Dienstag, 22. Dezember 2009

Die nächste Stadt

Kafka lebensnah

Der alte Mann pflegte zu sagen: Die Tage sind erstaunlich kurz. Denke ich nur an den morgigen, so drängt er sich mit derart zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, zur Arbeitsstelle in die nächste Stadt zu fahren, ohne zu fürchten, daß - von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit eines gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Tages für eine solche Fahrt bei weitem nicht hinreicht.

Montag, 21. Dezember 2009

Weisheiten

Je ne lirai plus les sages

Als Liebe zur Weisheit ist die Philosophie passé, lehrt Niklas Luhmann. Hinter jeder Weisheit stehe eine schlichte Beobachtung der ersten Stufe, die Beobachtung eines Objektes. Alle Objekte sind aber schon tausendfach beobachtet worden, in unserer Welt multipler Perspektiven zählen allein Beobachtungen der zweiten Stufe, Beobachtungen von Beobachtungen. Die Weisheiten müssen sich gegenseitig stoßen und rammen. Schaut man in eine der Fernsehserien, in denen einer weiser Mann mit weisem Haar Weisheiten sekretiert, die sich nach der Art von Fettflecken ausbreiten, wird einem elend wie sonst kaum. Man wünscht sich nichts anderes, als daß die Putzkolonne, die einst Joseph Beuys’ unweisen Fettfleck entfernt hat, noch aktiv wäre. Einer Weisheit ist nur noch zu ertragen in einer Umgebung, wo man sicher sein kann, an der nächsten Ecke auf ihr Gegenteil zu stoßen, das nicht ihr genaues Gegenteil sein darf, denn sonst würden die Weisheiten einander einfach verschlucken.

Gómez Dávila hat Scholien zu einem und damit in Beobachtung eines impliziten Text verfaßt, der implizite Text ist der Mainstreamtext von der Würde und dem Stolz des sich emanzipierenden Menschen, und bei jeder Scholie kann mit Genuß und Freude der Abprallwinkel berechnet werden, oft liegt er allerdings nahe den hundertundachtzig Grad. Bei Cioran fehlt der implizite Text, er ist zerschossen und vernichtet, wir befinden uns im Chaos eines Teilchenzoos der Weisheiten und Antiweisheiten, ihrer gegenseitigen Beobachtung und Vernichtung, und nur für Augenblicke kehrt Ruhe ein: Nur das dauert, was in der Einsamkeit konzipiert wurde, im Angesicht Gottes, ob man glaubt oder nicht.

Zwei Frauen sind auffällig in Ciorans Werk, Teresa von Avila und Emily Brontё: Alles was von ihr kommt, hat die Gabe, mich zu erschüttern. Haworth ist mein Wallfahrtsort. Teresa von Avila geht ohne weiteres durch, ohne daß man sich in Einzelheiten vertiefen müßte, aber Emily Brontё? In der Jugend hat man wohl selbst das Buch von den Sturmhöhen gelesen und sich begeistert, es dann aber doch, ohne die frühe und unzuverlässige Lesung noch einmal zu überprüfen, als eher nicht ganz für voll zu nehmen in die Ablage verfügt. Cioran, Zeit seines Lebens und bis in das hohe Alter um größere Nähe zum Tod als zum Leben bemüht, war offenbar fasziniert vom Bild der drei Schwestern, von denen jede einige wenige Bücher verfaßt hat, um dann, noch keine dreißig oder kaum vierzig Jahre alt, zu verschwinden. Stimmen aus dem impliziten Text Dávilas, dem explizit unser Gegenwart bestimmenden also, versuchen Anne in den Vordergrund zu rücken, da sie sich in besonderem Maße um die Frauenemanzipation verdient gemacht habe, sodann Charlotte, die in Jane Eyre die Maxime von der sexuellen Gleichberechtigung vertreten habe, vor den beiden vernünftigen Schwestern besonders geliebt worden ist aber immer Emily mit ihrem wüsten, unweisen und keiner guten Absicht verpflichteten Buch.

Ohne Emily als ihre brennende Mitte wäre Cioran, neben Iwan Karamazow und Stawrogin eine typische, dem Roman allerdings ins Reale entsprungene Gestalt Dostojewskis – er selbst hat auf seine Nähe zum russischen Byronismus hingewiesen - auf das Dreigespann der Schwestern wohl nicht aufmerksam geworden. Man muß nicht allzu sehr abstrahieren, um ein Beschreibungsniveau zu erreichen, das Emily Brontёs Roman und Ciorans Aphorismenwelt gleichermaßen gerecht wird.

Die jeweilige soziale und politische Wirklichkeit ist weitestgehend beiseitegeschoben, um einen freien Blick auf die vermuteten Eigentlichkeiten der menschlichen Existenz zu gewinnen. Der Haß kann Gemeinschaft stiften und sie nicht schlechter zusammenhalten als die Liebe. Die Menschen sitzen hinter Mauern verriegelt und gewähren nur höchst ungern Zutritt. Nicht geboren werden ist unbestreitbar die beste Lage, leider steht sie niemandem zu Gebote. Die intrauterine Existenz läßt sich womöglich etwas gnädiger beurteilen, niemand aber sollte die Langlebigkeit eines Totgeborenen übertreffen. Aber auch diese Vorgabe läßt sich im Roman nicht in Reinheit einlösen, die zugestandene Frist würde weder dem Autor zur Niederschrift noch den fiktiven Gestalten zur angemessenen Entfaltung hinreichen, es kann also nur um Annäherung an den Idealwert gehen. Die Unannehmlichkeit, geboren zu sein, wird gemildert durch dem frühen Tod. Die Figuren des Romans erreichen kaum die Dreißig und wenn sie sie überschreiten, so nur, weil sie gegerbt sind vom Racheverlangen und vom Bösen. Die Frauen haben den Vorteil, noch als junge Mädchen gleich bei der Geburt ihres ersten Kindes sterben zu dürfen, ein Vorteil, den sie in unseren Tagen weitgehend eingebüßt haben, würde der Philosoph ergänzen. Seine Vision von der Zukunft ist so genau, daß er Kinder, falls er sie denn hätte, sogleich erwürgen würde. Und im Zentrum dieser unguten Welt ein glühender, gleißender Kern, Gott bei Cioran und die Liebe bei Emily Brontё, bei dem man annehmen muß, daß das Böse sich darin eingenistet hat, le mauvais démiurge, le mauvais amour.

Niemand kann sich uneingeschränkt in dieser Welt aufhalten. Der Roman ist aus der uns vertrauten, von der Hauhälterin Nelly Dean verkörperten Normalperspektive geschildert. Am Ende des Buches treten Catherine die Jüngere und Hareton aus der Hölle hervor wie einst Adam und Ewa aus dem Paradies, und selbst Heathcliff scheint auf eine seltsame Art irre geworden am Bösen. Ciorans Bücher haben keine der Norm verpflichtete Rahmenhandlung, die Aphorismen sind mit sich allein. Immer wieder aber werden sie durchleuchtet von der Freude, so viele Herbste mag ich das Schauspiel dieser Blätter beobachtet haben, dennoch empfinde ich jedesmal wieder eine Überraschung, in welcher das „Erschauern“ weitaus den stärksten Anteil hätte, bräche nicht im letzten Augenblick ein Jubel aus, dessen Ursprung ich nicht zu enträtseln vermag. Besucher Ciorans waren verwundert und erleichtert, wie wenig seine Umgangsformen mit denen Heathcliffs gemein hatten. Wir haben Photos, auf denen er lauthals und offenbar völlig undiabolisch lacht. Sein Grabmal ist, wenn nicht christlich so doch bürgerlich und traut, er ruht auch nicht allein.

