Dienstag, 4. November 2008

Handschmeichler


Kaum noch jemand trägt große Mengen von Lyrik als Flagge und Lebenstrost mit sich. Ein kleiner Vers aber, vielleicht die schönste poetische Definition des Glücks, ist mir schon vor Jahrzehnten zu einer Art mentalem Handschmeichler geworden, den ich immer bei mir trage. Er ist schon so abgegriffen, daß ich gar nicht weiß, ob er noch seine ursprüngliche Form hat. Es ist ein Vers in russischer Sprache, und in der von mir erinnerten Version, für die, wie gesagt, Garantie nicht übernommen werden kann, lautet er OmU so:


Schtschastliw tjem, schto tsjelowal ja zhenschtschin
Glücklich bin ich darin, daß ich Frauen küßte

Mjal tswjety, waljalsja na trawje
Blumen zerdrückt und mich im Gras gewälzt habe

I zwerjo kak naschich bratjew mjenschich
Und die Tiere als unsere kleineren Brüder

Nikogda nje bil po golowje.
Niemals über den Kopf gehauen habe.

In den ersten zwei Zeilen werden umstandslos drei gut eingeführte, jedermann vertraute Bilder des Glücks ausgestreut. Ein wenig auffällig vielleicht das zweite Glücksexempel, das mit dem Verb mjat': drücken, kneten – eine gewisse, in diesem Zusammenhang nicht unbedingt übliche Gewalttätigkeit ins Spiel bringt, die auch auf das Eingangsbild (Kuß) zurückstrahlt und es mit Leidenschaft auflädt. Mjat' streckt zudem seine Fühler aus zum anderen gewalttätigen Verb bit' in der zweiten Verhälfte, dies freilich in der negierten Form nje bil: nicht gehauen.

Besonderes erwartet man nach diesem doch ziemlich konventionellen Auftakt eigentlich schon nichts mehr. Und dann die abrupte Wende in eine Sphäre, die den zuvor angerissenen Glücksraum zertrümmert und in den nur vier Zeilen einen übergreifenden Raum ungeahnter Weite aufreißt. Der den kleineren Brüdern ersparte Schlag auf den Kopf trifft uns umso härter und öffnet uns die Augen und die Sinne. Die heidnische Welt der Eingangszeilen schlägt noch durch die Grenze hindurch, die das Christentum gezogen hat, wenn es zwar von den Geringsten unter uns spricht, zugunsten der noch geringeren Brüdern aber eigentlich nur den Heiligen Franz von Assisi ins Feld führen kann. Die ersten zwei Zeilen werden nicht vergessen oder widerrufen, sie werden vielmehr erneuert und erst jetzt zum Quell wirklicher Freude. Ja, das eine ist Glück und das andere ist Glück, und Glück ist das Ganze.

Der Vers entfaltete seine ganze Schönheit und Bedeutung nur im russischen Original. Dem extrem hellen und weitgehend unreinen Reim zhenschtschin (Frauen) // mjenschich (kleineren: die formale Gestalt des Verses zählt offenbar auch die Frauen zu den Schutzempfohlenen) korrespondiert der dunkle und reine Reim trawje (Gras) // golowje (gesprochen: galawje – Kopf). Der erste Teil handelt vom körperlichen, vegetativen Glück und schließt folgerichtig mit „Gras“, der zweite Teil handelt vom moralischen Glück und schließt ebenso folgerichtig mit „Kopf“; dem Kopf der kleineren Brüder, in einer Welt, die möglicherweise ohne Gott auskommen muß, die einzigen Gefährten unserer Einsamkeit.

Gelegenheiten, den kleinen Glücksbringer in die Hand zu nehmen, gibt es genug. Der Vers ist von Sergej Jessenin, in der vor mir liegenden umfänglichen Sammlung seiner Gedichte kann ich ihn nicht wieder auffinden.

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