Dienstag, 21. Juli 2009

Damals

Lesend: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Es muß gegen die Mitte meiner Schullaufbahn gewesen sein, als ein Radiomann, während er die neuesten Schlager vorstellte, einfließen ließ, die Menschheitsgeschichte sei doch wohl nichts anderes als ein sinnloses Gezerre und Gestürm – eine mir hochwillkommene Einschätzung, legitimierte sie doch den Unwillen und das Unvermögen, neben den lateinischen, englischen und französischen Vokabeln auch noch die diversen Friedriche, Wilhelme und Friedrich Wilhelme zu erlernen. Die Beschwichtigung durch den Radiomann hielt im wesentlichen vor, bis Niklas Luhmann ihn um einiges anspruchsvoller ablöste. Primär segmentäre, primär hierarchische, primär funktionale Gesellschaftsdifferenzierung und zusätzlich Semantik, die die Gesellschaftsstruktur umspielt, was braucht es mehr zum Verständnis des Geschehens? Was vielleicht noch fehlte, konnte den großen Romanen entnommen werden, die zu lesen so angenehm ist.

Wo im übrigen war Geschichte zu finden? Natürlich gab es im Altertum, im Mittelalter, in der frühen Neuzeit immer wieder den einen oder anderen Punkt, der zu vertiefen war. Die Idee andererseits, die von mir selbst gelebte Zeit sei, aus einem anderen Blickwinkel, auch bereits Geschichte, blieb und bleibt fremd. Unmittelbar im Rücken das große schwarze deutsche Loch, bei dem der Sinn, das Entsetzen ständig mit neuen Details zu irritieren, nicht ganz klar ist. Und das neunzehnte Jahrhundert? Waren das nicht einfach die Lebensumstände der Menschen, die ich vielleicht besser kannte als vielleicht alle anderen, mich selbst nicht ausgenommen, Natascha Rostowa, Aljoscha, Dimitri und Iwan Karamazow, Anna Karenina, der kleine Marcel in Combray samt seinen Eltern und Großeltern, Leutnant Glahn. Hamsun kam tief aus dem neunzehnten Jahrhundert und lebte noch, wo war da Geschichte. Freilich, wenn es wie in Krieg und Frieden oder Vor dem Sturm zurückging bis zu Napoleon und einige, wie der alte Knäs Bolkonski wohl noch Perücke trugen – aber auch diese Zeit wurde von Tolstoi und Fontane so nahe gebracht, als sei es die unsere.

Jetzt freilich schaut man sich um und muß ernstlich fragen, ob unsere Zeit noch die unsere ist. Darauf antwortet Ostermann mit einem wahrhaft bestechenden Ja und Nein, das sich über weit mehr als tausend Seiten erstreckt.

Von der Reihe der Herrschernamen, der bloßen Ereignisgeschichte ist das natürlich so weit entfernt wie die geballte Geographie von der schlichten Topographie, auch wenn auf die nicht ganz verzichtet werden kann. Der Untertitel Die Verwandlung der Welt ist ernstzunehmen, einerseits war das neunzehnte Jahrhundert wie kein anderes das Jahrhundert Europas, zugleich aber das erste Jahrhundert, das Anlaß gibt, die Welt als ganzes in den Blick zu nehmen. Im neunzehnten Jahrhundert haben die Vorgänge begonnen, die wir Globalisierung nennen, seitdem wir nicht mehr glauben können, ihrer noch Herr zu sein. Nordamerika und Australien werden in eins mit Europa behandelt, Osterhammel hat ein hervorragendes zweites Kenntnisstandbein in Ostasien, China zumal, und zieht auch Quellen zu Afrika, Südamerika und den restlichen Landstrichen heran. Achtzehn ausführliche Themenblicke wirft Osterhammel auf unsere Welt: Gedächtnis und Selbstbeobachtung; Zeit; Raum; Seßhafte und Mobile; Lebensstandards; Städte; Frontiers; Imperien und Nationalstaaten; Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen; Revolutionen; Staat; Energie und Industrie; Arbeit; Netze; Hierarchien; Wissen; „Zivilisierung“ und Ausgrenzung; Religion – und dann sind tausenddreihundert Seiten auf das erhellendste in einer federleichten, aufwandlos prägnanten und kräftigen Prosa* gefüllt, zweihundertundfünfzig Seiten Anhang schließen sich an. Osterhammel untersagt sich jede Kritik an den historischen Vorgängen, lakonische Maßnahmen wie die, Vokabeln in der Art von "zivilisiert" und "unzivilisiert" grundsätzlich nur in Anführungszeichen auftreten zu lassen, machen aber deutlich, daß aus anderer Warte praktisch alles massiv kritisierbar wäre

Der Radiomann hat ausgedient. Andere, die ihm vielleicht auch zu sehr vertraut haben, sollten die Gelegenheit ergreifen und Abschied nehmen von ihm. Das neunzehnte Jahrhundert von Natascha Rostowa und dem kleinen Marcel in Combray wird uns nicht genommen, wir haben gelernt, zwischen dem Knochengerüst der Theorie und der Epidermis der Erzählprosa ist reichlich Platz.

*Beispiel: Seitdem entwickelten sich Fish & Chips zur identitätsstiftenden Lieblingsmahlzeit der britischen Arbeiterklasse und zum Emblem nationaler Deftigkeit auf dem Teller (Lebensstandards/Globalisierter Konsum/Warenhaus und Restaurant S.343).

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