Mittwoch, 4. August 2010

Tenente Drogo

Il periodo non mi è stato detto

Das Morphem ESK ist keinem anderen Dichter auch nur annähernd so zugewachsen wie Kafka, um sich von dort über die Welt zu verstreuen und Myriaden von Welteindrücken und Literaturerzeugnissen zu bezeichnen, wenn sie nur auf die eine oder andere Weise ins Absonderliche und Ungewohnte ragen. Die Anwendung auf Buzzatis Tartarenbuch wäre längst nicht die fehlgehendste.


An einem entlegenen Ort, einem Schloß, einem Fort erscheint ein noch junger Landvermesser, ein noch junger Leutnant für eine zeitlich eng bemessene berufliche Tätigkeit, schon gleich aber wissen wir, er wird diesen Ort nicht wieder verlassen. – Wir brechen ab, noch manche Verwandtschaft wäre zu nennen, aber zum einen fördert jede Ähnlichkeit nicht weniger als fünf Verschiedenheiten zu Tage, und zum anderen ist der Vergleich mit Kafka fast regelmäßig niederdrückend für den Verglichenen.


Aber Literatur aus Literatur entsteht und Lesen bedeutet ganz wesentlich auch Vergleichen, wir können daher gar nicht anders, als an Joseph Roths galizische Garnisonsstädte denken, an Puschkins Hauptmannstochter, an John Fords Außenpostenfilme, die Musik zum Film Il deserto die Tartari aber ist von Ennio Morricone, und damit sind wir beim Lied vom Tod.


In der Eingangsszene der Moments Musicaux, die uns wie einer der Filmeingangszenen Sergio Leones nachgezeichnet erscheint, heißt es: Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr. Auch bei Buzzati stoßen wir schon bald auf den hohlen, unaufhaltsamen Takt des Todes: Ploc! eccolo ancora l’odioso suono. È la cisterna, signore tenente, ripose il soldato, non c’è niente da fare. Tutti si lamentano, ma non si è potuto far niente. - Cominciava per lui l’irreparabile fuga del tempo.


Wachen, nicht schlafen, ist ohnehin die Devise im Fort, da fällt das schlafraubende Tropfgeräusch wenig ins Gewicht. Für den jungen Leutnant Drogo entleert sich die Welt schnell von allem, was bislang sein Leben ausgefüllt hatte, das Leben, in das er eigentlich nach wenigen Wochen, allenfalls Monaten zurückkehren wollte. Es ist eine mönchische Welt, in die er eingetreten ist, eine Welt der Entsagung, rinuncia. Während aber die Welt der Mönche geltend macht, auf ein Zentrum der Fülle ausgerichtet zu sein, verwalten die militärischen Rituale im Fort einzig das Nichts. Es ist eine Art Strafkolonie der Freiwilligen, daß man aufgrund eines Irrtums, sbaglio, hier sei, eine reine Schutzbehauptung. Der Blick geht hinein in den leeren Raum der Tartarenwüste, ohne den Horizont zu erreichen. Nach Jahren ist es ein gesatteltes Pferd ohne Reiter, das für Aufregung sorgt, wiederum Jahre später führen winzige Punkte, nur erahnte Bewegungen am nördlichen Horizont der Wüste zu riesigen und gewagten Deutungsgemälden.


Von den Bewohnern des Nordens, den Feinden weiß man wenig. Sprechen kann man mit ihnen nicht. Die Sprache des Südens kennen sie nicht, sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie die Dohlen. Immer wieder, käme man ihnen nahe, hört man diesen Schrei der Dohlen. Die Lebensweise, die Einrichtungen der Menschen im Süden sind ihnen ebenso unbegreiflich wie gleichgültig. Oft machen sie Grimassen, dann dreht sich das Weiß ihrer Augen und Schaum schwillt aus ihrem Munde, doch wollen sie damit weder etwas sagen noch auch erschrecken; sie tun es, weil es so ihre Art ist. Was sie brauchen, nehmen sie. - Eine einzige Hoffnung hält die Bewohner des Forts aufrecht, die auf einen Krieg, und der ewige Friede ist ihre Strafe.


Die wilden Interpretationen der winzigen Punkte werden wahr, die Bewohner des Nordreiches haben eine Straße gebaut und greifen das Fort an, um sich zu nehmen, was sie brauchen. Im gleichen Augenblick aber wird Drogo, inzwischen mehr als fünfzig Jahre alt, Major und stellvertretender Kommandant, krank auf den Tod aus dem Fort in die Stadt transportiert. Betrogen um den Krieg, der einzigen Hoffnung und dem einzigen Sinn seines Lebens, muß er sich dem wahren Feind stellen, dem ultimo nemico, von dem es heißt, er sei einmal besiegt worden - aber nicht alle sind davon überzeugt -, dem Feind, der sich nimmt, was er braucht. - Wir Älteren können kaum begreifen, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf oder Fort zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für eine solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht. – Alle Wege führen zu Kafka zurück.


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