Freitag, 31. Oktober 2008

Kafka z'Bärn

Wir können nicht wissen, wie der Schweizerdeutsche, der Berndeutsche die Welt erlebt. Die russische Sprache kann man erlernen und dann Dostojewski lesen, nicht grad wie ein Russe aber doch auf die gleiche Art. Lesen wir Rudolf von Tavel, Simon Gfeller und andere berndeutsche Autoren, dann streifen wir nur ein anderes Kleid über unser Hochdeutsch, ein lustiges und friedliches, wie uns scheint, und gehen durch einen hellen Tag. Wir lesen nicht Berndeutsch, sondern die Differenz zu unserer gewohnten Sprache, und die in die Schweizer Sprache eingelassene Derbheit macht sie nur noch friedvoller und gelassen wie die Bären in ihrem Berner Graben. Seltsam auch, daß das Berndeutsch sozusagen seine eigene Außenpolitik betreibt, so daß die häufigen französischen Passagen bei Tavel unmittelbar und ohne die geringste Schriftdeutsche Rahmung ins Idiom eingepaßt werden können.


Von den Bernern hören wir, sie empfänden das von ihnen so genannte Schriftdeutsche als eher kalt und abweisend, und tatsächlich flüchten sie, wenn man sie nur einen Augenblick läßt, zurück in ihr Idiom. Die Differenz wird also von der anderen Seite nicht ganz und gar anders beschrieben, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Berndeutsche für die Berner und Bernerinnen die neutrale Form der Weltartikulation ist. Kafka könnte die Nagelprobe sein. Wäre er ins Berndeutsche übersetzt und wollten wir, die Schriftdeutschen, ihn in dieser Weise lesen, wäre er wohl weitgehend um sein Bestes, das Kafkaeske, gebracht, dem atemlosen Landarzt hätte sich eine beruhigende Hand auf die Schulter gelegt. Würde die fehlläutende Nachtglocke als Nachtliglogge auch für den Schweizer ihren Schrecken verlieren?

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