regelmäßig niederdrückend für den Verglichenen.


Aber Literatur aus Literatur entsteht und Lesen bedeutet ganz wesentlich auch Vergleichen, wir können daher gar nicht anders, als an Joseph Roths galizische Garnisonsstädte denken, an Puschkins Hauptmannstochter, an John Fords Außenpostenfilme, die Musik zum Film Il deserto die Tartari aber ist von Ennio Morricone, und damit sind wir beim Lied vom Tod.


In der Eingangsszene der Moments Musicaux, die uns wie einer der Filmeingangszenen Sergio Leones nachgezeichnet erscheint, heißt es: Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Auch bei Buzzati stoßen wir schon bald auf den hohlen, unaufhaltsamen Takt des Todes: Ploc! eccolo ancora l’odioso suono. È la cisterna, signore tenente, ripose il soldato, non c’è niente da fare. Tutti si lamentano, ma non si è potuto far niente. - Cominciava per lui l’irreparabile fuga del tempo.


Wachen, nicht schlafen, ist ohnehin die Devise im Fort, da fällt das schlafraubende Tropfgeräusch wenig ins Gewicht. Für den jungen Leutnant Drogo entleert sich die Welt schnell von allem, was bislang sein Leben ausgefüllt hatte, das Leben, in das er eigentlich nach wenigen Wochen, allenfalls Monaten zurückkehren wollte. Es ist eine mönchische Welt, in die er eingetreten ist, eine Welt der Entsagung, rinuncia. Während aber die Welt der Mönche geltend macht, auf ein Zentrum der Fülle ausgerichtet zu sein, verwalten die militärischen Rituale im Fort einzig das Nichts. Es ist eine Art Strafkolonie der Freiwilligen, daß man aufgrund eines Irrtums, sbaglio, hier sei, eine reine Schutzbehauptung. Der Blick geht hinein in den leeren Raum der Tartarenwüste, ohne den Horizont zu erreichen. Nach Jahren ist es ein gesatteltes Pferd ohne Reiter, das für Aufregung sorgt, wiederum Jahre später führen winzige Punkte, nur erahnte Bewegungen am nördlichen Horizont der Wüste zu riesigen und gewagten Deutungsgemälden.


Von den Bewohnern des Nordens, den Feinden weiß man wenig. Sprechen kann man mit ihnen nicht. Die Sprache des Südens kennen sie nicht, sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie die Dohlen. Immer wieder, käme man ihnen nahe, hört man diesen Schrei der Dohlen. Die Lebensweise, die Einrichtungen der Menschen im Süden sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgültig. Oft machen sie Grimassen, dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. - Eine einzige Hoffnung hält die Bewohner des Forts aufrecht, die auf einen Krieg, und der ewige Friede ist ihre Strafe.


Die wilden Interpretationen der winzigen Punkte werden wahr, die Bewohner des Nordreiches haben eine Straße gebaut und greifen das Fort an, um sich zu nehmen, was sie brauchen. Im gleichen Augenblick aber wird Drogo, inzwischen mehr als fünfzig Jahre alt, Major und stellvertretender Kommandant, krank auf den Tod aus dem Fort in die Stadt transportiert. Betrogen um den Krieg, der einzigen Hoffnung und dem einzigen Sinn seines Lebens, muß er sich dem wahren Feind stellen, dem ultimo nemico, von dem es heißt, er sei einmal besiegt worden - aber nicht alle sind davon überzeugt -, dem Feind, der sich nimmt, was er braucht. - Wir Älteren können kaum begreifen, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf oder Fort zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für eine solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht. – Alle Wege führen zu Kafka zurück.


Montag, 2. August 2010

Das Antlitz der Dichter

Mit Bildfragmenten von Josep Maria Melció i Pujol, den wir vor langen Jahren kennenlernen durften



Die Auffassung, jedermann sei ab einem gewissen Alter selbst verantwortlich für sein Aussehen, sein Gesicht, findet kaum Widerspruch, und auch daß es Menschen mit traditioneller, Wetter und Wind ausgesetzter Lebensweise leichter falle, die in dieser Feststellung enthaltene Verpflichtung zu erfüllen, findet Zustimmung. Fast schon wie der Stein sind sie den bildnerischen Unbilden der Welt ausgesetzt, und wenn größere Störungen aus dem Innenleben ausbleiben, kann die Formung eigentlich gar nicht mißlingen.


