Dienstag, 28. Oktober 2008

Dornröschen

Böhmische Gespräche und eine Dissertation

Quan un es fa fent vell sovint es queda
aturat i mirant cap a la nit,
com qui estudia, abans de viatjar-hi,
plànols d'una ciutat desconeguda.

Angeregt durch die Dissertation der fernen jungen Freundin sowie auch durch die Gespräche mit den guten alten Freunden habe ich begonnen, meine kaum vorhandenen und nicht weiter erwähnenswerten Gedanken über Architektur zu ordnen. Ich gehe aus von der in ihrem Wahrheitsgehalt nicht ernstlich bestreitbaren Feststellung Gomez Davilas, die Moderne würde sich in keiner ihrer Vorkommnisse bündiger widerlegen als in ihrer Architektur. Seitdem die Kunst dem Kunstwillen freigestellter Individuen überantwortet ist, muß man mit deutlich mehr als neunzig Prozent Streichresultaten rechnen. In der Literatur oder der Malerei bereitet das keine nennenswerten Schwierigkeiten, die fehlgeleiteten Bücher können in den Regalen verstauben und irgendwann der blauen Tonne überantwortet werden, Bilder können an wenig beachteten Wänden hängen oder, besser noch, mit der uns zugewandten Rückseite an ihnen lehnen. Mit der Musik, die aus allen Fugen dringt, ist es schon schwieriger, vollends hoffnungslos aber ist es mit den Architekturerzeugnissen. Robert Gernhardt hat scharfsinnig den Grund erkannt und ans Tageslicht gezerrt: Das Ding es ragt und steht.

Folgerichtig haben wir während eines längeren Spaziergangs durch Karlsbad auf Abhilfe gesonnen und die Lösung tatsächlich gefunden. Sie besteht darin, daß Brüssel die sprengstofferfahrene ETA gegen gutes Geld abzieht von ihrem bisherigen Betätigungsfeld um sie zu beschäftigen mit der Beseitigung von Gebäuden, die ein bestimmtes Maß an Kunstwidrigkeit überschreiten, naturgemäß nachdem die Gemäuer zuvor von allen Vertretern höherer Lebensformen, Mensch, Hund, Katze und Kanarienvogel, evakuiert wurden. Anspruch auf Auslöschung hat alles, was den vollständigen Gernhardtreim erfüllt: Das Ding es ragt und steht, die Dummheit ist konkret. Die zu bewältigende Aufgabe ist so umfangreich, daß angesichts des sich ergebenden Zeitbedarfs die schleichende Resozialisierung nicht nur aller ETA-Mitglieder, sondern, sollte es dazu kommen, der Mitglieder aller aktuell bombenden Gruppierenden gesichert wäre.

Vor der erfolgreichen Lösung der Problematik im unteren Skalensegment in Karlsbad hatten sich freilich tags zuvor in Marienbad, ohne daß das unbedingt allen klar geworden war, Schwierigkeiten am oberen Rand abgezeichnet. Eine an Franz Kafka erinnernde Gedenktafel hatte eine den Dichter betreffende Diskussion ausgelöst. Alle waren bereit, sein literarisches Format anzuerkennen, ohne aber Neigung zu zeigen, ständig einen Band seiner Werke auf dem Nachttisch liegen zu haben (eine Gegenstimme), so wie man, wurde als Beleg angeführt, auch nicht unbedingt ein Gemälde von Goya über seinem Bett anbringen möchte (keine Gegenstimme). Wenn nun aber bereits die eher unaufdringliche Lagerung eines Kafkabändchen auf dem Nachttisch zurückzuweisen ist, wie wäre dann ein kafkaeskomorphes Architekturkunstwerk mit hohem Kunstwert inmitten unserer aller Lebensraum zu sehen? Da sich auf dem Feld der Architektur gehobener Kunstanspruch oft mit erheblich gehobener Größenordnung verbindet, sind die zu bewältigenden Schwierigkeiten im oberen Skalenbereich womöglich noch größer als unten: Man wird sogleich begreifen, daß die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind – die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten – die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle (Sebald, Austerlitz).

Remei Capdevila i Werning schreibt in „Meaning and Symbolization of Architecture and Nelson Goodman's Aesthetics" (unveröffentlichtes Manusskipt): The point is that one and the same building can function as an architectural (artistic) work in some cases and not in others: the same saltbox house can be understood both as an architectural work and as a place to provide shelter.

Radikalisieren wir diesen Gedanken und stellen uns einen makelloses, unten von der ETA und oben von der Selbstbescheidung der Architekten bereinigtes Architekturfeld vor, so könnte die Frage, ob nun Kunst oder nicht, auf ewig schlummern wie Dornröschen, sie könnte aber auch jederzeit und an allen Orten von jedermann wachgeküßt werden, denn in einer solchen Welt wären wir ohne Zweifel allesamt ständig verliebt.





2 Kommentare:

Christian Runkel hat gesagt…

Als Wohnungsverwalter habe ich ein eher pragmatisches Verhältnis zur Architektur. Wenn ein Kafkabuch einem herausgehobenen Gebäude entspricht, dann gehören die Millionen von Durch-schnittsgebäuden zum platten Alltag der Geschäftsbriefe und Zeitungsmeldungen.

Peters Idee mit der ETA müßte also erst einmal gefiltert werden: welches Gebäude will sich denn überhaupt einem Kafkabuch gleich stellen? Erst wenn es diesen Eigenanspruch begründen kann, darf es bombardiert werden. Vorher steht es unter dem Schutz des Gewöhnlichen. Wie wir alle.

Peter Oberschelp hat gesagt…

Die übermütige ETA-Idee hatten wir beim Schlendern durch Karlsbad entwickelt. Das an sich wunderschöne Architekturensemble dieser Stadt, das in mancher Hinsicht zum Dornröschenschlaf einlädt, ist unterbrochen von einigen Klötzen geradezu unglaublicher und atemberaubender Häßlichkeit, die ganz und gar nichts Kafkaesken haben, aber uneingeschränkt die Reimdefinition Gernhardts erfüllen. Hier, am untersten Architekturrand, soll die geläuterte ETA ihr heilsames Tun entfalten.

Der im Sebaldzitat erwähnte Brüsseler Justizpalast wird im Austerlitzbuch dann noch ausführlich mit durchaus kafkaesken Zügen ausgestattet dargestellt, ohne allerdings auch nur im Entferntesten ein architektonischen Pendant der perfekten Prosa Kafkas darzustellen. Für ein Architekturmonument, das auch dieses Merkmal aufweisen würde, habe ich selbst kein Beispiel parat, auf keinen Fall sollte es, wenn es denn aufzufinden ist, gebombt werden. Vielmehr sollte der Architekt vor Fertigstellung zum Nachdenken darüber angeregt werden, ob es, bei all seinem künstlerischen Glanz, tatsächlich Teil unserer alltäglichen Lebenswelt sein kann.