Mittwoch, 18. November 2009

Befreiungstheologie

M. legte im Rahmen der Synode eine zwar nicht überbordende aber doch für alle Teilnehmenden ohne weiteres ersichtliche Promiskuität an den Tag, es schien sich um einen Teil ihres theologischen Verständnisses zu handeln, Befreiungstheologie eben. Daß ich nicht interessiert war, nahm sie mir in keiner Weise übel. Es könne mich nicht überzeugen, so führte ich aus, daß die Kirche sich einzumischen habe, gemeint war natürlich das Feld der Politik, solange von Politikern und Vertretern aus Wirtschaft und Finanzwelt keine Statements zu Christologie und Pastoraltheologie erwartet würden. Alles eine Frage des Stolzes. Wer sich einzumischen habe und wer nicht, zeige lediglich, wie die Macht- und Bedeutungsverhältnisse inzwischen liegen, wer wem nachstiefeln muß, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden in der Öffentlichkeit. Zu einer angemessenen Vertiefung dieser Fragen kam es aber nicht, da M. immer wieder von diesem und von jener Synodalen im Vorbeigehen angesprochen und abgelenkt wurde in dieser Sitzungspause. Vielleicht ist Promiskuität auf Synoden der gebotene wenn nicht einzige Weg zu ungestörten Zweiergesprächen über Fragen der theologischen Theorie und pastoralen Praxis.

Mittwoch, 4. November 2009

Daneben

Ich wende mich ab, ich verlasse die Gehsteige der Welt ....

Luhmanns berühmter Satz, wonach wir alles, was wir über die Welt wissen, aus den Medien wissen, erklärt noch nicht, was wir erfahren und auf welche Weise und was mit uns dabei geschieht. Da alles, so kann man annehmen, in keinem Fall wenig ist, mag die immer wieder genannte übermäßige Informationsflut in den Sinn kommen, ein Reichtum, dem wir nicht gewachsen sind, scheint es. Aber so viel wir in der Tat an einem Medientag hören und sehen müssen in den Zeitungen und aus den Rundfunkanstalten, es scheint am Abend nur wenig, fast nichts gewesen zu sein, alles auf der gleichen Ebene, auf einem Gebiet, kaum größer als ein Fußballfeld, und zumal die Gegensätze – Steuern rauf oder Steuern runter, rein nach Afghanistan oder raus aus Afghanistan, dafür oder dagegen – von einer Art, bei der die Einheit der Differenz immer in ermüdender Reich- und Sichtweite bleibt. Und all das wird vorangetrieben von einer großen, in der Sprachform der Gutrede gestalteten Welle der Selbstaffirmation, in der Kritik in der dominierenden flachen Bedeutung des Begriffes nur mittreibt. Autoren wie Luhmann werden zu Rettern, die uns herausholen aus dem ungemütlichen Treiben. Ab und zu aber reicht auch das nicht und es wird nach der noch stärkeren Medizin verlangt von Leuten wie Gómez Dávila oder Emil Cioran, die ganz und gar daneben stehen.

Beläßt man es in diesem Zusammenhang bei den beiden, so ist unmittelbar wohltuend, daß sie auf den ersten Blick, bis auf den Umstand, daneben zu stehen, wenig miteinander gemein haben, wir können daher hoffen, es gibt unendliche Möglichkeiten, daneben zu stehen. Dávila, ferventer Christ und Katholik von einer Ungerührtheit, die auch den Papst das Fürchten lehren kann, Cioran, Sohn des Metropoliten von Hermannstadt, fast immer auf nicht ganz übersichtlichen Feldzügen gegen die Religionen und bevorzugt das Christentum. Angriffe werden gegen das Alte Testament gefahren: L’injonction criminelle de la Genèse: Croissez et multipliez – n’a pu sortir de la bouche du dieu bon. Soyez rares, aurait-il plutôt suggéré, s’il avait eu voix au chapitre. Jamais non plus il n’a pu ajouter les paroles funestes : Et remplissez la terre. On devrait, toute affaire cessante, les effacer pour laver la Bible de la honte de les avoir recuellies. Nicht weniger heftig fährt er gegen das Neue Testament : L’incarnation est la flatterie la plus dangereuse dont nous avons été l’objet. Elle nous aura dispensé un statut démesuré hors de proportion avec ce que nous sommes. En haussant l’anecdote humaine à la dignité de drame cosmique, le christianisme nous a trompé sur notre insignifiance. - Nicht der verbreitetste Vorwurf gegen das Dreigespann der Christengötter, der eher darauf zielt, daß der gute Initialeinfall des Paradieses schon bald drangegeben wurde, aber eine Vorwurfshaltung, die durchaus auch ihre Jünger hat, der in diesen Tagen versotrbene Claude Lévi-Strauss, um nur einen zu nennen, hätte wohl unterschrieben. Und noch der kleine vergiftete Leckerbissen für alle Christen, die Bach lieben: Wenn es einen gibt, der Bach alles verdankt, dann ist es Gott. Hätte Blumenberg das als sogenanntes Abstract seiner Matthäuspassion akzeptieren können ? - Wenn Cioran allerdings festhält: C’est parce qu’il ne peut plus détester les autres religions, c’est parce qu’il les comprend, que le christianisme est fini: la vitalité dont procède l’intolérance lui fait de plus en plus défaut. Or, l’intolérance était sa raison d’être. Pour son malheur, il a cessé d’être monstrueux – mag er den alten Boden beschreiben, den Dávila mit gutem Grund nicht verlassen will, auch wenn er ihn natürlich ganz anders beschreibt.