Das Gesicht der Dichter sind üblicherweise weniger den atmosphärischen Einflüssen ausgesetzt als dem fortwährende Hauch der Sätze. Was aber sollte ein Gesicht mehr prägen als dieser ständige sanfte Druck auf seine Innenwand, schließlich werden auch in der Karosserietechnik störende Dellen vorsichtig durch Druck von der Innenseite her beseitigt.


Der katalanische Dichter Josep Pla ist ein Glücksfall für unsere Überlegungen. Plas Gesichtsmaterial ist das der Landbevölkerung seiner Heimat, sein Gesicht ist herb, souverän, frei, abweisend und unendlich freundlich. Er hat sein Land, die kleine Pyrenäenwelt, in allen Richtungen durchwandert und sich den prägenden Außeneinflüssen ausgesetzt. In einem gewissen Alter, dem, auf das es ankommt, hat er sich die Boina offenbar dauerhaft aufgesetzt und war seither unter der Bauernschaft nicht mehr erkenntlich. Wer aber seine Bücher liest, dem wird es nach kurzer Zeit nicht mehr gelingen, das Antlitz des Dichters von den Sätzen zu unterscheiden.


Pla hat er die kleine Pyrenäenwelt vollständig in Sätze umgeformt und Bücher geschrieben mit Titeln wie Un petit món del Pirineu, Cadaqués, Mieres i la Garrotxa, Olot, Les valls d’Andorra, De l’Empordanet a Andorra und De l’Empordanet a Barcelona. Er hat das Land zu jeder Zeit des Jahres durchwandert: De l’any nou a l’estiu und De l’estiu a fi d’any – und dabei der ländlichen Bevölkerung besondere Aufmerksamkeit geschenkt: El pagès i el seu món. Plas Gesicht unterlag einer Oberflächenbarbeitung von außen durch das Land und von innen durch die Sätze über das Land. Wer das Land Katalonien liebt, wird die Sprache dieses Landes lieben, wird Plas Bücher lieben, wird sein Gesicht lieben. Wer die Sprache liebt, wird Plas Bücher lieben, wird sein Gesicht lieben, wird das Land Katalonien lieben. Wer Plas Bücher liebt, wird sein Gesicht &c., die totale zirkulare Permutation.


Was sich bei Pla besonders eindrücklich zeigt, hat allgemeine Gültigkeit. Je mehr und tiefer wir einen Dichter lesen, desto nachdrücklicher wird uns seine Gestalt und zumal sein Antlitz zum Abbild seiner Texte, so als liege dort ihr Geheimnis verborgen, so als könnten wir sie auch unmittelbar dort entziffern. Auch Überlegungen, das Hirn werde beim Lesen literarischer Texte, abweichend von seiner üblichen Arbeitsweise, zu einer Art unmittelbarem Sinnesorgan verhindern nicht eine visuelle Sehnsucht, die sich vor allem auf das Antlitz des Dichters richten mag. Viele Leser werden ein Erlebnis dieser Art haben, aber jeder wird die Einheit von Text und Antlitz anders erleben, wie auch schon jeder die Texte anders erlebt. Wir lesen und können und wollen uns das Gesicht des Dichters nicht fortdenken. Wer wollte die Geheimnisse der Mrs. Dalloway oder des Leuchthauses in einem anderen Gesicht entziffern als in dem Virginia Woolfs. Wer wollte bei der Lektüre des Stechlin oder der Effi Briest darauf verzichten, Fontanes Gesicht aufzurufen. Wer sich aber mit dem Gesicht eines Dichters nicht anfreunden kann, wird ihn auch nicht mehr lesen, und wenn er ihn weiter liest, wird er sich anfreunden mit dem Gesicht. Mit der Schönheit des Alltags hat das wenig zu tun, Nichtleser werden Updike, um ihn zu nennen, wohl nicht als schön empfinden, seinen Lesern aber ist sein Gesicht von den Texten erleuchtet. Der Leser wird ein Bild des Dichters aus dem von ihm selbst verantworteten Alter wählen - bei Fontane ohne besondere Mühe, denn der hat erst wirklich begonnen, als er uneingeschränkte Hoheit hatte über sein Gesicht - freilich aber eine Ausnahme machen, wenn einer wie Novalis stirbt mit dem Aussehen eines jungen Engelsanwärters, wie wir ihn einzig kennen.

