Sonntag, 2. November 2008

Proust

Wieder gelesen: Combray

No l'e oblidat malgrat no recordar-lo

Als seien jemandem hundertfingrige Sprachhände gewachsen, die mit unendlicher Geduld und Behendigkeit die Welt abtasten, um kaum je Wahrgenommenes und nie Erfaßtes ins Wort zu nehmen. Als habe dieser jemand die verlorene Zeit längst und zur Gänze gefunden und habe nun alle Zeit der Welt. Als nutze er diese Zeit für den Versuch, das unerbittliche Gesetz der Sprache, wonach nur unter Verzicht auf fast alles Sagbare sich überhaupt irgendetwas sagen und durch das Nadelöhr des Augenblicks fädeln läßt, immer nur das jeweils eine Wort unter Verzicht auf die Millionen anderen im Wartestand, immer nur der jeweils eine Satz unter Verzicht auf viermal unendliche viele Sätze, deren Geburt noch aussteht: als versuche ein Prometheus der Beharrlichkeit und des Geschicks ALLES zu sagen, die von Gott aus nur einem Wort, Logos, entlassene Welt in einer endlosen Reihe von Worten wieder einzufangen. Eine Welt überdies, die in ihrer Aktualität nur die allerflüchtigsten Berührungen überhaupt duldet und sich, als gegenwärtige, voller Trug unserem Begehren fast völlig entzieht und grausiges Spiel mit uns treibt. Erbarmungslose Weltgesetze, die den mit ausschließlicher, alles andere Leben zerstörenden Sehnsucht und unter minutiösesten Vorbereitungen erwarteten Gutenachtkuß der Mutter augenblicklich und übergangslos in die grenzenlose Trauer verwandelt, nur zuschauen zu können in hilfloser Panik, wie er in der Vergangenheit verschwindet, als habe er nie stattgefunden. Eine Welt aber auch, die in kleinen, lindenblütenteegetränkten Kuchenstücken gefaßte Augenblicke der Gnade enthält, aus denen sie, bereits verloren geglaubt, sich zur Gänze neu entfaltet, um sich Proust, dem hundertfingrigen Dichter, dem nacherzählenden Demiurgen, dem zweiten Gott darzubieten. Wer würde nach der Lektüre von Combray in der Blüte des Weißdorns, wo immer man ihr begegnet, fortan nicht zwei Schöpfer am Werk sehen. Ein Demiurg, der, soviel ist klar, nicht bloß seinen an der Oberfläche tastenden Händen folgt, sondern alle Höhen und alle Tiefen in allen Aggregatzuständen von der Wärme des Mutterschoßes bis zu Bereichen interstellarer Kälte in der sozialen Welt duchmißt, die „inhumane Welt des Vergnügens (du plaisir)“. Gewaltige metaphorische Sprünge und Transpositionen reißen unversehens immer wieder den mikroskopischen eingeengten Blickwinkel auf, durchschießen entfernte Sphären der Kunst oder der Prähistorie bis in die kosmischen Weiten von Raum und Zeit. Die ebenso kühnen wie fortwährenden und planmäßigen metaphorischen Überbrückungen zwingen Dinge aus größter Ferne in ein Tableau. Nicht nur der Weißdorn erscheint letztlich wie ein Schmuckelement in einem kostbaren Wandbehang, auch noch die weitesten Weiten werden beharrlich eingewoben in den allem Anschein nach endlosen Wortteppich und damit humanisiert - oder wird vielmehr das Humane kosmologisiert?

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