Freitag, 15. Januar 2010

Leben in der Metapher

Никола́й Васильевич Гоголь: Мёртвые души
Wladimir Nabokow: Nikolaj Gogol

Die russischen Romane des neunzehnten Jahrhunderts waren für junge Leute ein weit offenes Einstiegstür in die Literatur und sind es vielleicht immer noch, laden ihre Helden doch wie kaum andere noch ein zur Identifikation. Vornweg die hysterischen und auch verbrecherischen Helden Dostojewskijs, Iwan Karamazow, Stawrogin, man konnte sich lesend in Grenzbereiche begeben und selbst doch einigermaßen brav bleiben. Später kamen die unbedingten Wahrheitssucher Tolstojs hinzu, Bezuchow, Lewin, und die ähnlich strukturierten allerdings weniger vitalen Helden Tschechows. Auch für die weibliche Leserschaft ist das Identifikationsangebot groß, allerdings muß sie inzwischen wohl einige Zugeständnisse an die Zeitumstände machen, am wenigsten natürlich bei Tschechow. Da sich alle diese Helden in bestem literarischen Ambiente bewegen, mußte man auch nicht irgendwann Abschied nehmen von ihnen wie von Winnetou oder auch von Nschotschi.

Der Einstieg in die Literatur über die Identifikation mit den Helden ist vielleicht der verbreitetste, er birgt die Gefahr, daß man nur schwer von ihm loskommt. Das beste Antidot vielleicht nicht nur in Rußland, sondern überhaupt ist Gogol. Nichts, was einem Identifikationsangebot auch nur ähneln würde. Will man sich einen zusätzlichen Gefallen tun, liest man begleitend Nabokows Buch über Gogol. Mit souveränem Gestus schiebt Nabokow alle nachgeordneten Interpretationen beiseite, nicht nur Freud wird mit dem üblichen Furor verjagt, auch das Verständnis als Sittenbild, Satire, Komödie, alles Unsinn, weg damit. Ernstzunehmen ist Gogols Kennzeichnung seines Werks als Poem, als Prosagedicht. – Man muß nicht uneingeschränkt bleiben bei diesem Ansatz, heilsam ist er für den Anfang in jedem Fall.

Das Buch quillt über von überflüssigen Menschen, лишние люди, nicht in der vertrauten Anwendung auf die romantischen Helden Lermontows oder Puschkins, Petschorin oder Onegin, sondern in der radikalen Bedeutung, daß sie überflüssig sind sowohl für die Welt als auch für das Buch. Gleich zu Beginn tauchen zwei russische Bauern auf, die völlig folgenlos über die Haltbarkeit der Kutschenräder diskutieren und dann für immer verschwinden aus dem Buch und aus unseren Augen. Unser besonderes Augenmerk richtet Nabokow auf die zahllosen Gestalten, die nur Leben erhalten in der kurzen Blase einer Metapher und mit deren Zerplatzen wieder verschwinden: Der Tag war von jener blaugrauen Farbe, wie man sie an den Uniformen von Garnisonssoldaten findet, die im übrigen recht friedfertige Kriegshelden sind, wenn man von ihrem beschwipsten Zustand an Sonntagen absieht. – Die Garnison tritt an, um die Wetterlage zu verdeutlichen, nutzt die Gelegenheit, um sich zu betrinken, und tritt wieder ab. Die toten Seelen, wer braucht sie, und doch gewinnen viele von ihnen ein volles Leben, und andererseits die sogenannten handelnden Personen, Manilow, Sobakjewitsch oder auch Tschitschikow selbst, wer braucht sie? Wir brauchen sie nicht, das Buch braucht sie nicht, es braucht nur sich selbst und darum brauchen wir das Buch und alle in ihm enthaltenen Gestalten mit ihm. Wie der Planet Solaris ist Gogols Buch ein Gestalten entwerfendes und verschlingendes Mysterium, unergiebig für unsere Alltagswelt: Wenn Sie erwarten, etwas über Rußland zu erfahren, wenn Sie sich für Ideen, Tatsachen und Botschaften interessieren, dann machen Sie einen Bogen um Gogol. Nabokow zeigt Neigung, angesichts dieser irrealen Dämonen- und Geisterwelt, den Namen Gogol von Ghul herzuleiten, obwohl er natürlich weiß, daß das falsch ist.



Das zweite sind die lyrischen Ausbrüche, der lyrische Grundton, der, so Nabokow, immer dann zum Vorschein kommt, wenn Rußland, wie es in Gogols Vorstellung existierte – eine eigentümliche Landschaft, eine besondere Atmosphäre ein Symbol, eine lange Straße -, durch den ungeheueren Traum des Buches in all seinem seltsamen Liebreiz hindurchscheint. Rus, wohin stürmst du? Antworte mir ! Du schweigst. Wunderhell klingen die Glöckchen in der Gespannmitte; die Luft rauscht auf, zerreißt, wird Wind; alle Dinge auf Erden fliegen vorüber, und andere Völker und Nationen schauen voller Argwohn und treten zur Seite, um den Weg freizugeben. – Das klingt schön für uns und hat für den aus seiner Heimat vertriebenen Nabokow vielleicht noch schöner geklungen.




Nach der Niederschrift der Toten Seelen verliert Gogol sich immer mehr im Zauberreich seiner wortgeborenen Gestalten, Geistern und Dämonen, in Krankheit und religiösem Wahn. Nabokow beglückwünscht Gogol zu dem Entschluß, das Manuskript des zweiten Teils der Toten Seelen zu verbrennen. Er erwartete sich davon nur unangenehm Erbauliches und macht keine Anstalten, die erhaltenen Fragmente zu lesen. Auch an Tolstojs später Traktatphase war Nabokow naturgemäß nicht interessiert, obwohl sich hier die ebenso asketische wie muskulöse Prosa immerhin noch genießen läßt.

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