Donnerstag, 18. Februar 2010

Verstetigung

Seitdem die große christliche Deutungsanstrengung gerade auch hier einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat, steht uns der Tod nackt vor Augen. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, hatte Thomas Bernhard anläßlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises bemerkt und damit den Minister Piffl-Percevic in Rage versetzt. Tolstois Erzählung Смерть Ивана Ильича, die das Leben nur als verlogene Fassade des Todes noch gelten läßt, steht da wie ein von der Zeit unberührter Monolith.

Anders sieht es aus, wenn Tolstoi sich dem Thema der Ehe zuwendet, dem Glück der Ehe, wie es in einer deutschen Übertragung heißt, Семейное счастие, richtiger übersetzt: Familienglück. Hier fühlt die Gegenwart sich auf der Höhe und weiß bestens Bescheid: derlei gibt es nicht, oder allenfalls für kurze Zeit und dann, wenn ordentlich Patchwork eingearbeitet wurde. So gesehen bedarf es einigen Mutes, den Kurzroman neu zu lesen, wohl wissend, daß Tolstoi von neueren Einschätzungen meilenweit entfernt ist.

Gleich der erste Satz: Мы носили траур по матери, которая умерла осенью, и жили всю зиму в деревне, одни с Катей и Соней, kaum weniger schön, wenn auch deutlich weniger knapp – sicher aber wäre es ein Fehler, dem Deutschen die Bündigkeit des Russischen abzwingen zu wollen - in der Übersetzung von Claire von Glümer: Wir trauerten damals um meine Mutter, die im Herbst gestorben war, und lebten – Katja, Sonja und ich – den ganzen Winter zurückgezogen auf dem Land - gleich dieser erste Satz nimmt uns so fest bei der Hand, daß wir sicher sind, nicht loszulassen bis zum Ende, wenn wir uns vielleicht auch wundern werden unterwegs.

Die Geschichte von Mascha und Sergei Michailytsch, die Tolstoi in Семейное счастие erzählt, hat er dann zumindest noch zwei weitere Male erzählt, als die Geschichte von Pierre und Natascha in Krieg und Frieden und als die Geschichte von Kitty und Lewin in Anna Karenina. Warum sind die beiden Paare aus den großen Romanen zu festen Bestandteilen unserer Vorstellungswelt geworden, Mascha und Sergei aber nicht?

Семейное счастие hat, wohl eine Singularität für Tolstoi, einen weiblichen Icherzähler, Mascha, zugleich die Protagonistin. Nataschas und Kittys Liebreiz, ihre прелесть, erblüht aber vollend erst unter dem Blick des Liebenden, unter einem Blick von außen also, der Mascha nicht zur Verfügung steht. Und andererseits, Natascha und Kitty und Kitty mögen das wichtigste im Leben Pierres und Lewins sein, kaum weniger wichtig aber ist ihre drängende Suche nach der Wahrheit. Sergei Michailytsch ist demgegenüber sozusagen bereits fertig, accompli, er weiß alles, nur Mascha muß lernen und durchlebt nach der Eheschließung einige der Irrungen und Wirrungen, die bei Natascha dann vorausgehen. Sergei Michailytsch ist weitgehend beschäftigungslos in der Erzählung und schwächt sie damit. Tolstoi selbst war mit Семейное счастие unzufrieden und hatte Grund, die Geschichte neu zu schreiben.

Die Geschichte, die dreimal erzählt wird, geht wie folgt: Ein junger, aber nicht mehr ganz junger Mann in guten Verhältnissen, oder auch, wie Pierre Besuchow, ohne Einschränkung reich, verliebt sich in ein sehr junges Mädchen, seine Liebe wird nach größeren oder kleineren Schwierigkeiten schließlich erwidert. Die Liebe verzaubert die Welt, und für einen Augenblick scheint es, als könne sie auf immer diesen Zustand der Schönheit behalten, что все это навсегда должно быть заковано в своей красоте. Aber es geht weiter und die Zauberwand der Schönheit verschiebt sich, das Liebesglück muß, um Bestand zu erhalten, in ein Ehe- und Familienglück umgestaltet werden. Familienglück, das ist Tolstois Wahrheit und Verteidigungslinie für zwanzig Jahre, Семейное счастие wurde 1859 veröffentlicht, also noch bevor Tolstoi selbst das Glück der Ege erkunden konnte, Anna Karenina 1877.

In Смерть Ивана Ильича (1886) ist diese Verteidigungslinie gefallen. Wer sich mit keiner gefundenen Wahrheit zufrieden gibt und immer weiter geht, geht auf das Nichts zu. Nur flüchtige, karge Augenblicke des Glücks tauchen in der Erinnerung des todgeweihten Iwan Iljitsch auf, Liebes- und Eheglück nur kurze Episoden, zum Schluß, nach Monaten der Qual und Verzweifelung, heißt es: Как хорошо и как просто. Где она? Какая смерть? Страха никакого не было потому что и смерти не было – wie schön und wie einfach, wo ist er? Welcher Tod? Es gab keinerlei Furcht, weil es auch den Tod nicht gab. - Der Tod ist die endgültige Verstetigung, eine Ewigkeit der einen oder anderen Art, der wir nicht entkommen können. Sollen wir, um auf der sicheren Seite zu sein, unser Leben gleich daran ausrichten?

François Ozon hat mit Sous le sable in unseren Tagen einen sehr schönen Film über das Glück der Ehe und seine mögliche Verstetigung über den Tod hinaus gedreht. In einer bündigen Besprechung heißt es: When her husband goes missing at the beach, a female professor begins to mentally disintegrate as her denial of his disappearance becomes delusional – nach der dominierenden Auffassung eine bloße Angelegenheit für die Psychiatrie also.

Keine Kommentare: