Mittwoch, 22. Oktober 2008

Tschechow

Wieder gelesen: Duel’

Tschechow ist vermutlich der am wenigsten umstrittene Autor der Weltliteratur. Selbst Goethe hatte seine Kritiker, als Mensch ohnehin, zu Fontane heißt es bei Benn, er sei eine große Leuchte, aber dann wird ihm der Vorwurf des allgegenwärtig Pläsierlichen gemacht. Kommen wir zu Thomas Mann, so werden die Meinungen schon ganz bunt. Über Tschechow ist nie ein böses Wort gesagt worden, nicht über den Autor und nicht über den Menschen, und man müßte sich wohl schon auf den Kopf stellen, um ein solches Wort zu ersinnen. Nicht einmal der dialektische Trick, aus der Makellosigkeit einen Makel zu gewinnen, würde verfangen, die Fehler sind da, aber man verzeiht sie ihm leicht und gerne, und ein tiefes Gefühl der mentalen Reinigung ist gleichwohl eine der großen Freuden, die jede Tschechowlektüre hinterläßt. Wir sehen gern das Bild des Dichters und Arztes, sein auf jede Weise wirklich schönes Gesicht, vor allem auch, wenn es ihn neben seiner Frau Olga Knipper-Tschechowa zeigt, nicht lange nach der späten Heirat (1901) und damit auch schon nah zu seinem Tod (1904). Wir lesen gern die Briefe, die die beiden gewechselt haben, und sprechen nach: Mein ferner lieber Mensch.

Unter den großen russischen Erzählern des 19. Jahrhunderts ist Tschechow der unauffälligste und er begleitet uns unauffällig wie kein anderer und mit großer Selbstverständlichkeit bis in unsere Zeit. Er steht weniger in einer Linie mit Gogol oder Dostojewski, als daß er Tolstoi verlängert. Dessen demiurgische Kraft, die direkt aus der Hand zu kommen scheint, mag er nicht ganz erreichen, diese Kraft war bei Tolstoi aber eng verbunden mit einem moralisch-religiösen Eiferertum, das fortwährend dynamisierend und destruktiv zugleich in seine Prosa eingreift und bei Tschechow völlig fehlt. Tolstoi gleich kommt Tschechow im mühelos sympathetischen und anscheinend nach seinem Belieben grenzenlos verfeinerbaren Zugang zu seinem Personal. Die Tür zum Seelenleben kann aber auch hart verschlossen bleiben, von den inneren Regungen des Polizeioffiziers Kirilin wollen weder Dichter noch Leser Genaueres wissen.

Zur großen Form hat Tschechow als Erzähler keinen Zugang. Der Literaturkreis konnte, um auch nur annähernd auf das gewohnte Lesefutter zu kommen, nur zwischen drei oder vier Erzählungen wählen, die die Hundertseitengrenze ganz oder fast erreichen – Tschechows Optimum ist damit eigentlich überschritten, wir haben es vielleicht nicht mit seiner allerschönsten Erzählung zu tun aber doch mit einer sehr schönen, denn hier stimmt auf jeden Fall, was Onetti in gewinnender Anmaßung für sich reklamierte: der Autor kann gar nicht anders.

Wer wird, wenn die letzte Seite umgeblättert ist, je wieder den klobigen, sanguinischen, grenzenlos gütigen und liebenswert eitlen Samoilenko vergessen können oder den lachlustigen Diakon, dem nach den Maßstäben seiner von Dumpfheit und Brutalität, Gier, Habsucht und dem Fehlen grundlegender Formen von Lebensart gekennzeichneten Herkunft schon eine Welt äußerer Wohlanständigkeit und guten Benehmens als das kleine Paradies erscheint und der zweite Schritt zu einer wirklich paradiesischen Welt eigentlich als der leichtere.




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