Donnerstag, 30. Oktober 2008

An der Kennedybrücke


Unsere gute Freundin S. ist, so hört man, nach einer längeren Tätigkeit im Ehrenamt, in dem sie aber die erhoffte Freude und Befriedigung nicht uneingeschränkt gefunden hatte, jetzt wieder in ihrem angestammten Beruf als Ärztin tätig. Da wird man angesichts der langen Unterbrechung und ungeachtet all ihrer unstrittigen Begabung für das Patientengespräch im Hinblick auf diagnostische Schärfe und Zielgenauigkeit im therapeutischen Ansatz einige Zugeständnisse machen müssen. Zwiespältig und bedenklich stimmt auch, daß einerseits schon gutes Geld fließt, sie andererseits einen nicht geringen Teil dieses Geldes aber in den Ankauf eines seltsames Gefährtes investiert hat, eine Mischung aus Rennsportwagen, Militär- und Bestattungsfahrzeug. Im Hintergrund diese Kaufaktes steht, dafür spricht eigentlich alles, offenbar F., in seiner Art ja ein Autonarr.

Bei der ersten Vorbeifahrt hatte ich S. gar nicht erkannt als Eignerin und Lenkerin des Vehikels, pechschwarz wie es war mit einer großen weißen 4 im Fensterkreuz der Frontscheibe, einem unmäßig langgezogenen Motorvorbau und schießschartenartig verengten Seitenfenstern, die obendrein als die Augen eines Monsters gestaltet waren. Als sie nach Unterquerung der Kennedybrücke ein zweites Mal sich näherte und mir zuwinkte, konnte ich mich der fröhlichen Aufforderung zuzusteigen nicht entziehen. Wie sich zeigte, handelte es sich bei dem Gefährt um ein sogenanntes Funcar, und wir waren nur Teil eines größeren Corsos entlang des Rheins, veranstaltet von übermütigen und überwiegend jungen Leuten, und warum nicht auch selbst noch einmal jung und übermütig sein und aller Sorgen frei. Meiner kleinlichen Vorbehalte konnte ich mich nachträglich nur schämen.

Eingezwängt im engen Fond des Wagens saß ein von S. Geheilter. Er war gequält gewesen vom zwanghaften Versuch, das Rätsel der sogenannten Winterkönigin zu lösen, die der Dichter Sebald in seiner Erzählung Il Ritorno in Patria gegen Ende hin auftreten läßt. Der Dichter selbst hatte sich bereits verwünscht, weil er, obwohl sie ihm mit dem Aufsagen eines Verses eigentlich alle Türen geöffnet hatte, nur stumm und dumm dagesessen war und keine Worte gefunden hatte, sie anzusprechen, bevor sie dann in Bonn ausstieg aus dem Zug, in dem er aus dem Allgäu kommend nach England unterwegs war. Auch von dem Buch Das Böhmische Meer einer Autorin Mila Stern, in dem die Winterkönigin während der Fahrt am Rhein entlang gelesen hatte, war allen Bemühungen zum Trotz ein bibliographischer Nachweis nicht zu finden gewesen. Im Therapiegespräch mit S, war nun alles zutage getreten und alle Rätsel waren gelöst worden. Der Geheilte freilich hatte sich entfernt, bevor er mir, der ich an der Lösung dieser Fragen kaum weniger dringlich interessiert war, sein Wissen hatte mitteilen können. S. aber war an die ärztlich Schweigepflicht gebunden.

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