Sonntag, 19. Juli 2009

Gießtechniken

Wieder und wieder gelesen: Thomas Bernhard, Beton

If I can read this strange guy's mind aright

Wie sich entscheiden, wenn man sich nach längerer Abstinenz Thomas Bernhard erneut zuwendet? Das Theater beachten wir weiter nicht. Vielleicht nicht gerade den ersten Roman, Frost allein würde seinem Autor zweifelsohne einen bleibenden Platz sichern, es ist aber doch eine Art Protobernhard. Vielleicht auch nicht die späten und eleganten Alten Meister, vielleicht überhaupt eher eines der schmaleren Bücher. Die Verstörung? Gäbe man nach und würde den ersten Satz lesen, wäre sicher kein Aufhören vor dem letzten, Handke, eine seiner besten Taten, hatte das schon sofort erkannt. Das Kalkwerk mit dem Foltergefängnis der Hörstudie garniert mit Novalis und Kropotkin? Schwer zu widerstehen. Ja? Ja, wer könnte die Perserin vergessen und möchte sie nicht immer wieder treffen, nur solange wir von ihr lesen, kann der Selbstmord verhindert werden. Watten, Gehen, Billigesser, Untergeher, Korrektur? Eins der autobiographischen Bändchen? Das einzig Gerechte und Vernünftige und zu gleich das Vergnüglichste wäre naturgemäß, den ganzen Bernhard noch einmal von vorn bis hinten zu lesen.

Beton verspricht den besonderen Nervenkitzel extremer Konzentration, die notwendig ist, um nach achtzig Seiten über das Keimen der Reiseidee und weiteren neunzig Seiten über allem Anschein nach aussichtslose Reisevorbereitungen auf Seite hundertundsiebzig nicht wieder die komplette, in einen Satz gefaßte Reiseschilderung zu überlesen, um sich dann die restlichen vierzig Seiten zu wundern, wie und wann man aus Österreich auf die Baleareninsel gelangt ist: Hatte es in Peiskam, wo ich um zwei Uhr Mittag abgeholt worden bin, noch elf Grad minus gehabt, so zeigte bei meiner Ankunft in Palma, wo ich diese Notizen aufschreibe, das Thermometer schon achtzehn Grad plus. Eine Seite später erhält die Reisebeschreibung dann noch den naturgemäßen bernhardschen Feinschliff: Der Flug war, wie alle schon vorher überstandenen, auch wieder der fürchterlichste aller fürchterlichen gewesen. Staunend betrachtet man die verwegenen Proportionen des Buches: extrem ausgedehntes Vorspiel mit dem Entschluß zur Reise und den Reisevorbereitungen, die Reiseschilderung in ihrer Kürze noch weitaus extremer als das Vorspiel in seiner Länge und schließlich der nur kurze und, wenn man so will, dem Beton gewidmete Hauptteil.

Martin Mosebach läßt eine seiner Figuren beiläufig äußern, die Machtergreifung des Häßlichen habe begonnen mit der Technik des Gießens, alles Gegossene sei häßlich. Das ist sicher keine uneingeschränkt belastbare Aussage, das Fertigungsverfahren Gießen ist das vermutlich älteste Formgebungsverfahren überhaupt, älter als die Häßlichkeit, aber das bloße Wort Beton belegt, es ist etwas dran an dieser Überlegung. Vielfach entfacht Bernhard Haß und Empörung aus stilistischen Gründen für seine spezielle Darstellung von Liebe und Freude, bei der Architektur meint er es schlicht ernst. Aufkauf und Wiederherrichtung humaner Behausungen war sein zweites geistiges Standbein, den zeitgenössischen Siedlungsbau führt er auf eine insgesamt durchaus verbreitete, in diesem Zusammenhang aber doch spezielle Gießtechnik zurück: wie hingeschissen. So gesehen ist es kein Wunder, wenn Bernhard den Beton in einem eigenen Buch gefeiert hat.

Und andererseits, läßt sich Bernhards Prosa selbst nicht vorzüglich als eine besondere Technik des Gießens verstehen? Beton ließe sich einigermaßen akkurat als die Schilderung vom Packen (in Peiskam) und Auspacken (in Palma) zweier großer Reisekoffer in Form eines heftigen Sprachausgusses beschreiben. Die Gießtechnik ist freilich inversiv, es entsteht kein Gußstück durch Gießen einer Gußmasse in eine Form, vielmehr wird die Gußform selbst durch das Gießen erzeugt und sie, die Hohlform, ergibt die eigentliche Gestalt des Buches. Das Buch Beton entsteht aus der Schilderung der vergeblichen Bemühungen des Protagonisten, ein Buch über Mendelssohn zu schreiben, der Roman ist also die Hohlform eines anderen Buches, das nicht zustande kommt. Aus den fortwährenden wüsten Beschimpfungen der Schwester des Icherzählers entsteht als Hohlform die Gestalt einer lebenstüchtigen, kultivierten und warmherzigen Frau, die sich um das Wohl ihres Bruders sorgt &c.

