Freitag, 5. Dezember 2008

Kafka

Wiedergelesen: Beim Bau der chinesischen Mauer

C’est comme relire un paragraphe de Kafka. On ne comprend pas pourquoi c’est si extraordinaire.

Es gibt diejenigen, die das Übliche ein wenig oder auch deutlich schöner ausdrücken als üblich, und diejenigen, die das Übliche mit traumwandlerischer Sicherheit und, da sie gar nicht anders können, gleichsam unter Zwang umgehen. Die Erstgenannten sind die Beliebten, die anderen die Wahren. Bei den Erstgenannten kann man nicht umhin mitzudenken, da sie, wie auch wir, den tagtäglich begangenen Denkwegen folgen. Bei den anderen sollte man den ernsten Versuch unternehmen, nicht zu denken, sondern sich ganz der reinigenden Kraft der Prosa zu überlassen.


Man hat in der Zeitung gelesen von den neuesten Überlegungen die Finanz- und Wirtschaftskrise betreffend, man hat gelesen, das europäische Parlament habe mit großer Mehrheit eine Initiative beschlossen, Werbung zu verbieten, die Frauen an der Herdplatte zeigt, hat sich die Augen gerieben und gewundert, welche faschistoide Gestalt die real existierende Emanzipation inzwischen angenommen hat. Und dann liest man vom Bau der chinesischen Mauer, die kargen präzisen Sätze: Da hielt eine Barke vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen. In der Mitte trafen sie einander, der Schiffer flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr; um ihm ganz nahe zu kommen, umarmte er ihn. Ich verstand die Reden nicht, sah nur wie der Vater die Nachricht nicht zu glauben schien, der Schiffer die Wahrheit zu bekräftigen suchte, der Vater noch immer nicht glauben konnte, der Schiffer mit der Leidenschaftlichkeit des Schiffervolkes zum Beweise der Wahrheit fast sein Kleid auf der Brust zerriß, der Vater stiller wurde und der Schiffer polternd in die Barke sprang und wegfuhr. – Die falschen Kleider sind herabgerissen, die Wahrheit wird sich, wenn je, hier zeigen.

Prosa lesen, Prosa leben: man beginnt dann doch zu denken, so gut es geht. Die Chinesische Mauer unterscheidet sich grundlegend von Kafkas bekanntesten Werken, der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß. Das sind Werke der Enge. Gregor Samsa verläßt sein Zimmer nicht mehr bis zu seinem Tod. Josef K’s restliches Leben spielt sich ab in seinem untergemieteten Zimmer, auf Dachböden und Hintertreppen, das des Landvermessers in Schankräumen und Notunterkünften. Die Tür zum Gesetz mag sich auf endlose Hallen und weiten öffnen, die Schwelle kann nicht überschritten werden, die Schloßanlage mag unermeßlich sein, Genaues wird man nie wissen. Die Chinesische Mauer ist demgegenüber eine Erzählung unglaublicher Weite.

In der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß wird ein Einzelner durch ein ihm und uns unverständliches Ereignis unwiderruflich aus einem bislang wohl hinreichend normalen Leben gerissen. Insbesondere Josef K. ist bis zum Ende recht unverzagt und hält fest am Glauben, er könne zurückkehren in die Normalität. Tatsächlich aber sind sie alle bereits verloren in dem Augenblick, da ihr jeweiliger Prozeß eingeleitet wird.

Die Chinesische Mauer ist, verglichen mit der Verwandlung, dem Proceß, dem Schloß, dem Landarzt oder der Strafkolonie, eine in verschiedener Hinsicht behagliche Erzählung Kafkas. Tief im Süden des chinesischen Reiches macht sich ein erzählendes, von den Geschehnissen selbst weitgehend unbehelligtes Ich eher abstrakt-philosophische Gedanken über den Bau der Mauer im äußersten Norden. Fast möchte man glauben, Luhmann habe einen Kerngedanken seiner Theorie, wonach Gesellschaften nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen bestehen, bei der Lektüre dieser Kafkaerzählung gewonnen. Die Nachrichten aus dem Norden erreichen den Erzähler, falls überhaupt, nur verfälscht und im desaktualisierten Zustand, die persönliche, ihm zugedachte Botschaft des Kaisers wird nicht den kleinsten Bruchteil des Weges überwinden. Die Große Mauer ist in gewisser Hinsicht weniger ein Bauwerk als ein Medium sich verdichtender Kommunikation zur Erzeugung von Gesellschaft.

Inzwischen hat die kommunikative Dichte der Welt in ungeheuerlichen Maße zugenommen, die Nachrichten unserer Regierung erreichen uns im Sekundentakt, wenn es ein muß über den Liveticker. Aber die fortwährend bedrängende Nähe und Enge der Gesellschaft verdeckt nur die unzugängliche Ferne und Gewalt ihrer Systeme. Die Entwicklung nimmt Kafkas Erzählung nichts von ihrer bedrängenden Intensität, ihr Sinn begibt sich mühelos in eine andere Dimension. Der Bau der Mauer war immer schon zugleich der Bau der Menschenwelt und der Bau der Welt. Der Kaiser ist in dichter demokratischer Nähe verschwunden, die vordem größte und doch recht nahe, mit dem Namen Gott bezeichnete Ferne aber ist hinter den fünfzehnmilliarden Lichtjahre entfernten Rand des Universums gerückt, von dort sind jetzt die Nachrichten an uns unterwegs, ohne daß Hoffnung besteht, sie könnten uns je erreichen.

Kafkas Erzählung hat aber nicht nur die Behaglichkeit des abstrakten Gedankens, sondern auch die der Idylle. Eine anrührendere Vater-Sohn-Konstellation wird man lange ein zweites Mal wird suchen im Werk. Er hielt mich an der Hand, dies tat er mit Vorliebe bis in sein hohes Alter, und mit der andern fuhr er seine lange ganz dünne Pfeife entlang als wäre es eine Flöte. Sein großer schütterer starrer Bart ragte in die Luft, denn im Genuß der Pfeife blickte er über den Fluß hinweg in die Höhe. Desto tiefer senkte sich sein Zopf, der Gegenstand der Ehrfurcht der Kinder, leise rauschend auf der golddurchwirkten Seide des Feiertagsgewandes - wie gern wohl hätte Kafka den Brief an den Vater in dieser Weise verfasst.

Der Vater sagte also etwa: damit bricht die Erzählung ab, oder endet sie vielleicht so? Sind wir aufgerufen, unsererseits die Worte des Vaters zu ersinnen und nachzusprechen? Oder haben wir es mit dem Hund zu tun, der in die Küche lief, und es fehlt nur ein kleines Verbindungsglied, das uns wieder zum Anfang führt?

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