Donnerstag, 23. Juli 2009

Weiter, ihr Wellen, ihr wellen

Und eine solche Person getraut sich ohne weiteres zu sagen, daß sie noch besser schreibe als Virginia Woolf, daß sie in ihren Romanen weiter sei als die Wellen

In der Erzählliteratur hat England schon im neunzehnten Jahrhundert die Frauenquote ganz ohne staatlichen Zwang erfüllt, die Brontëschwestern, Jane Austen, Elizabeth Cleghorn Gaskell, George Elliot. Die aufblühende Kriminalliteratur haben die Damen praktisch allein in die Hand genommen, im zwanzigsten Jahrhundert dann Virginia Woolf.

Naturgemäß verhöhnt Thomas Bernhard seine Romangestalt mit realem Hintergrund (in der für ihn handelsüblichen zügellosen Weise: Nun saß ich der Wiener Virginia Woolf gegenüber, dieser abgeschmackten Gedichte- und Prosaschöpferin, die, das war jetzt auf einmal klar, zeitlebens nur in ihrem kleinbürgerlichen Kitsch gebadet hat), wenn er sie sagen läßt, sie sei weiter als Virginia Woolf, eine alte Frage aber ist und bleibt, gibt es dieses weiter überhaupt in der Kunst, in der Literatur? Nimmt man die herzerfrischenden Eheanbahnungsgeschichten der Jane Austen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert und hält die Wellen dagegen, so scheint die Rede von einem weiter nicht leicht von der Hand zu weisen, das Arsenal der künstlerischen Möglichkeiten ist ungleich reicher, der Blick geht ungleich tiefer. Verläßt man das Babje Zarstwo, das reine Frauenreich auf der Insel, und schaut etwa auf Tolstoi, jünger als Austen, älter als Woolf, wird man schon unsicher. Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert jedenfalls ist ein weiter in der Prosa nicht mehr festzustellen. Die Großen sind da, Proust, Joyce, Kafka, Woolf, es sind sicher mehr, aber diese zählen zum unumstrittenen Kern, neue kommen hinzu, wenige allerdings nur und jedenfalls nicht die Fünfhundert pro Jahr, die von den Verlagsanzeigen reklamiert werden. Jeder von ihnen ist neu und auch alt, denn ohne die Alten wären sie nicht. Jeder Künstler läßt uns die Welt neu sehen, aber es ist immer die alte Welt, die er uns neu sehen läßt. Ein weiter gibt es nur sehr bedingt im Bezirk der Kunst, den man sich andererseits auf keinen Fall vorstellen darf als eine Fläche mit leeren Flecken, die nach und nach auszufüllen wären. Jeder ausgefüllte Fleck, jede ergriffene Möglichkeit zieht zahllose weitere Möglichkeiten, bis dahin gar nicht einmal erahnbare, hinter dem Horizont hervor. Kunst entsteht dann, wenn eine solche Möglichkeit aus einer Notwendigkeit her ergriffen wird.

Bernhard ergießt seinen Hohn denn auch weniger über die ihm wehrlos ausgelieferte Wiener Virginia Woolf als über die Vorstellung des weiter. Er selbst hat die deutsche Sprache und ihre Syntax unter Hochtemperatur gezerrt, verdreht, verwunden und neu geformt, gleichzeitig ist sein Werk voll von den alten Meistern, Pascal, Novalis, Mendelssohn, Tintoretto. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, er sei in Amras weiter gegangen als Novalis. Jeder große Künstler besetzt ein neues Terrain, es muß aber nicht weiter draußen liegen, bei Sebald - den wir nie aus den Augen verlieren - vermuten nicht wenige, sein Terrain sei kein bißchen neu und er selbst ein durchaus nur retardierter Stifterepigone. Neu heißt nicht weiter, und weiter ist oft nicht neu. In den Waves, heißt es, sei Virginia Woolf besonders weit gegangen, habe sich sozusagen selbst übertrumpft. Wie muß man sich das vorstellen? Ist sie dabei über sich selbst erschrocken und hat in den Jahren und Zwischen den Akten den Rückzug angetreten, nicht zu reden von Flush? Vielleicht sogar. Bezüglich Joyce besteht stillschweigend Übereinkunft, daß er mit Finnegane's Wake vielleicht doch zu weit gegangen ist. William Gaddis’ Romane sind als Stimmenromane sicher radikaler noch und insoweit weiter als die Wellen, so schön und gelungen wie sie sind, möchte man aber doch nicht sagen, sie seien schöner oder gelungener als die Bücher der Virginia Woolf. Zugleich wird nicht jeder die Wellen als Virginia Woolfs gelungenstes und schönstes Buch ansehen – Schönheit dabei dreist und undefiniert als Quintessenz der Kunst verstanden.

Wenn es gesellschaftliche Aufgaben der Kunst gibt, dann vor allem die, sich dem harten und nahezu allumfassenden Diktat des Immerweiter, Immermehr nicht zu unterwerfen, immer mehr Freiheit, angeblich und was immer man jenseits eines unbestimmten Punktes darunter versteht, rastlose Weiterentwicklung der Technik, auch wenn sie uns dadurch insgesamt nicht fügsamer wird, immer mehr Güter, auch wenn die selbstzerstörenden Züge ihrer Produktion ständig deutlicher werden, immer mehr körperliche Höchstleistungen, auch wenn sie nur noch pharmazeutisch zu erzeugen sind. Auf der anderen Seite die Kunst, statisch, wie eine bedeutende Autorität schon vor einiger Zeit verordnet hat, auch wenn andere dem Ärgernis in ihren Augen abhelfen und sie, die Kunst, zum Gleichschritt immer nach vornhinaus bewegen wollen.

Der Roman Die Wellen besteht aus zwei separaten Erzählsträngen, alternierend vorgebracht in jeweils neun Kapiteln. Zum einen wird ein Sonnentag geschildert, die Bewegung der Sonne am Himmel und das Wellenspiel im wechselnden Licht. Die Sonne als Faktum und Symbol der unnachgiebig voranschreitenden Zeit und die Wellen als Faktum und Symbol der unablässigen Veränderung im ewig Gleichen. Vögel (the birds sang in the hot sunshine, each alone, each sang stridently, with passion, with vehemence) und Pflanzen (the topmost leaves of the tree were crisped in the sun, they rustled stiffly in the random breeze) kommen hinzu, auch Behausungen (the windows showed erratically spots of burning fire) aber geisterhaft, ohne ihre Bewohner. Der eine vergehende Tag, oft das Kleid einer von Virginia Woolf erzählten Menschengeschichte, hier menschenleer als er selbst geschildert, ein Weiter oder Mehr gibt es nicht. Und zum anderen das Leben von sechs Personen, drei Männern und drei Frauen: Bernard, Neville, Louis, Susan, Jinny und Rhoda, ihr Leben von der Kindheit bis zur Mitte des Lebens zu entnehmen allein ihren Stimmen und Worten. Hinzu kommt dann noch Percival who rode and fell in India und der seine Stimme nicht erhebt. Stimmen, aber keine Gespräche, Meinungsaustausch findet nicht statt, die sechs Protagonisten des Romans treten abwechselnd an die Rampe und tragen auf artifizielle Weise vor, der Einsatz jeweils in einem recht hohen Ton, entgegen der Unterweisung auf dem Einbanddeckel ganz und gar kein pure stream-of-consciousness style, nicht auszudenken, wenn unsere unbeaufsichtigten Bewußtseinsverläufe sich wohl bemessen in derart bedeutenden Bahnen bewegten. Im letzten Kapitel spricht dann nur noch Bernard, sein bisher gelebtes Leben und das der anderen spiegelt sich in seinen Wahrnehmungen und Erwägungen, diese nun in der Tat übergehend auch in ungeordnetere Bewußseinsbahnen.

The sun had not yet risen. The sea was indistinguishlable from the sky. The sun rose higher. Blue waves, green waves swept a quick fan over the beach. The sun rose. Light almost pierced the thin swift waves as they raced fan-shaped over the beach. The sun, risen, no longer couches on a green mattress darting a fitful glance through watery jewels, bared its face and looked straight over the waves. The sun had risen to its full hight. The waves broke and spread their waters swiftly over the shore. The sun no longer stood in the middle of the sky. The waves beneath were arow-struck with fiery feathered darts. The sun had now sunk lower in the sky. The waves no longer visited the farther pools. The sun was sinking. The waves, as they neared the shore, were robbed of light. Now the sun had sunk. Sky and sea were indistinguishlable.

Zwei Erzählstränge, wie gesagt, eins zu zehn das Umfangsverhältnis, welches ist der Hauptstrang? Natürlich der lange, wo es um die Menschen geht, wird man rufen, aber das muß nicht so sein. Philip Hoare hat unlängst ein Buch vorgelegt, in dem die Wale, Pottwale vor allem, im Vordergrund schwimmen, während die Menschen im Hintergrund stehen, wenn auch voller Mordlust. Wenn man die Waves öfters liest, kann man sie ruhig auch einmal von der Seite der Sonne und den Wellen her lesen, immerhin sind die für den Titel verantwortlich. Die Menschenstimmen sind dann kaum noch zu hören über den leise brechenden Wellen, the concussions of the waves breaking with muffled thuds, like logs falling, on the shore. Nur wir überhaupt hören den Stimmen zu, weil wir Menschen sind, niemand sonst, und auch wir hören die Stimmen der Menschen, als seien es Meereswellen, denen zuzuhören niemand je müde wird, weiter ihr Wellen. Time is issued in long white ribbons. Time seems endless, ambition vain. The waves broke on the shore.

Keine Kommentare: