Montag, 15. Februar 2010

Hier die Prärie und dort die Steppe

kein Hauch in der Luft, reglos

Bei Dostojewski denkt man, was den Ort der Ereignisse anbelangt, als erstes an Petersburg, bei Tolstoi an Petersburg und Moskau, vielleicht auch an Frankreich, von wo aus Napoleon anrückt, oder an Italien, wohin Anna Karenina mit ihrem Geliebten reist. Natürlich denkt man auch an Jasnaja Poljana in der Nähe von Tula und an das dörfliche Rußland. Gogols Hauptwerke spielen dann schon ganz in der russischen Provinz, Lermontows Герой нашего времени im Kaukasus, Tolstois Spätwerk Хаджи-Мурат ebenfalls. Puschkins Капитанская дочка trägt sich zu in der Steppe bei Orenburg.


Jürgen Osterhammel stellt im Kapitel Frontiers seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts Analogien zwischen dem amerikanischen Westen und dem russischen Osten heraus, und bei der Lektüre von Puschkins Erzählung, zumal bei den Szenen im Fort, das von dem gutmütigen Hauptmann Mironow und, bei Licht besehen, mehr noch von seiner Frau geleitet wird, muß man sich geradezu zwingen, das Gelesene in der Vorstellung nicht mit Szenen aus John Fords schönsten US-Cavalary-Filmen zu bebildern. Denkt man weiter in dieser Richtung, so kann man in Tschechows Степь, der Erzählung von einem Treck durch die Steppe, einen Spätwestern sehen, allerdings von solcher Schönheit, daß er auf das Pendant in bewegten Bildern noch wartet.

Viele Filme des Genres zögern die Gewaltszenen hinaus und halten sie gering, können auf sie als Auslöser der Katharsis aber nicht ganz verzichten. Der Pegel offener Gewalt in Степь ist noch um einiges niedriger. Eine Natter wird ohne Grund erschlagen, am Lagerfeuer erzählt man sich Räuber- und Banditengeschichten, die meisten erfunden, das ist es wohl schon. Der Todschlag der Natter löst heftige Diskussionen aus zwischen den Treckbegleitern. Eine Natter darf man nicht einfach so erschlagen, ist die vorherrschende Meinung, und auch der Übeltäter geht in sich. Hier ist der russische Originaltext eigentlich unverzichtbar. Die Bündigkeit der russischen Sprache, hervorgerufen durch die fehlenden Artikel, die fehlende Kopula und die häufige Verzichtbarkeit der Personalpronomina ist ganz anders als die lakonische Knappheit des Englischen. Es ist eine freundliche Bündigkeit, sie hat, wenn man so will, einen immer leicht märchenhaften Ton und den vollen Ausdruck ihres Charakters findet sie in der fast nur aus Redensarten zusammengesetzten Sprache des einfachen Volkes, ум хорошo а два лучше, ein Verstand ist gut zwei aber besser &c., jeder Satz wie ein kleines warmes Tier in der Hand, wohlbehütet von den ständigen religiösen Anrufungen, дай Бог здоровья, gebe Gotte Gesundheit, о господи помилуй, oh Herr erbarme Dich, помогай царица небесная, hilf Himmelskönigin!

Iasiah Berlin berücksichtigt in seinem Buch über die Russian Thinkers auch die Dichter, Tolstoi natürlich und, für einige vielleicht überraschend, auch Turgenjew, nicht aber Tschechow. Vielleicht war er ihm zu nah und hatte vieles von dem bereits erledigt, was Berlin sich vorgenommen hatte, für Ausgleich zu sorgen und die Einheit des Differenzfeldes zu zeigen. Der Ideengeschichtler lebt nicht zuletzt von seiner Überlegenheit gegenüber den Einseitigkeiten der von ihm behandelten Ideen und ihrer Repräsentanten. Dieser Effekt stellt sich bei Tschechow nicht ein.


Sie sind alle vertreten, da ist Solomon Mojseitsch, ein Steppen-Dobroljubow, einer der бесы Dostojewskis, da ist in der Person Vater Christofors die orthodoxe Kirche Solowjows und wiederum Dostojewskis, da ist das einfache Volk Tolstois und der russischen Populisten, da ist der Adel in Gestalt der Gräfin Dranickaja, und da ist Warlamow der Wollbaron und Kapitalist, der durch die Steppe kreist wie das Kapital in der Welt, kaum je irgendwo zu treffen mit schon leicht Godot-haften Zügen. Kaum jemand wird beurteilt und schon gar nicht verurteilt. Alle haben recht und auch nicht.

Zusammengehalten werden die Steppenlandschaft und die Menschen darin durch das Bewußtsein eines Kindes, des neunjährigen Knaben Georgi, genannt Jegoruschka. Er durchfährt die Steppe, um in der Stadt eine Schule zu besuchen, um an den Ort des Lernens zu gelangen, Lernen, die große Hoffnung der Aufklärer, nicht erloschen für Tschechow, aber auch nicht hell strahlend. Ein neues Leben beginnt für Jegoruschka, aber: Каковa-то будет эта жизнь – wie wird es sein, dieses Leben?

An anderer Stelle heißt es bei Tschechow: Нужно веровать в Вога а если веры нет, то не занимать его места шумихой, а искать, искать, искать, одиноко, один на один со своей совестью - man muß an Gott glauben, und wenn es keinen Glauben gibt, dann soll man Gottes Platz nicht durch Lärm und Getue ersetzen, sondern suchen, suchen, einsam, ganz allein, Auge in Auge mit seinem Gewissen. Wenn man Gott verloren hat, muß man ihn suchen, und wenn er nicht zu finden ist nicht nachlassen zu suchen, bis etwas Glaubwürdiges gefunden ist; das Suchen aber soll, und das ist Tschechows besondere Note, ohne Lärmen vonstatten gehen - anders also als bei Dostojewski oder Tolstoi? Ebenso wenig wie ein eifernder Aufklärer und antireligiöser Eiferer war Tschechow zweifellos ein religiöser Eiferer. Vielleicht läßt er sich als positiv gestimmter Skeptiker verstehen. Geistliche Personen werden in seinen Werken immer mit großer Sympathie gezeichnet, der Vater Christofor in Степь, der Diakon in Дуэль, der Bischof in Архиерей. In jedem Fall allerdings muß einiges zusammenkommen, bevor Tschechow einem Bewohner seiner Erzählungen die Sympathie entzieht.

Wird denken an Sebald, in dessen Büchern Gott nicht mehr anwesend ist, seine Heiligen aber allenthalben zurückgelassen hat, an Sebald, der alles Lärmen sorgfältig ausschließt aus seiner Prosa und ein Gedicht über Tschechows Sterben geschrieben hat:



Ungemein heißes Sommerwetter
gegen Ende des Monats, kein
Hauch in der Luft, reglos
das ferne Stromtal
im schneeweißen Dunst.

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