Samstag, 10. Juli 2010

Dear Heather

white from the winter


Die Welt ist Selektion, alles kann nur sein, weil anderes nicht ist, das ist überdeutlich gerade im Reich der Formen. Das Etwas kann das Nichts kaum einschüchtern, die Selektivität der viertausendseitigen Recherche du Temps Perdu ist, aufs Ganze gesehen, nur in vernachlässigbarer Weise geringer als die eines Haiku. Eine größere Aufgabe als die, über das zu schreiben, worüber ein Dichter geschrieben hat, wäre es, über das zu schreiben, worüber er nicht geschrieben hat. Dabei kann es nicht um das große Nichts gehen, das schwärzeste der schwarzen Löcher, sondern nur um die kleinen Nihiles an den Rändern des Etwas.

Dear Heather
please walk by me again

with a drink in your hand
and your legs all white
from the winter.


Ein karger Liedtext, auch wenn die Vortragszeit immerhin 3:41 Minuten beträgt, offenbar näher beim Haiku als bei der Recherche, small wonder, Cohen hatte zuvor mehrere Jahre beim und mit dem Meister des Zens Sasaki Roshi verbracht. Das umgebende Nichts ist um ein Unmeßbares aber doch Auffälliges größer als bei Proust, umso größer ist auch die Verlockung, sich in das umgebende Nichts einzuschreiben. Welchen Status des Text es soll man denken. Denkt man sich die wenigen Worte als geschrieben in einem Brief, auf Papier oder elektronisch. Werden sie gesprochen, vielleicht am Telephon. Gelangen diese Worte auf einem dieser Wege zu Heather, wird der Brief abgesandt, murmelt der Homo Lyricus die Worte nur vor sich hin, denkt sie vielleicht nur, wagt kaum sie zu denken, hat ihn aller Mut verlassen. Gegen Ende des Liedvortrags werden einzelne Wort buchstabiert, DawweljuAiEnTiAhr, sucht der Dichter nach Klängen und Tönen, ist das Lied, das wir hören, der erste und ursprüngliche Weg der Übertragung auch an Heather, die wir uns nicht anders als lebendig und schön vorstellen wollen, dear Heather.


Please walk by me again, Bescheidenheit spricht hier, nicht äußerste Nähe wird erfleht, im by allerdings doch eine nicht geringe emotionale Nähe, war das vielleicht schon zu verwegen: with a drink in your hand, Dich vielleicht nicht einmal berühren, der kühle Wein, fast eisig noch vom Winter, könnte verschüttet werden. Die goldene Flüssigkeit im Kristallglas, Emblem des eingefangenen und gezähmten Glücks. You stand there so nice in your clear air of ice.

With your legs all white from the winter – ist die Weißheit der Beine ein besonderer erotischer Thrill, alles nur Verzögerung und Steigerung, und wie würde das passen zu I’m crazy with love but I’m not coming on. Ist der für die Blässe der Beine verantwortliche Winter vorüber oder dauert er noch an. Hat der Sänger dear Heather den ganzen Winter über nicht gesehen. Ist es überhaupt ein kalendarischer Winter, oder eine längere, womöglich eine schlimme Zeit. Ist es der Winter des Lebens. Sind die Haare womöglich weißer noch als die Beine. Der Dichter räumt ein: Well, my friends are gone and my hair is grey, seine Frauen aber bleiben for ever young, und wenn sie gar älter sind als er, der alte Mann, dann nur um den Preis seiner radikalen, perversen Verjüngung:

Women have been
exceptionally kind to my old age.

They bend over the bed
and cover me up
like a baby that is shivering.


Steht der weiße Winter für Reinheit, für Askese, für Leere, für das Nichts, das Nichts nicht nur riesig an den Rändern des Textes, sondern auch als Abgrund in ihm. Heather aber wollen wir uns nicht anders als schön und lebendig vorstellen.


Das ist soweit nur küstennahes Navigieren in Sichtweise der Gestade des Etwas, die Syrenen locken zu Großer Fahrt auf den Meeren des Nichts.

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