Mittwoch, 7. Juli 2010

Portbou

Angeli nuovi e vecchi

Holy are the souls lost in your unnaming

Den Deutschen ist Erinnerung befohlen, das trifft die, die ohnehin gern zurückschauen, weniger hart als die, denen die Aktualität eigentlich ausreicht. Bei Inszenierungen kollektiven Erinnerns schaut man in die Gesichter und die Augen der Einzelnen und fragt sich, wie es wohl um sie bestellt ist in dieser Hinsicht.



Auch die Kunst mit ihren exemplarischen Blicken zurück und nach vorn ist verwirrt. Es besteht die Gefahr, daß das befohlene Erinnern den Rezipienten Erinnerungswillen und genuine Erinnerungslust verdeckt. Wer etwa den Dichter Sebald zum prime speaker of the Holocaust erklärt, verkennt, daß der den entsetzlichen Anlaß für den Blick zurück so wenig benötigte, wie Proust ihn hatte und haben konnte zu seiner Zeit.

Im Suhrkampverlag ist der Band Profanes Leben, Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung erschienen. Titel und Untertitel treffen offenbar genau den Scheitelpunkt zwischen dem Blick zurück und dem Blick nach vorn in unserer Zeit. Der Herausgeber stellt die Aufsatzsammlung in den Zusammenhang eines turn to oder auch return of religion. Daß sich die Religion so einfach nicht verabschieden läßt, wie viele erwartet hatten, liegt auf der Hand, die Erinnerung an sie ist übermächtig und steckt aller Kultur buchstäblich in den Gliedern. Noch nie zuvor wohl hat es eine Gesellschaft gegeben, die sich säkular will und als solche beschreibt, selbst die Pirahās, vielleicht vierhundert Leute insgesamt, mit einem zeitlosen, weder zurück noch nach vorn schauenden Leben am Maici, einem Nebenfluß des Marmelos, dieser wiederum ein Hauptnebenfluß des Madeira, der seinerseits in den Amazonas fließt, würden sich nicht als säkular verstehen, wenn sie einen derartigen Begriff denn bilden könnten, sie sehen Geister, wenn ihnen danach ist.

Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht. Diese Sätze Walter Benjamins befinden sich an den Passagen, seinem Gedenkort nahe beim Friedhof der kleinen katalanischen Grenzstadt Portbou. Die junge, unlängst erst vermählte katalanische, in New York ansässige Philosophin und Architekturphilosophin hat ihren Beitrag in dem Benjaminbuch dem von Dani Karavan entworfenen Gedenkort gewidmet. Die Erinnerung an Benjamin führt sie zusammen mit der Bearbeitung des Themas der Erinnerung bei Benjamin und der Gestaltung von Erinnerung durch Dani Karavan in den Passagen.

Die erste von drei Passagen und das Hauptelement des Kunstwerks ist eine lange schmale Treppe. Passagen ist ein Kunstwerk mit viel Raum um sich, wenn man aber den Korridor betritt, gibt es lediglich Raum für einen, höchstens zwei Besucher. Man bewegt sich zu auf das helle Ende der Treppe mit ihren siebzig Stufen und sieht, isoliert von der hinter einem liegenden äußeren Welt, wirbelndes Wasser, an manchen Tagen wild schäumende Wellen unter der pfeifenden Tramuntana, an anderen ruhiges Schaukeln der Wellen oder auch eine vollständig stille, glatte See. Das Individuum gilt als die letzte verbleibende metaphysische Instanz, als letztes Sacrum, das Göttliche sei in uns, heißt es, da aber wird ihm, dem Göttlichen, klaustrophobisch zumute, und unversehens springt es uns an von draußen. Man möchte sich ins Meer stürzen, wenn nicht die Glaswand wäre, die es unmöglich macht, die Glaswand mit ihren lichtdurchlässigen Buchstaben in fünf Sprachen, Deutsch, Katalanisch, Spanisch, Französisch und Englisch: És una tasca més àrdua honorar la memòria dels éssers anòmims que la de les persones cèlebres. La construcció històrica es consagra a la memòria dels qui no tenen nom.


Die Geschichtsschreibung muß neue Wege finden, weg von den namentragenden Siegern und hin zur Erinnerung an die Namenlosen, sie muß vom Monumentalismus und von der gemächlichen Simplizität des Historismus loskommen und zu einem systemischen Verständnis finden. Benjamin war noch auf ein frühes Format, das des Historischen Materialismus als Orientierungsrahmen angewiesen.

Portbou ist eine Grenz- und Bahnhofsstadt, und um ein Haar hätte sie Eingang gefunden in Sebalds Bahnhofsbuch Austerlitz. Am Ende des Buches macht sich der Titelheld vom Pariser Austerlitzbahnhof, eine Spur seines verschollenen Vaters verfolgend, auf den Weg in die Pyrenäen, allerdings nicht nach Portbou, sondern nach Gurs in den Pyrénées-Atlantiques. Zum einen hat Selysses Spanien auch bei anderer Gelegenheit nicht betreten, und zum anderen vermeidet er vielleicht ausdrücklich die Begegnung mit Benjamin, sie hätte in einer mit den Proportionen dieses Buches nicht vereinbaren Weise aufwendig ausfallen müssen als eine Begegnung unter Freunden, denn Benjamins, Paul Klee nachgezeichneter Angelus Novus, der, zurückblickend, nur eine einzige Katastrophe sieht, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor sie Füße schleudert, der verweilen möchte, die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen, ist auch der Engel Sebalds, ist die Verwandlung eines der alten Engel über der Szenerie des Unheils, wie er sie bei Giotto gefunden hat.


Sebalds unausgeführtes Korsikaprojekt stellen wir uns als eine Art mediterrane Ringe des Saturns vor, in der Phantasie haben wir uns von Napoleon schon nach Rußland tragen lassen, warum nicht auch nach Spanien, da war er auch, und in diesem Kontext hätte Selysses sehr wohl in Portbou Benjamin treffen können. Benjamin hätte sich dabei, seinem eigenen Wunsch entsprechend, den Namenlosen angenähert. Die Berühmten, Kafka, Stendhal, Rousseau, Conrad, Chateaubriand und viele andere, haben in der Begegnung mit Selysses natürlich ihren Namen noch nicht verloren, aber auch die Namenlosen wie Paul Bereyter oder Ambros Adelwarth sind nicht ohne Namen, und das sie ehrende Erinnern fällt um nichts geringer aus. Ein umfassendes Erinnern kann nur Vorbereitung sein auf ein umfassendes Vergessen und Vergessen aller Namen, das der Preis ist für die Aufnahme in die Ewigkeit.

Der Blick zurück und der Blick nach vorn werden überlagert von dem die Ewigkeit suchenden Blick. Der Kunst und vielleicht auch schon der Sprache ist die Sehnsucht nach Ewigkeit inhärent, umso mehr, als die Theologie nur noch ein schwacher Vertreter des Ewigen ist. Sebalds profane Welt ist voller sakraler Splitter - auch jüdischer: der Tempelbau, Ci vediamo a Gerusalemme, die Gebetsformel des observanten Judentums -, voller Erinnerung an die Heiligen und dicht besiedelt von seltsamen Heiligen, vom Dichter gerade noch erinnert, sich selbst aber bereits vergessend, auswandernd wie Benjamin über Portbou hinaus.


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