Montag, 26. Juli 2010

Catalunya


Die Katalanen haben den Stierkampf untersagt, wir wollen sie dafür weder loben noch tadeln. Die Katalanen sind anders als die restlichen Spanier, das wird deutlich, wenn sie ihren heimischen Tanz, die Sardana, ausführen, der denkbar größte Widerpart zum Flamenco. Die Katalanen sind glücklich darin, schtschastliw tjem, daß sie mit Josep Pla einen Prosaisten der Premiumklasse haben, der praktisch jeden Quadratmeter ihres Landes in einen Satz umgeformt hat.


Plas Gesicht ist bäuerlich, souverän, frei, abweisend und unendlich freundlich. Er gehört zu den Dichtern, bei denen es nach kurzer Zeit nicht mehr gelingt, das Antlitz von den Sätzen zu unterscheiden. Bei You Tube findet man eine Interviewreihe mit dem gleichen Fragensteller, der auch Juan Carlos Onetti befragt hat. Beide, Pla und Onetti, rauchen ohne Unterlaß. Onetti setzt mit ausholender Geste die nächste Zigarette zivilisierter Bauart in Brand, Pla hat ein verbogenes Etwas im rechten Mundwinkel kleben, so als ginge es ihn nichts an, auch dafür lieben wir ihn. Das Gespräch wird in kastilischer Sprache geführt, das ist schade auch für den, der das eine nicht besser versteht als das andere. Plas Gesicht ist das der katalanischen Sprache, das Kastilische hat viele Gesichter.



Montag, 12. Juli 2010

Sancho Pansa

Eine neue Wahrheit über

Die Wahrheit des Sancho Pansa

Sancho Pansa, der sich dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Bereitstellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend und Nachtstunden einen Teufel, dem er später den Namen Don Quijote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemanden schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortungsgefühl dem Don Quijote auf seinen Zügen und hatte und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.



Benjamin hat diese Erzählung als Kafkas bedeutendste angesehen, und das mindeste, was man tun kann, ist, nicht in Wettstreit zu treten mit seiner Deutung, und stattdessen einen Seitenweg einzuschlagen. Es fällt auf, daß Cervantes, dem Nelson Goodman die Denotierbarkeit bescheinigt, nicht mit von der Partie ist, während Don Quijote, dem er sie verweigert, eine überraschende erhält: die des Teufels. Goodman wird entgegnen, alles bliebe beim alten, der Teufel sei seinerseits nicht denotierbar, aber das kann er nun wirklich nicht wissen.

Sancho Pansa wird zum Autor des Don Quijote, schlüpft also in die Rolle des Cervantes, der daraufhin zusammen mit Sancho das Privileg der Denotierbarkeit im Sinne Goodmans ersichtlich eingebüßt hat. Es wird ihn nicht besonders traurig stimmen, und ob die Toten denotierbar sind, ist ohnehin die Frage.

Sancho Pansa habe sich dessen, also seiner Autorenschaft, nie gerühmt, das klingt wie eine Notiz nebenher, die Kafka sich für einen möglichen späteren Gebrauch am Zeilenrand gemacht hat. Bei näherer Betrachtung aber fragt sich in der Tat, warum hätte Sancho sich rühmen sollen, er hat sich schreibend nur selbst geholfen und von seinem Dämon befreit, indem er ihn fiktionalisiert auf Abenteuerreise schickt. Das ist anerkannt als eine mögliche Quelle der Autorenschaft, bei Sebald heißt es im gleichen Sinne, daß ihm die nicht mehr von der gewohnheitsmäßigen Schreibarbeit ausgefüllten Tage ungemein lang wurden, und daß er tatsächlich nicht mehr wußte, wohin sich wenden. Zu rühmen gibt es dabei nichts, denn letztlich hat er wohl nicht gewußt, ob er als Autor und Gefolgsmann seiner Figuren klüger oder verrückter geworden ist. Der Autor kann bereits froh und beruhigt sein, wenn er, wie Don Quijote, niemandem schadet.

Literatur kommt aus Literatur, die heilsame Fiktionalisierung des Dämonen setzt die Bereitstellung einer Menge Ritter- und Räuberromane voraus. Abend- und Nachtstunden: die Stunden des Dämons und die Stunden, in denen Kafka vorzugsweise den seinen bekämpft hat.

Ein freier Mann: eine weitere dieser anscheinend willkürlichen Zuschreibungen aus dem Off, die Kafkas Zeilen Brise und Aufwind verleihen, eine Frische, die sich auch dann nicht verliert, wenn sich das Textstück als semantisch überaus integriert erweist. In der Tat: solange er schreibt und den Dämonen verscheucht, ist der Autor befreit und frei.

Neben Cervantes fehlt eine weitere Person im Bilde, die des Lesers. Ist nicht vorzugsweise er es, der von den verrücktesten Taten eine große und nützliche Unterhaltung hat bis an sein Ende? Cervantes muß sich seinen Platz im Inneren des Sancho Pansa teilen. Sancho ist weder Cervantes noch der Leser, sondern das eigenständige Modell zwischen der Phantasie des Autors und derjenigen des Lesers, in dem die verrückten Geschichten sich einrichten müssen, sollen sie denn gelingen.

Die Wahrheit über Sancho Pansa ist, neben vielem anderem, die bündigste Erzählung vom Entstehen und der heilsamen Kraft der Literatur.

Samstag, 10. Juli 2010

Dear Heather

white from the winter


Die Welt ist Selektion, alles kann nur sein, weil anderes nicht ist, das ist überdeutlich gerade im Reich der Formen. Das Etwas kann das Nichts kaum einschüchtern, die Selektivität der viertausendseitigen Recherche du Temps Perdu ist, aufs Ganze gesehen, nur in vernachlässigbarer Weise geringer als die eines Haiku. Eine größere Aufgabe als die, über das zu schreiben, worüber ein Dichter geschrieben hat, wäre es, über das zu schreiben, worüber er nicht geschrieben hat. Dabei kann es nicht um das große Nichts gehen, das schwärzeste der schwarzen Löcher, sondern nur um die kleinen Nihiles an den Rändern des Etwas.

Dear Heather
please walk by me again

with a drink in your hand
and your legs all white
from the winter.


Ein karger Liedtext, auch wenn die Vortragszeit immerhin 3:41 Minuten beträgt, offenbar näher beim Haiku als bei der Recherche, small wonder, Cohen hatte zuvor mehrere Jahre beim und mit dem Meister des Zens Sasaki Roshi verbracht. Das umgebende Nichts ist um ein Unmeßbares aber doch Auffälliges größer als bei Proust, umso größer ist auch die Verlockung, sich in das umgebende Nichts einzuschreiben. Welchen Status des Text es soll man denken. Denkt man sich die wenigen Worte als geschrieben in einem Brief, auf Papier oder elektronisch. Werden sie gesprochen, vielleicht am Telephon. Gelangen diese Worte auf einem dieser Wege zu Heather, wird der Brief abgesandt, murmelt der Homo Lyricus die Worte nur vor sich hin, denkt sie vielleicht nur, wagt kaum sie zu denken, hat ihn aller Mut verlassen. Gegen Ende des Liedvortrags werden einzelne Wort buchstabiert, DawweljuAiEnTiAhr, sucht der Dichter nach Klängen und Tönen, ist das Lied, das wir hören, der erste und ursprüngliche Weg der Übertragung auch an Heather, die wir uns nicht anders als lebendig und schön vorstellen wollen, dear Heather.


Please walk by me again, Bescheidenheit spricht hier, nicht äußerste Nähe wird erfleht, im by allerdings doch eine nicht geringe emotionale Nähe, war das vielleicht schon zu verwegen: with a drink in your hand, Dich vielleicht nicht einmal berühren, der kühle Wein, fast eisig noch vom Winter, könnte verschüttet werden. Die goldene Flüssigkeit im Kristallglas, Emblem des eingefangenen und gezähmten Glücks. You stand there so nice in your clear air of ice.

With your legs all white from the winter – ist die Weißheit der Beine ein besonderer erotischer Thrill, alles nur Verzögerung und Steigerung, und wie würde das passen zu I’m crazy with love but I’m not coming on. Ist der für die Blässe der Beine verantwortliche Winter vorüber oder dauert er noch an. Hat der Sänger dear Heather den ganzen Winter über nicht gesehen. Ist es überhaupt ein kalendarischer Winter, oder eine längere, womöglich eine schlimme Zeit. Ist es der Winter des Lebens. Sind die Haare womöglich weißer noch als die Beine. Der Dichter räumt ein: Well, my friends are gone and my hair is grey, seine Frauen aber bleiben for ever young, und wenn sie gar älter sind als er, der alte Mann, dann nur um den Preis seiner radikalen, perversen Verjüngung:

Women have been
exceptionally kind to my old age.

They bend over the bed
and cover me up
like a baby that is shivering.


Steht der weiße Winter für Reinheit, für Askese, für Leere, für das Nichts, das Nichts nicht nur riesig an den Rändern des Textes, sondern auch als Abgrund in ihm. Heather aber wollen wir uns nicht anders als schön und lebendig vorstellen.


Das ist soweit nur küstennahes Navigieren in Sichtweise der Gestade des Etwas, die Syrenen locken zu Großer Fahrt auf den Meeren des Nichts.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Artes

Blade Runner



Die Künste sind auf die Sinne angewiesen, die Musik auf das Ohr, Malerei, Bildhauerei und Architektur auf die Augen, Tanz auf das Auge oder, sofern mit Musik unterlegt, auf Auge und Ohr, Theater und Film auf Auge und Ohr. Geschmack und Geruch, die sich aus der gleichen Quelle speisen sollen, werden die Koch- oder auch Eßkunst zugeordnet, aber nicht alle sind vom hohen Rang dieser Kunstform überzeugt. Die Sinnesdaten gelangen ins Hirn und werden dort nach der Überzeugung der Konstruktivisten nicht etwa nur entgegengenommen, sondern recht eigentlich erst hergestellt. Diese Frage soll hier auf sich beruhen.


Was ist mit der Literatur? Das Auge ist zuständig, wird man sagen, man liest mit den Augen, aber Literatur ist ein Begriff aus einer späten Phase, zuvor wurde gesprochen oder auch gesungen. Literarische Hörbücher rücken vor, man muß nicht mehr lesen, und Robert Dylan ist bereits mehrfach für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht worden, das wäre ihm als reinem Textdichter nicht widerfahren. Die Erfahrung von Literatur als Kunst ist weder eine des Auges noch des Ohres. Kann man vielleicht sagen, daß bei Schöner Literatur Ohr oder Auge eine zwar notwendige darüber hinaus aber nicht wichtige Zubringerfunktion haben, da, anders als bei den anderen Kunstformen und anders auch als bei anderen Texten, das Hirn selbst als Sinnesorgan genutzt wird? Das Hirn schaltet um auf einen anderen, wahrnehmenden Modus des Vestehens. Die Stille der Buchstaben scheint dabei dem Lärm des Ohres denn doch vorzuziehen zu sein.


Die Kunstformen sollen ineinander verwandelt werden. Die Musik scheint gegenüber dieser Zumutung weitgehend sicher. Sie kann hinzugezogen werden als Tanz-, Film oder Opermusik, unterliegt aber keiner Metamorphose. Einige, die es wissen wollen, behaupten allerdings, die tiefste Erfahrung der Musik ergebe sich beim stummen Lesen der Partitur. Das wäre dann zwar keine Verwandlung der Musik in Literatur - anders als die notierten bedeutungslosen Klänge können die notierten Wörter die Bedeutungen nicht abschütteln - aber doch eine erhebliche Annäherung an sie und das Hirn würde ein weiteres Mal zum Sinnesorgan. - Auch die Koch- oder Eßkunst scheint auf der sicheren Seite, sie kann in Film, Theater und Literatur thematisiert werden, aber das ist nicht das gleiche wie Umwandlung, und was die Mimen tatsächlich essen, weiß ohnehin niemand, auch wenn sie die Augen rollen in gespielten Entzücken. Peter Weiss und Sebald haben gezeigt, wie sich Werke der bildenden Kunst in Literatur verwandeln lassen, die häufigste Metamorphose aber ist wohl die der Verfilmung. Nach unserem Ansatz würde dabei eine Kunstform, die das Hirn von der bloßen materiellen Zuführung abgesehen unmittelbar als Sinnesorgan nutzt, in eine verwandelt, die Auge und Ohr vorschaltet.


Blade Runner
ist alles in allem ein schlichtes Buch, das Hirn arbeitet wie gewohnt als denkendes Hirn, wenig angestrengt überdies, und auch bei denen, die über den Umschaltmechanismus verfügen, kaum je unmittelbar als Sinnesorgan - manchmal allerdings doch. Blade Runner ist zutiefst deprimierend und insofern ein gutes Buch. Der Autor, Philip K. Dick, wird als Pulp-Fiction Kafka bezeichnet, aber was Kafka im steilen Winkel eines Satzes erledigt, dafür benötigt Dick aufwendige thematische Konstruktionen. Am eindrücklichsten vielleicht das Motiv der Tiere, die nur noch in Form seltener Zuchtexemplare als Pets verfügbar sind. Das nach wie vor gültige Knappheitsgesetz der Ökonomie hat den Wert der Tiere ins Unermeßliche steigen lassen. Ein wahrhaft lebendiger Strauß kostet dreißigtausend Dollar, ein elekronischer nur achthundert. Die Haltung eines lebendigen Tieres ist zum Statussymbol schlechthin geworden.



Am besten sollten nur Bücher Kategorie der Kategorie Blade Runner verfilmt werden, nicht eine Metamorphose von Kunstformen findet dann statt, sondern die übliche Verwandlung von Material in Kunst. Literatur als Kunstform unmittelbar des Hirns wird durch Übertragung in eine visuelle Kunstform gewissermaßen zurückbefördert. Es ist schwer zu sehen, wie eine visuelle Barke an die Stelle von Kafkas Prosabarke mit dem Jäger Gracchus darin treten könnte.


Ridley Scotts Film Blade Runner spricht man den Kunstcharakter nicht ab, konstatiert vielmehr, daß er, ungehemmt durch die literarische Vorlage, sich frei entfalten kann. Der Film entwirft Bilder, die das Hirn aus den normalen Bahnen werfen. Wir sehen ausschließlich eine artifizielle, vom Menschen erzeugte Welt, konkret soll es sich um Los Angeles handeln. Es gibt keinen Baum, keinen Strauch, keinen Grashalm, nur Innenräume, Straßen enger noch und geschlossener als die Innenräume, eine totale technische Ummantelung, der Himmel, falls er, selten genug, überhaupt in den Blick kommt, ist wie eine Ausdünstung der Bauten, es regnet ohne Unterlaß, ein letzter Rest von Natur, wenn man so will. Die klaustrophobische Wirkung ist überwältigend. Die Menschen sind eingesperrt, verknäult, pliziert, repliziert, verdoppelt, künstlich erzeugte Replikanten, die nur durch aufwendige Verfahren von den wahren Menschen zu unterscheiden und nach ihrer Erkennung auszuschalten sind, das ist das moralische Problem, von dem der Film sich an der Storyoberfläche leiten läßt.


