Donnerstag, 8. Juli 2010

Artes

Blade Runner



Die Künste sind auf die Sinne angewiesen, die Musik auf das Ohr, Malerei, Bildhauerei und Architektur auf die Augen, Tanz auf das Auge oder, sofern mit Musik unterlegt, auf Auge und Ohr, Theater und Film auf Auge und Ohr. Geschmack und Geruch, die sich aus der gleichen Quelle speisen sollen, werden die Koch- oder auch Eßkunst zugeordnet, aber nicht alle sind vom hohen Rang dieser Kunstform überzeugt. Die Sinnesdaten gelangen ins Hirn und werden dort nach der Überzeugung der Konstruktivisten nicht etwa nur entgegengenommen, sondern recht eigentlich erst hergestellt. Diese Frage soll hier auf sich beruhen.


Was ist mit der Literatur? Das Auge ist zuständig, wird man sagen, man liest mit den Augen, aber Literatur ist ein Begriff aus einer späten Phase, zuvor wurde gesprochen oder auch gesungen. Literarische Hörbücher rücken vor, man muß nicht mehr lesen, und Robert Dylan ist bereits mehrfach für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht worden, das wäre ihm als reinem Textdichter nicht widerfahren. Die Erfahrung von Literatur als Kunst ist weder eine des Auges noch des Ohres. Kann man vielleicht sagen, daß bei Schöner Literatur Ohr oder Auge eine zwar notwendige darüber hinaus aber nicht wichtige Zubringerfunktion haben, da, anders als bei den anderen Kunstformen und anders auch als bei anderen Texten, das Hirn selbst als Sinnesorgan genutzt wird? Das Hirn schaltet um auf einen anderen, wahrnehmenden Modus des Vestehens. Die Stille der Buchstaben scheint dabei dem Lärm des Ohres denn doch vorzuziehen zu sein.


Die Kunstformen sollen ineinander verwandelt werden. Die Musik scheint gegenüber dieser Zumutung weitgehend sicher. Sie kann hinzugezogen werden als Tanz-, Film oder Opermusik, unterliegt aber keiner Metamorphose. Einige, die es wissen wollen, behaupten allerdings, die tiefste Erfahrung der Musik ergebe sich beim stummen Lesen der Partitur. Das wäre dann zwar keine Verwandlung der Musik in Literatur - anders als die notierten bedeutungslosen Klänge können die notierten Wörter die Bedeutungen nicht abschütteln - aber doch eine erhebliche Annäherung an sie und das Hirn würde ein weiteres Mal zum Sinnesorgan. - Auch die Koch- oder Eßkunst scheint auf der sicheren Seite, sie kann in Film, Theater und Literatur thematisiert werden, aber das ist nicht das gleiche wie Umwandlung, und was die Mimen tatsächlich essen, weiß ohnehin niemand, auch wenn sie die Augen rollen in gespielten Entzücken. Peter Weiss und Sebald haben gezeigt, wie sich Werke der bildenden Kunst in Literatur verwandeln lassen, die häufigste Metamorphose aber ist wohl die der Verfilmung. Nach unserem Ansatz würde dabei eine Kunstform, die das Hirn von der bloßen materiellen Zuführung abgesehen unmittelbar als Sinnesorgan nutzt, in eine verwandelt, die Auge und Ohr vorschaltet.


Blade Runner
ist alles in allem ein schlichtes Buch, das Hirn arbeitet wie gewohnt als denkendes Hirn, wenig angestrengt überdies, und auch bei denen, die über den Umschaltmechanismus verfügen, kaum je unmittelbar als Sinnesorgan - manchmal allerdings doch. Blade Runner ist zutiefst deprimierend und insofern ein gutes Buch. Der Autor, Philip K. Dick, wird als Pulp-Fiction Kafka bezeichnet, aber was Kafka im steilen Winkel eines Satzes erledigt, dafür benötigt Dick aufwendige thematische Konstruktionen. Am eindrücklichsten vielleicht das Motiv der Tiere, die nur noch in Form seltener Zuchtexemplare als Pets verfügbar sind. Das nach wie vor gültige Knappheitsgesetz der Ökonomie hat den Wert der Tiere ins Unermeßliche steigen lassen. Ein wahrhaft lebendiger Strauß kostet dreißigtausend Dollar, ein elekronischer nur achthundert. Die Haltung eines lebendigen Tieres ist zum Statussymbol schlechthin geworden.



Am besten sollten nur Bücher Kategorie der Kategorie Blade Runner verfilmt werden, nicht eine Metamorphose von Kunstformen findet dann statt, sondern die übliche Verwandlung von Material in Kunst. Literatur als Kunstform unmittelbar des Hirns wird durch Übertragung in eine visuelle Kunstform gewissermaßen zurückbefördert. Es ist schwer zu sehen, wie eine visuelle Barke an die Stelle von Kafkas Prosabarke mit dem Jäger Gracchus darin treten könnte.


Ridley Scotts Film Blade Runner spricht man den Kunstcharakter nicht ab, konstatiert vielmehr, daß er, ungehemmt durch die literarische Vorlage, sich frei entfalten kann. Der Film entwirft Bilder, die das Hirn aus den normalen Bahnen werfen. Wir sehen ausschließlich eine artifizielle, vom Menschen erzeugte Welt, konkret soll es sich um Los Angeles handeln. Es gibt keinen Baum, keinen Strauch, keinen Grashalm, nur Innenräume, Straßen enger noch und geschlossener als die Innenräume, eine totale technische Ummantelung, der Himmel, falls er, selten genug, überhaupt in den Blick kommt, ist wie eine Ausdünstung der Bauten, es regnet ohne Unterlaß, ein letzter Rest von Natur, wenn man so will. Die klaustrophobische Wirkung ist überwältigend. Die Menschen sind eingesperrt, verknäult, pliziert, repliziert, verdoppelt, künstlich erzeugte Replikanten, die nur durch aufwendige Verfahren von den wahren Menschen zu unterscheiden und nach ihrer Erkennung auszuschalten sind, das ist das moralische Problem, von dem der Film sich an der Storyoberfläche leiten läßt.


In der Originalversion des Films gelingt Deckard und Rachael die Flucht, und Rachaels Lebenszeit ist nicht begrenzt wie die der anderen Replikanten. Im Director’s Cut bleibt offen, ob die Flucht gelingt und ob Rachael leben wird. Mehr ist eigentlich nicht glaubhaft. Man hofft aber sehnlichst, die Flucht möge gelingen und wir könnten mit den beiden entfliehen zurück in unsere Welt, so wie sie immerhin noch ist. Jeder Dichter, jeder Künstler schenkt uns die Welt neu, und für die Kunst ist es nicht die entscheidende Frage, ob diese Welt verlockend oder schrecklich ist.


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