Updike hat Cioran einen frustrierten Mönch genannt, ohne sich allerdings im Romanwerk unmißverständlich als Kenner des Mönchischen auszuweisen. Cioran selbst bezeichnet sich als Mönch ohne Gottes-Hypothesen und ohne den Hochmut dessen, der einsam dem Laster frönt. Der Mönch ist also unbestritten, das Epitheton aber vielleicht nicht besonders treffend, eher der vergessene, der verlassene Mönch, der Mönch daneben. Der Mönch hat seinen Platz nicht verlassen, aber Gott und die Welt haben sich weggedreht. Aus dem guten Gott ist der mauvais démiurge geworden, les horreurs dont l’univers regorge font partie intégrante de la substance, sans elles il cesserait physiquement d’exister.

The turn of the screw zum Nihilismus, aber im letzten Augenblick stockt die Drehung: Comment concevoir qu’une prière soit autre chose qu’un monologue, qu’une extase ait une valeur au-delà d’elle-même, que notre salut ou notre perte importe à un dieu ? Et cependant c’est ce qu’il faudrait pouvoir admettre, ne fut-ce qu’une seconde par jour. In diesem schmalen Raum vor der Vollendung der Drehung verbringt Cioran sein Leben, rasend, und nicht immer ist klar, in welche Richtung er dreht. Nous sommes tous au fond d’un enfer dont chaque instant est un miracle. Der Mönch ist kein Menschenfreund, eher ein unangenehmer Zeitgenosse: Quand je passe des jours et des jours au milieu des textes où il n’est question de sérénité, de contemplation, l’envie me prend de sortir dans la rue et de casser la gueule au premier passant. Und von der Zeitgenossenschaft hat er auch eine eigene Meinung: Qu’est-ce qu’un contemporain? Quelqu’un qu’on aimerait tuer, sans trop savoir comment.

Ciorans Gedanken sind von der Art, wie sie die Werke der Dichter tragen, ausgesprochen aber die Textur der Dichtung verletzten würden. Genau an dieser Stelle, knapp unter der Oberfläche der Dichtung, übernimmt Cioran die Angelegenheit zur weiteren philosophischen Bearbeitung, wen kann es dann wundern, wenn Paul Celan den Précis de décomposition als Lehre vom Zerfall ins Deutsche übertragen hat. Sebalds Werk etwa ist, wenn man so will, voller verdeckter Cioranismen, mit Beckett, jeder auf seiner Seite, hat Cioran sich unmittelbar verstanden, in Valéry hat er einen illegitimen Grenzgänger zwischen Dichtung und Philosophie gesehen.

Dávilas Scholien werfen ungerührt Steine in den Weg, Tausende, oft hat man nichts als einen Schmerz im Fuß, nicht weniger oft aber blitzt es auf im Kopf, Cioran schüttelt jeden Kragen, dessen er habhaft werden kann, und anschließend findet der Geschüttelte die alte Blickrichtung nicht wieder.