In der Originalversion des Films gelingt Deckard und Rachael die Flucht, und Rachaels Lebenszeit ist nicht begrenzt wie die der anderen Replikanten. Im Director’s Cut bleibt offen, ob die Flucht gelingt und ob Rachael leben wird. Mehr ist eigentlich nicht glaubhaft. Man hofft aber sehnlichst, die Flucht möge gelingen und wir könnten mit den beiden entfliehen zurück in unsere Welt, so wie sie immerhin noch ist. Jeder Dichter, jeder Künstler schenkt uns die Welt neu, und für die Kunst ist es nicht die entscheidende Frage, ob diese Welt verlockend oder schrecklich ist.


Mittwoch, 7. Juli 2010

Portbou

Angeli nuovi e vecchi

Holy are the souls lost in your unnaming

Den Deutschen ist Erinnerung befohlen, das trifft die, die ohnehin gern zurückschauen, weniger hart als die, denen die Aktualität eigentlich ausreicht. Bei Inszenierungen kollektiven Erinnerns schaut man in die Gesichter und die Augen der Einzelnen und fragt sich, wie es wohl um sie bestellt ist in dieser Hinsicht.



Auch die Kunst mit ihren exemplarischen Blicken zurück und nach vorn ist verwirrt. Es besteht die Gefahr, daß das befohlene Erinnern den Rezipienten Erinnerungswillen und genuine Erinnerungslust verdeckt. Wer etwa den Dichter Sebald zum prime speaker of the Holocaust erklärt, verkennt, daß der den entsetzlichen Anlaß für den Blick zurück so wenig benötigte, wie Proust ihn hatte und haben konnte zu seiner Zeit.

Im Suhrkampverlag ist der Band Profanes Leben, Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung erschienen. Titel und Untertitel treffen offenbar genau den Scheitelpunkt zwischen dem Blick zurück und dem Blick nach vorn in unserer Zeit. Der Herausgeber stellt die Aufsatzsammlung in den Zusammenhang eines turn to oder auch return of religion. Daß sich die Religion so einfach nicht verabschieden läßt, wie viele erwartet hatten, liegt auf der Hand, die Erinnerung an sie ist übermächtig und steckt aller Kultur buchstäblich in den Gliedern. Noch nie zuvor wohl hat es eine Gesellschaft gegeben, die sich säkular will und als solche beschreibt, selbst die Pirahās, vielleicht vierhundert Leute insgesamt, mit einem zeitlosen, weder zurück noch nach vorn schauenden Leben am Maici, einem Nebenfluß des Marmelos, dieser wiederum ein Hauptnebenfluß des Madeira, der seinerseits in den Amazonas fließt, würden sich nicht als säkular verstehen, wenn sie einen derartigen Begriff denn bilden könnten, sie sehen Geister, wenn ihnen danach ist.

Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Diese Sätze Walter Benjamins befinden sich an den Passagen, seinem Gedenkort nahe beim Friedhof der kleinen katalanischen Grenzstadt Portbou. Die junge, unlängst erst vermählte katalanische, in New York ansässige Philosophin und Architekturphilosophin hat ihren Beitrag in dem Benjaminbuch dem von Dani Karavan entworfenen Gedenkort gewidmet. Die Erinnerung an Benjamin führt sie zusammen mit der Bearbeitung des Themas der Erinnerung bei Benjamin und der Gestaltung von Erinnerung durch Dani Karavan in den Passagen.

Die erste von drei Passagen und das Hauptelement des Kunstwerks ist eine lange schmale Treppe. Passagen ist ein Kunstwerk mit viel Raum um sich, wenn man aber den Korridor betritt, gibt es lediglich Raum für einen, höchstens zwei Besucher. Man bewegt sich zu auf das helle Ende der Treppe mit ihren siebzig Stufen und sieht, isoliert von der hinter einem liegenden äußeren Welt, wirbelndes Wasser, an manchen Tagen wild schäumende Wellen unter der pfeifenden Tramuntana, an anderen ruhiges Schaukeln der Wellen oder auch eine vollständig stille, glatte See. Das Individuum gilt als die letzte verbleibende metaphysische Instanz, als letztes Sacrum, das Göttliche sei in uns, heißt es, da aber wird ihm, dem Göttlichen, klaustrophobisch zumute, und unversehens springt es uns an von draußen. Man möchte sich ins Meer stürzen, wenn nicht die Glaswand wäre, die es unmöglich macht, die Glaswand mit ihren lichtdurchlässigen Buchstaben in fünf Sprachen, Deutsch, Katalanisch, Spanisch, Französisch und Englisch: És una tasca més àrdua honorar la memòria dels éssers anòmims que la de les persones cèlebres. La construcció històrica es consagra a la memòria dels qui no tenen nom.


Die Geschichtsschreibung muß neue Wege finden, weg von den namentragenden Siegern und hin zur Erinnerung an die Namenlosen, sie muß vom Monumentalismus und von der gemächlichen Simplizität des Historismus loskommen und zu einem systemischen Verständnis finden. Benjamin war noch auf ein frühes Format, das des Historischen Materialismus als Orientierungsrahmen angewiesen.

Portbou ist eine Grenz- und Bahnhofsstadt, und um ein Haar hätte sie Eingang gefunden in Sebalds Bahnhofsbuch Austerlitz. Am Ende des Buches macht sich der Titelheld vom Pariser Austerlitzbahnhof, eine Spur seines verschollenen Vaters verfolgend, auf den Weg in die Pyrenäen, allerdings nicht nach Portbou, sondern nach Gurs in den Pyrénées-Atlantiques. Zum einen hat Selysses Spanien auch bei anderer Gelegenheit nicht betreten, und zum anderen vermeidet er vielleicht ausdrücklich die Begegnung mit Benjamin, sie hätte in einer mit den Proportionen dieses Buches nicht vereinbaren Weise aufwendig ausfallen müssen als eine Begegnung unter Freunden, denn Benjamins, Paul Klee nachgezeichneter Angelus Novus, der, zurückblickend, nur eine einzige Katastrophe sieht, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor sie Füße schleudert, der verweilen möchte, die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen, ist auch der Engel Sebalds, ist die Verwandlung eines der alten Engel über der Szenerie des Unheils, wie er sie bei Giotto gefunden hat.


Sebalds unausgeführtes Korsikaprojekt stellen wir uns als eine Art mediterrane Ringe des Saturns vor, in der Phantasie haben wir uns von Napoleon schon nach Rußland tragen lassen, warum nicht auch nach Spanien, da war er auch, und in diesem Kontext hätte Selysses sehr wohl in Portbou Benjamin treffen können. Benjamin hätte sich dabei, seinem eigenen Wunsch entsprechend, den Namenlosen angenähert. Die Berühmten, Kafka, Stendhal, Rousseau, Conrad, Chateaubriand und viele andere, haben in der Begegnung mit Selysses natürlich ihren Namen noch nicht verloren, aber auch die Namenlosen wie Paul Bereyter oder Ambros Adelwarth sind nicht ohne Namen, und das sie ehrende Erinnern fällt um nichts geringer aus. Ein umfassendes Erinnern kann nur Vorbereitung sein auf ein umfassendes Vergessen und Vergessen aller Namen, das der Preis ist für die Aufnahme in die Ewigkeit.

Der Blick zurück und der Blick nach vorn werden überlagert von dem die Ewigkeit suchenden Blick. Der Kunst und vielleicht auch schon der Sprache ist die Sehnsucht nach Ewigkeit inhärent, umso mehr, als die Theologie nur noch ein schwacher Vertreter des Ewigen ist. Sebalds profane Welt ist voller sakraler Splitter - auch jüdischer: der Tempelbau, Ci vediamo a Gerusalemme, die Gebetsformel des observanten Judentums -, voller Erinnerung an die Heiligen und dicht besiedelt von seltsamen Heiligen, vom Dichter gerade noch erinnert, sich selbst aber bereits vergessend, auswandernd wie Benjamin über Portbou hinaus.