Sonntag, 5. Juli 2009

Migration

Wiedergelesen: Kafka, Amerika

Das Leben ist erstaunlich kurz. Ich begreife kaum, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufallen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht ausreicht: so, mit solchen Worten, zaubert man die Ewigkeit herbei. Kafka hat die Ewigkeit nicht beansprucht, und sich um seine zeitgeschichtliche Gegenwart kaum gekümmert, das ist wohl die Voraussetzung dafür, daß uns seine Bilder, nun auch schon fast hundert Jahre alt, so direkt und tief und völlig unverbraucht ergreifen. Sie ragen wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehen die freien Lüfte.

Von den drei Romanfragmenten hat Amerika nicht in vergleichbarem Maße den Status einer Vorstellungskonstante erreicht, wie das für das Schloß und den Proceß gilt, mit einem Wort, Amerika ist um einiges weniger kafkaesk. Bereits Max Brod hat das Romanfragment als chaplinesk qualifiziert, das gilt in gemindertem Maße aber auch für Proceß und Schloß, auch hier sind die Protagonisten von munterer Unverzagtheit, das wäre doch gelacht, und nur für den Proceß wurde das letzte, die Grundlosigkeit des guten Mutes bescheinigende Kapitel in nicht zu übertreffender Härte niedergeschrieben: Aber an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Wie ein Hund sagte K. mit brechenden Augen, es war als sollte die Scham ihn überleben.

Das letzte, vom Naturtheater in Oklahoma handelnde Kapitel des Amerikafragments scheint auf den ersten Blick einen günstigeres Buchschluß zu versprechen, der Talmicharakter der Veranstaltung ist aber kaum zu übersehen, und am Ende dürfte sich das phantasierte Theater in Oklahoma vom wahren Leben in Amerika so wenig unterscheiden wie Onettis Santa María von Buenos Aires oder Montevideo.

Karl Roßmann ist nicht nur chaplinesk, sondern darüber hinaus parzivalesk, von unbeirrbarer Reinheit. Einerseits möchte man, wie der Junge in Il Ritorno in Patria, ständig mahnen und warnen und in die Handlung eingreifen und den Karl mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß er, um sich aus dem staubigen Kerker, etwa des Dienstes bei Brunelda, in das Paradies zu versetzen, wie er es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müssen, andererseits weiß man hier aber nicht, wohin die Hand sich strecken sollte und ist auch bald schon fasziniert und auch erleichtert, wie wenig selbst schwerstes Unbill den Karl Roßmann anficht.

Jürgen Osterhammel hat das IV. Kapitel seiner erstaunlichen Durchleuchtung des neunzehnten Jahrhunderts dem Thema der Migration gewidmet, nicht zuletzt der Emigration nach Amerika als schwarzer Sklave, als asiatischer Kontraktarbeiter oder als weißer Europaflüchtling. Mit dem Amerikabuch hat Kafka, entgegen des für ihn Üblichen, also in gewisser Weise ein zeitgeschichtliches Thema aufgegriffen, denn so sehr wir Kafka dem zwanzigsten Jahrhundert zurechnen oder in ihm sogar unseren Zeitgenossen sehen wollen – welche auch nur geringsten Alterungsspuren wären denn auch am Neuen Advokaten, an den Elf Söhnen, in der Strafkolonie festzustellen? – seine Biographie fällt in das neunzehnte Jahrhundert, das in seinen wesentlichsten Bezügen, so wiederum Osterhammel, erst zur ungefähren Zeit von Kafkas Tod in das zwanzigste übergeht.

