Donnerstag, 9. Juli 2009

Treballo d'advocat

el per qué de cada cosa


Wir haben einen neuen Advokaten, den Dr. Bucephalus. In seinem Äußeren erinnert wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Macedonien war. Wer allerdings mit dem Umständen vertraut ist, bemerkt einiges. Doch sah ich selbst einen ganz einfältigen Gerichtsdiener mit dem Fachblick des kleinen Stammgastes der Wettrennen den Advokaten bestaunen, als dieser, hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingenden Schritt von Stufe zu Stufe stieg.

Im allgemeinen billigt das Barreau die Aufnahme des Bucephalus. Mit erstaunlicher Einsicht sagt man sich, daß Bucephalus bei der heutigen Gesellschaftsordnung in einer schwierigen Lage ist und daß er deshalb, sowie auch wegen seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, jedenfalls Entgegenkommen verdient. Heute – das kann niemand leugnen – gibt es keinen großen Alexander. Zu morden verstehen zwar manche; auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht; und vielen ist Macedonien zu eng, so daß sie Philipp, den Vater verfluchen – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar, aber ihre Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich.
Vielleicht ist es deshalb wirklich das Beste, sich, wie es der Bucephalus getan hat, in die Gesetzesbücher zu versenken. Frei, unbedrückt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern von dem Getöse der Aleksanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher.

Kafkas Tiergeschichten, Der Bau, Ein Bericht für die Akademie, Josephine die Sängerin muß man nicht bevorzugen, wenn es aber darum ginge, die Geschichte der Welt, von der Barbarei über die Hochkulturen zur Neuzeit, in einem Absatz zu erfassen, sieht man nicht, wie Der neue Advokat zu übertreffen ist. Jürgen Osterhammel benötigt in seinem großartigen Geschichtsaufriß allein für das neunzehnte Jahrhundert an die tausendfünfhundert Seiten und macht keinen Hehl daraus, daß jeder Lichtstrahl nur die unermeßliche Weite des Dunkels verständiger erahnen läßt. Kafka zeichnet wie Picasso oder Matisse, wenige Striche nur, kaum etwas ist ausgeführt und alles ist vorhanden. Mit einem Strich, einer Verszeile, einem Prosaabsatz katapultiert sich die Kunst hinaus zu einem archimedischer Punkt, von dem aus beliebig viel gesehen und beliebig viel vernachlässigt werden kann, in jedem Fall die Begründung, el per qué de cada cosa – Augenblicksbewohner archimedischer Punkte fragen nicht nach dem Warum. Schon eine unmittelbare Hinwendung zum Thema kann alles verderben und den Dichter hart am Boden aufschlagen lassen. Kafkas jenseitiger Schritt ist trittfest, und wir wollen unser Bestes tun, ihn nicht aus der Balance zu bringen.

Der erste überaus kühne Strich, Alexanders Streitroß hat, wenn man so sagen darf, umgesattelt und ist neuerdings tätig als Rechtsanwalt, die Welt muß sich neu ordnen angesichts dieser aus jedem Rahmen fallenden Erscheinung und weiß nicht wie. Am besten, sie rührt sich nicht und schluckt das Unerhörte. In seinem Äußeren erinnere nur noch wenig an die alte Zeit, wird abgewiegelt, der einfältige Mann aber will dem unglaubliche Gesicht des Bucephalus auf der Marmortreppe mit seiner Rennbahnerfahrung beikommen. Die nicht weniger hilflose Erkenntniselite beruft sich auf die heutige Gesellschaftsordnung, von der sie kaum allzuviel weiß, und billigt die Aufnahme des Rosses in die Advokatenkammer. Das ist zwiespältig, schon Minimalkenntnisse des Werkes Kafkas stellen klar, daß er den Proceß der Verrechtlichung der Welt, dem sich auch das mythische Schlachtenroß einreihen muß, nicht mit voreiligem Jubel begleitet hat. Ebenso wenig hat er naturgemäß idyllische Vorstellungen vom vorrechtlichen Zustand der Menschengeschichte, Ein altes Blatt kann als Vorbild aller ungezählten Westernszenen gelten, in denen Desperados die Gewalt in einer Provinznest übernommen haben, und stellt sie alle in den Schatten: Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde. Was sie brauchen, nehmen sie. Man kann nicht sagen, daß sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. Auch ihre Pferde fressen Fleisch; oft liegt ein Reiter neben seinem Pferd und beide nähren sich vom gleichen Fleischstück, jeder an seinem Ende.

Ein weiterer Strich: Zu morden verstehen zwar manche, und auch an Geschicklichkeit, mit der Lanze über den Bankettisch hinweg den Freund zu treffen, fehlt es nicht – aber niemand, niemand kann nach Indien führen. Das Übel ist nicht verschwunden aus der Welt, aber die Größe einer Zeit, als es noch in der Welt eine Welt jenseits der Welt gab, ist dahin. Natürlich war diese Welt schon damals unerreichbar, Indiens Tore verschlossen, aber heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen. Mehr als eindrücklich beschrieben hat Kafka die Türen des Gesetzes in alten und in neuem Tagen.

Die Richtung war durch das Königsschwert bezeichnet. Heute zeigt niemand die Richtung; viele halten die Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln; und der Blick, der ihnen folgen will, verirrt sich. Nicht nur nicht das Recht, auch die heilige Demokratie, das Land der vielen kleinen Schwerter, wird von Kafka offenbar nicht mit hellem Jubel begrüßt, der Blick ist zu fern und fremd, nicht zu beeindrucken nach unserem Willen. Oder ist Jubel spürbar im letzten Satz:

Bei stiller Lampe, fern von dem Getöse der Alexanderschlacht, liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher – sind die alten Bücher, die er im letzten Satz liest, überhaupt noch die Gesetzesbücher des vorletzten Satzes, oder kümmert ihn das Gesetz bereits nicht mehr so sehr, so wie es Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo, Sohn eines Rechtsanwalts, wenig gekümmert hat, und er, Bucephalus, feilt inzwischen, ebenso wie Borges jenseits des Ozeans, in der stillen Muße eines Landhauses an der tastenden Übertragung eines alten Textes, die er, wie auch Kafka die meisten seiner Texte, nicht drucken zu lassen gedenkt? Auch feurigste Aktivisten haben bislang versäumt, Kafka dem Biedermeier zuzuschlagen.

Keine Kommentare: