Donnerstag, 28. Januar 2010

Fuchs mit Stacheln

Άρχίλοχος: πόλλ οϊδ άλώπηξ, άλλ έχϊνος έν μέγα

Unter dem Eindruck lupenreiner Putinokratie und der häßlichen Fratze der russischen Plutokratie sucht man Zuflucht bei der großen russischen Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts, die sich, bei eher noch schlimmeren gesellschaftlichen Verhältnissen, neben allen anderen Qualitäten durch einen ganz besonderen Impetus in der Wahrheitssuche hervorgetan hat; Gogol auf seine sehr besondere Art, Dostojewski, Tolstoi und schließlich Tschechow mit seiner so mitreißenden und ganz und gar glaubwürdigen Sehnsucht nach Wahrheit und Reinheit. Man könnte meinen, Rußland Rückständigkeit habe für die zusätzliche Anlaufstrecke gesorgt, die diese Dichter benötigten, um die gesamte europäische Konkurrenz zu überholen und abzuhängen.



Isaiah Berlin teilt, halb scherzhaft, halb ernst, in einem der Aufsätze seiner Sammlung Russian Thinkers russische und europäische Dichter ein nach der von Archilochos hinterlassenen, in ihrer Bedeutung nicht ganz klaren Bemerkung, derzufolge der Fuchs viele Dinge weiß, der Igel aber nur ein einziges Großes. Puschkin sei ein paradigmatischer Fuchs, Dostojewski ein nicht weniger paradigmatischer Igel, daher habe er Puschkin auch nicht verstanden und in seiner berühmten Puschkinrede eigentlich nur von sich selbst geredet. Platon, Hegel, Nietzsche und Proust - wieso das? - sind weitere Igel, Aristoteles, Montaigne, Goethe, Joyce Füchse. Nicht ausdrücklich zugeordnet werden Gogol und Tschechow, da kann sich jeder selbst versuchen. Zu versagen scheint die Dichotomie, und nur darüber will Berlin sprechen, bei Tolstoi. Aber auch hier ist die Lösung bald gefunden: Tolstoi ist ein Vollblutfuchs, der mit aller Macht ein Vollblutigel sein wollte.

Die meisten Tolstoileser sind daran gewöhnt, in der Gesellschaft des großen Russen ständig einen seltsamen Doppelgänger zu sehen. Da ist der helle, gewaltige Bildner, Tolstoi der Fuchs, der die Welt in unerschöpflichen Fülle wahrnimmt und mit einer Direktheit und Aufwandlosigkeit, die ihresgleichen sucht und nicht findet, in Sprache umsetzt, so daß der Leser kaum glauben mag, sich auf dem Papier zu bewegen und nicht vielmehr in der Wirklichkeit, die er in dieser Schönheit und Tiefenschärfe selbst freilich nie hätte sehen können; und da ist dieser seltsame graue Mann mit der Igelfrisur, der uns durch Krieg und Frieden hindurch mit seiner Geschichtstheorie quält, um uns am Ende noch die Natascha vergällen, indem er sie einer frisch gewonnenen Wahrheit opfert, bei der er dann doch nicht lange zu bleiben vermochte. Man möchte den grauen Mann verscheuchen und zögert doch: bliebe der helle Mann ohne den grauen Gefährten denn lebensfähig? Man muß befürchten, daß es ein und dieselbe Leidenschaft ist, die einerseits in ein wahres Fest der Wahrnehmung führt, in dem allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird, und andererseits in die radikale Entschlossenheit, hinter, oder besser in dieser Vielfalt das eine Prinzip der Wahrheit aufzuspüren.

Berlin geht dem detailliert nach an Tolstois in Krieg und Frieden ausgebreitetem Geschichtsverständnis und überrascht schon nach wenigen Seiten damit, daß er Tolstoi und de Maistre zu Zwillingen des Denkens erklärt; um so überraschender für den, dem er Maistre gerade erst als ami du bourreau dargestellt hatte. Berlin räumt auch ein, daß nothing would have shocked and irritated Tolstoy so much as to be told that he had a great deal in common with this apostle of darkness, this defender of ignorance and serfdom, beharrt aber gleichwohl: Despite their deep dissimilarity and indeed violent opposition to one another, Tolstoy’s sceptical realism and Maistre’s dogmatic authoritarinism are blood brothers. Beide, Tolstoi und Maistre sind verurteilt, die Vielfalt der Welt in gnadenloser Schärfe wahrzunehmen, und beide sind beseelt von einem passionate desire for a monistic vision of life. Maistre klammert sich an einen ultramontanen Katholizismus, Tolstoi beruhigt sich vorübergehend mit mystischen Visionen der verborgenen Wahrheit, wie sie der verwundete Fürst Andrei beim Blick durch das Blätterdach in den Himmel oder, im nächsten Buch, Lewin beim Mähen erleben. Später trennt Tolstoi sich in einem Akt der Selbstverstümmelung, so Berlin, dann vom Erleben der Welt in Prosa und verfaßt unbehelligt von der Wahrheit seines Erlebens nur noch monistische Wahrheitsschriften. Vom alten Tolstoi zeichnet Berlin ein nicht leicht zu vergessendes Bild tragischer Größe: At once insanely proud and filled with self-hatred, omniscient and douting everything, cold and violently passionate, contemptuous and self-abasing, tormented and detached, surrounded by an adoring family, by devoted followers, by the admiration of the entire civilised world, and yet almost wholly isolated, he is the most tragic of the great writers, a desperate old man, beyond human aid, wandering self-blinded at Colonus.





Was hätte Tolstoi wohl von Luhmann gehalten, der Fuchs und Igel gleichermaßen Recht gibt und gleichzeitig ihre Wohnbereiche soweit voneinander getrennt hält, daß sie sich nicht ins Gehege kommen? Fanatiker der Wahrnehmung mit tiefer Abneigung gegenüber der Abstraktion, der er war, hätte Tolstoi Luhmann wohl nicht gelesen. Tolstoi wollte nur schauen, soweit das Auge reicht, und die Wahrheit nicht in Lichtjahren Entfernung suchen.

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