Niemand als Bernhard ist vollständiger überzeugt worden von Paveses Mitteilung, ein Buch zu schreiben sei, wenn man so wolle, einfach und bestehe lediglich darin, den ersten Satz zu Papier zu bringen. Man müsse, so Pavese, anschließend dann aus diesem Satz nur noch die fälligen Konsequenzen ziehen. Es gibt schlagende Belege für diese These: Call me Ishmael. Punkt, kein Ausrufungszeichen, niemand zweifelt, daß es der genauen sechshundert Seiten des Moby Dick bedarf, um die unendlichen Verheißungen dieser drei Worte einzulösen. Auch der Protagonist des Betonbuches ist überzeugt, er müsse nur den ersten niederschreiben, und die Sätze seines Mendelssohnbuches würden sich zwangsläufig über Höhen und Täler ergießen.

Der Eingangsatz vom Beton unterscheidet sich kraß von dem des Moby Dick: Von März bis Dezember, schreibt Rudolf, während ich, was in diesem Zusammenhang gesagt sein muß, große Mengen Prednisolon einzunehmen hatte, um meinem zum dritten Mal akut gewordenen morbus boeck entgegenzuwirken, trug ich alle nur möglichen Bücher und Schriften über Mendelssohn Bartholdy zusammen, suchte alle möglichen und unmöglichen Bibliotheken auf, um meinen Lieblingskomponisten und sein Werk von Grund auf kennenzulernen und, so mein Anspruch, mit dem leidenschaftlichen Ernst für ein solches Unternehmen wie das Niederschreiben einer größeren wissenschaftlichen einwandfreien Arbeit, vor welcher ich tatsächlich schon den ganzen vorausgegangenen Winter die größte Angst gehabt habe, alle diese Bücher und Schriften auf das sorgfältigste zu studieren, war mein Vorsatz gewesen und erst darauf, endlich, nach diesem gründlichen, dem Gegenstand angemessenen Studium, genau am siebenundzwanzigsten Jänner um vier Uhr früh diese meine, wie ich glaubte, alles bisher von mir die Musikwissenschaft betreffende von mir aufgeschriebene Veröffentlichte sowie Nichtveröffentlichte weit zurück- und unter sich lassende, schon seit zehn Jahren geplante, aber immer wieder nicht zustande gekommene Arbeit angehen zu können nach der für den Sechsundzwanzigsten bestimmten Abreise meiner Schwester, deren wochenlange Anwesenheit in Peiskam selbst den geringsten Gedanken an eine Inangriffnahme meiner Arbeit über Mendelssohn Bartholdy in seinen Ansätzen zunichte gemacht hatte. - Es wird Zeit und Raum brauchen, bis alle in diesem erstaunlichen Eingangssatz angeschlagenen Rhythmen und Wellen sich ausgelaufen haben.

Die Durcharbeitung vollzieht sich im Rahmen einer typischen bernhardschen Erregung, die Peiskam ganz beherrscht und auch in Palma nicht eigentlich nachläßt. Und doch ist das alles in gewisser Weise nur die Hintergrundmusik zu der in der Art einer schlichten Volksweise vorgetragenen Geschichte der Anna Härdtl, die Geschichte von ihrem traurigen Scheitern am und auf dem Beton und ihr schließliches Verbleiben im Mallorquiner Friedhofsbeton. Wir verlassen für diese Geschichte nicht das Bewußtsein des Erzählers, der sie aus seiner Erinnerung schöpft, und doch wird der Wechsel in Thema, Melodie und Tonart ebenso abrupt verfügt, wie Seiten zuvor der Ortswechsel: Plötzlich hörten wir von der Anna Härdtl folgendes: Ende August sei sie mit ihrem Mann und einem dreijährigen Sohn .... In der gegenwärtigen Erzählzeit erfährt Rudolf dann von ihrem zwischenzeitigen Tod: Nachdem ich diese meine Frage ganz deutlich und wie ich sehen konnte, selbst auf spanisch sehr gut verständlich machen hatte können, sagte der Portier nur mehrere Male das Wort suicidio.

Die Geschichte der Anna Härdtl befreit den Erzähler für den Augenblick aus der Gefangenschaft seines Ichs, ihr Tod ist aber auch der eigene, dem der Kranke das Buch hindurch entgegenblickt und in seinen Tiraden und Wortergüssen zu versenken sucht. Nun steht der Tod kalt und häßlich wie erstarrter Beton vor ihm. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, hatte Thomas Bernhard schon im Jahre Neunzehnhundertundsiebenundsechzig eine ihm zu Ehren versammelte gläubige Festgemeinde, Minister und andere, unterrichtet, der Minister der Kultur hatte die Wahrheit nicht ertragen können und war aus dem Festsaal entlaufen.

Der letzte Satz: Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, schreibt Rudolf, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst. - Ein Buch voller Gelächter, Schrecken und Angst, ein Buch von betörender Schönheit in Schrecken und Angst und Gelächter, das dann verstummt.

1 Kommentar:

Christian Runkel hat gesagt…

Zu Beton kann und will ich nichts sagen. Mein Vater hat mir mit der Herstellung und dem Verkauf von Beton eine unbeschwerte Jugendzeit ermöglicht. Mich hat außerdem 1967 der Anblick einer großen goldüberzogenen Betonwand mit dem Material versöhnt, wenn das je nötig war. Das war in der Kirche Regina Maria Martyrum in Belin.