Montag, 27. Oktober 2008

Heimwärts von Spitzbergen


Unsere Kreuzfahrt in einem nördlichen Meer kam zum Ende, man traf sich zum letzten Kapitänsdinner. Vieles sprach dafür, daß wir die Barentssee befuhren, heimwärts von Spitzbergen mit Archangelsk als Zielhafen. Entweder war der Gang über das Deck sehr weit, oder es war der Etikette geschuldet, jedenfalls trugen wir Mäntel, die an der Garderobe abzugeben wir gerade im Begriff waren, ich war noch nicht bis zu den Garderobenfrauen vorgedrungen. Diese dort hinten unter den vielen Gästen im dezenten Halblicht des mit dunkler Holztäfelung verkleideten Vorraums sich abzeichnende schwarz gekleidete schlanke Gestalt mit dem bleichen verlorenen Gesicht, sollte das Jewgeni Onegin sein? Und wer dann war die vollends nur noch schemenhaft zu erkennende weibliche Gestalt, um die er mit aller gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt und – konnte man das erkennen, durfte man das annehmen – nicht ohne Zärtlichkeit bemüht war? Tatjana, diese Möglichkeit schied eindeutig aus, darauf durfte man nicht hoffen, aber andererseits wer weiß schon, und wer kennt wirklich die verschlungenen Wege unseres Lebens. Hatte er doch noch sein Glück gefundenen, oder war es wieder nur ein kurzer Zeitvertreib in der nicht zu vertreibenden Endlosigkeit des melancholischen Zeitmeeres? Angesichts so tiefer und bewegender Fragen hatte ich kein Anrecht an einer eigenen Geschichte, und auch an das Bild war besser nicht zu rühren, es konnte sich nur trivialisieren oder gar ins Schlimme wenden. Mein eigenes kleines Glück beschränkte sich auf den guten Einfall, den farbigen Schal um meinen grauen Allerweltsmantel zu schlingen. So würde ich ihn zum Ende der Festlichkeit leicht wiederfinden in der Masse der hinterlegten Kleidungsstücke und nicht aufgehalten werden auf dem längst schon ersehnten Gang zurück in meine Schlafkabine.

1 Kommentar:

Christian Runkel hat gesagt…

Ein schöner literarischer Traum!