Samstag, 3. Oktober 2009

Ein Sterben

nox est perpetua una dormienda

Das Leiden der Tiere sei der größte Skandal der Religionen, schreibt Leszek Kolakowski, ihr Tod ein kaum geringerer, muß man hinzufügen, wenn man sie, die Tiere, denn von den Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tode ausschließt, um Himmel und Hölle nicht auch mit ihnen noch zusätzlich zu der maßlosen Menschenzahl zu belasten. Da lag er nun auf dem Metalltisch. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert, von Krämpfen angetrieben, hechelnd, so als wolle er, auf der rechten Seite liegend, dem Tod doch noch enteilen, das linke Hinterbeinchen aber lag nach oben angezogen still die ganze Zeit. Die massive Überdosis eines Schlafmittels hatte zu einer augenblicklichen Befriedung geführt und wenig später nur, übergangslos und nicht erkennbar, in den Zustand, in dem man in einem wahrhaft gewaltigen und fassungslosen Frieden ruht.


Siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre sind es her, daß wir sie - denn es handelte sich um ein weibliches Tier, das ursprünglich auf den Namen Rieke ebenso willkürlich und selbstbestimmt hörte und nicht hörte wie später auf den Rufnamen Dackel (wie bei Orlando ließ sich das kulturelle Geschlecht nicht fixieren) – daß wir sie also das erste Mal gesehen hatten in einem größeren Rudel unterschiedlicher Hunde, edle Tiere, Rasseexemplare, ein Bernhardiner, ein Schäferhund, wenn ich es richtig erinnere, andere noch und ergänzend ein Wesen, bei dem es sich offenbar um eine riesenhafte zottige Kellerassel handelte, Rieke eben, eine Pudel-Dackel-Mixtur, wie später in den offiziellen tierärztlichen Annalen und auch auf dem Totenschein festgehalten wurde. Selbst war sie offenbar von ihrer extrem niedrigen, mißgeburthaften Bauweise nicht auf das geringste beeindruckt oder gedämpft worden und forderte von unten herauf nachdrücklich ihre Rechte ein, ohne den gegenläufigen Begriff der Pflicht auch nur ansatzweise begreifen zu wollen. Wenig später war sie dann für lange Jahre unser Familienmitglied geworden.

Sie war uns, wir waren ihr so nah und doch so fern in der anderen Welt. Vieles unterschied sie von anderen Hunden. Anders als Bauschan war sie an der Jagd kaum interessiert, umso weniger an dem zivilisierten Jagdsurrogat nach geworfenen Holzscheiten. Auf der Höhe noch jugendhafter Kraft mochte sie dem Werfer zu Gefallen ein niedriges Grundinteresse vortäuschen, im reifen Alter rief bereits das bei den Artgenossen beobachtete eitle Treiben ihr deutliches Mißfallen hervor. Dabei war sie des wilden Rennens durchaus fähig bis vielleicht in das vorletzte Jahr ihres Lebens und oblag ihm gern mit vom Fahrtwind rückwärts getriebenen Bart und ungezügelt fliegenden Ohren. Die Verantwortung für den Zusammenhalt von Wandergruppen übernahm sie ungefragt und stante pede, nicht nur für den Familienverband, sondern auch für größere Trupps von fünfzig Mann und mehr, ihr überwiegend völlig unbekannt, unter ständigem Galopp von der Tête zur Nachhut und zurück bei trauriger Nichtbeachtung des aufopfernden Tuns durch die Mehrzahl der Marschierenden, und wenn sich die Marschkolonne dann gar entgegen allem wölfischen Verhalten aufteilte in mehrere Untergruppierungen, wollte es ihr schier Leib und Verstand zerreißen. Wanderungen als solche sind ihr immer nur sinnvoll erschienen wegen der zwischenzeitlichen Nahrungsaufnahme und bald schon hatte sie alle nur denkbaren und irgend in Betracht kommenden Picknickplätze des Eifel- und Ahrgebirges in ihrem winzigen Schädel kartographiert, um sie mit herausfordernd auf uns gerichteten Blick zu verbellen.

Nach der Kilometerzahl haben die kurzen Beinchen sie sicher mehrfach um den Erdball getragen, und nach der Zahl der absolvierten Schrittchen fragt man sich besser erst gar nicht. Anweisungen schon immer wenig zugänglich, war ihr eine einsetzende oder vorgetäuschte Altersdemenz willkommener Anlaß für eine genüßliche Übertretung aller bis dahin geltenden Tabus, nicht selten auch zum eigenen Schaden, denn, zusätzlich begünstigt durch Taub- und Blindheit, kam sie vermehrt abhanden, so daß schließlich zu ihrer nicht geringen Verstörung auf das sinnreiche Instrument einer retroflexen Leine zurückgegriffen werden mußte. Die Küche, für lange Jahre das Tabu schlechthin, wurde schließlich zum bevorzugten Aufenthaltsraum.

Da lag er nun, der Dackel, auf dem tierärztlichen Metalltisch, genauso, wie er oft schlafend auf dem Teppich gelegen hatte. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert und würden sich nun nie wieder mehr bewegen, die enorme Kilometerlebensleistung nicht mehr steigern. Das kleine, eifrige, widerborstige Leben war ausgelebt. Der Leichnam würde in den Kühlraum wandern und später entsorgt werden. Was für eine Zeit noch bleibt, ist die Erinnerung in den Köpfen einiger Menschen, über die caninen Kumpanen weiß man in dieser Hinsicht wenig. Nicht das geringste Indiz, wohin man auch schaut, bei uns Menschen würde es anders sein mit dem Sterben und dem Tod. Kein Wunder, wenn die Frommen und nicht weniger die Anbeter von Demokratie und Menschenrechten sich die Tiere gern vom Leib halten, wollte man sie einbeschließen in das traute Verhältnis von Mensch und Gott oder in den autistischen Kreis der menschlichen Selbstvergötterung, müßten die Karten völlig neu gemischt werden, und wer will sich schon stören lassen bei den gewohnten Spielen.

2 Kommentare:

Christian Runkel hat gesagt…

Eine wunderbare Ermutigung zu warmherziger Tierliebe! Ob man sich im Alter doch noch einen Hund anschaffen sollte, gegen alle bisherigen Vorsätze?

joan capdevila hat gesagt…

Estic commoguda. Per la mort de la bèstia i per aquesta peça de kynokyrilogia que ara està definitivament inclosa als catàlegs de les kyries normals i corrents. Tibull