Nach Mitternacht soll Karl ein Brief des Onkels übergeben werden, er verschiebt seinen Aufbruch und „verliegt“, wäre er aufgebrochen, hätte er den Brief nicht erhalten und es wäre nicht zum Bruch mit dem Onkel gekommen. Kafkas Welt ist immer eine Welt der Mißverständnisse, der Verleumdungen und Irreführungen, der falsch verstandenen Situationen und unwiderruflich verpassten Möglichkeiten, mit einem Wort, eine Welt voller Kommunikationen nicht im von Habermas erwünschten Sinn. Gleichzeitig wird die Bedeutung der neuen Kommunikationswege für die Neue Welt hervorgehoben. Der Saal der Telegraphen im Bürohaus des Onkels war nicht kleiner, sondern größer als das Telegraphenamt der Vaterstadt Karls. Im Saal der Telephone gingen, wohin man schaute, die Türen der Telephonzellen auf und zu. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft. Auskunftserteilung und Gesprächsvermittlung scheint die wichtigste Obliegenheit überhaupt im Hotel Occidental. Zur Unterstützung der auskunfterteilenden Unterportiers war jedem ein Laufbursche beigegeben, der in gestrecktem Lauf von einem Bücherregal und aus verschiedenen Kasten alles herbeizubringen hatte, was der Unterportier gerade benötigte. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so warf er einfach das, was sie ihm auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch herunter. Da waren ferner sechs Unterportiers mit sechs Telephonen, und wieder stand neben jedem der Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung.

Kafka hat nicht nur und nicht vor allem die Neue Welt als dichterisches Migrationsziel, sondern mit China in herausragenden Erzählungen wie Die Kaiserliche Botschaft, Ein altes Blatt oder Beim Bau der chinesischen Mauer auch die uralte Welt. Spärliche Botschaften eilen durch den unübersehbaren Raum des Reiches und erreichen kaum je ihr Ziel. Man hörte zwar viel, konnte aber dem vielen nichts entnehmen. So groß ist unser Land, kein Märchen reicht an seine Größe. Ganze Dynastien sinken nieder und veratmen durch ein einziges Röcheln. Von diesen Kämpfen und Leiden wird das Volk nie erfahren, wie Zuspätgekommene, wie Stadtfremde stehen wir am Ende der dichtgedrängten Seitengassen. In diese Welt nun drang die Nachricht vom Mauerbau. Eine Barke hielt vor uns, der Schiffer winkte meinem Vater zu, er möge die Böschung herabkommen, er selbst stieg ihm entgegen. In der Mitte trafen sie einander, der Schiffer flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr. Ich sah, wie der Vater die Nachricht nicht zu glauben schien, der Schiffer die Nachricht zu bekräftigen suchte, der Vater noch immer nicht glauben konnte, der Schiffer mit der Leiden schaftlichkeit des Schiffervolkes zum Beweis der Wahrheit fast sein Kleid auf der Brust zerriß, der Vater stiller wurde und der Schiffer polternd in die Barke sprang und wegfuhr. Schon auf der Schwelle begann mein Vater zu berichten, was er gehört hatte. Mein Vater sagte also etwa: ... was er sagte, erfahren wir nicht. - Man kommt kaum umhin, in Kafka einen Luhmann im poetischen Status nascendi zu sehen mit dessen in ganz anderer Weise vorgetragenen großen Erzählung von der Kommunikation und ihren endlosen Tücken.

Auch bei Kafka sind versperrte Türen und Tore, denen bei Luhmann die sich verschließenden Systeme als Signum der Moderne entsprechen, in der Neuen Welt nicht weniger prägend als in der alten : Mir unterstehen alle Tore im Hotel, also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden – kaum leichter ist es für Karl Roßmann, das Hotel zu verlassen, als für den Mann vom Lande das Gesetz zu betreten.

Die Türen verschlossen, das Land zu weit, niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. - Das Sitzen wider das Laufen, das Fenster wider die Tür, die erträumte Botschaft wider die überbrachte – im Traum werden die Botschaften der Dichter und Götter übermittelt. Hat Kafka je ernstlich vorgehabt, einen Roman zuende zu schreiben? Vom Proceß hat er nur die drei Seiten Vor dem Gesetz veröffentlicht, aus dem Bau der chinesischen Mauer, deren geplanter Umfang nicht bekannt ist, nur die ebenso knappe Kaiserliche Botschaft, auf das äußerste verdichtete Mitteilungen, wie sie die Götter den Dichtern zuflüstern, hier unten nicht zu verstehen.

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