Seine ersten sechs Bücher hat Cioran in rumänischer Sprache verfaßt: Pe culmine disperarii. De ce nu putem ramine inchisi noi insine? De ce umblam ... Jede Menge für die Tastatur schwer aufzufindender diakritischer Zeichen müßten ergänzt werden, romanisch, alles scheint zum Greifen nah, und verschwindet doch im Nebel, wenn man diese Sprache nicht ausdrücklich erlernt hat. Weit und breit sehe ich nichts als lauter von Idealen durchdrungenes Vieh, das sich zusammenrottet, um seine Ideale herauszublöken. Auf der Suche nach einem wahrhaft Einsamen schreite ich die Jahrhunderte ab - und finde nur den Teufel, kann nur auf ihn eifersüchtig sein. Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Medien, die Erfahrung des Nichts aber ist unsere eigene.


Montag, 5. Oktober 2009

Philosophieren


Die junge, in New York ansässige Philosophin, bisheriger Vorzugsbereich Philosophie der Architektur in der Nelson Goodman-Nachfolge – als ehemalige königliche Stipendiatin verfügt sie im königlichen Eislaufpalast zu Madrid über ein uneingeschränktes philosophisches Rederecht – hatte sich für einen Besuch angemeldet zu einer Zeit, als ich mich gerade ganz und gar in die Schriften Emil Ciorans versenkt hatte. Goodman und Cioran, da konnte ich beim besten Willen und bei aller Anstrengung einen Berührungspunkt nicht feststellen, aber es war mir gelungen, in der Fachwelt jemanden aufzutreiben, dem es, wie er angab, ein Leichtes war, hier die Einheit der Differenz mit feinem Strich nachzuzeichnen. Zu diesem nicht ganz geringfügigen Ereignis waren kurzerhand auch die Eltern der jungen Philosophin eingeflogen, eine große Freude und keineswegs eingetrübt dadurch, daß die Handwerker entgegen ihrer Zusage nicht fertig geworden waren und das Haus nach wie vor besetzt hielten. In einem großzügigen Landschaftspark vertrieben wir uns paarweise oder in kleinen Gruppen - weitere hatten sich hinzugesellt – mit gefällig leichtem Philosophieren, jeder ein Platon, jede ein Aristoteles oder einer der anderen, wie Raffael Santi sie uns im Bild überliefert hat, anmutig die Zeit wie schon letztes Jahr in Marienbad. Ich kann mich nicht entsinnen, den Vortrag dann noch gehört zu haben, die Brücke von Goodman zu Cioran ist nach wie vor ein unbekanntes Gelände.




Bridge over Troubled Water

Sonntag, 4. Oktober 2009

Herta M.

Von den deutschsprachigen Autoren haben einen Nobelpreis erhalten: Mommsen, Eucken, Heyse, Hauptmann, Spitteler, Thomas Mann, Hesse, Nelly Sachs, Böll, Canetti, Grass, Elfriede Jelinek und jetzt Herta Müller. Nicht bekommen haben ihn: Kafka, Musil, Robert Walser, Celan, Brecht, Benn, Bernhard, Sebald. Wirft man alle heraus aus der ersten Liste bis auf Thomas Mann, ohne den es nun einmal nicht geht, und fügt die von der zweiten Liste ein, stehen wir deutlich besser da vor den Augen der Welt. Vielleicht dürfen auch Hauptmann und Canetti bleiben, das muß man sich genau überlegen. Daß Böll immer so ein guter Mensch war, darf uns nicht beeindrucken. Aber eine Frau muß her. Über eine Virginia Woolf, die den Preis naturgemäß auch nicht erhalten hat, verfügen wir nicht, die Jelinek kann ihn auf keinen Fall behalten, über Nelly Sachs ist hier wenig zu sagen, wie ist es also mit Herta Müller? Da sie den Preis gerade erst bekommen hat, würde ihr die Rückgabe ohnedies besonders schwer fallen.
BlocksatzDie Erinnerung an Aufenthalte in den realsozialistischen Ländern, in Ceausescus Rumänien ist eingelagert in das Bild betonierter Flächen, durch die die Vegetation bricht, Ruderalflächen, Ödland. Die Stauden, die Halme verkrüppelt und verdreckt, dann wieder von hartnäckiger, schmerzhafter Schönheit. Wo Schutt liegt, wo alles rostet, zerbricht und zerfällt, blüht die Clematis am schönsten. Hebt man den Blick, Wohnkäfige am Horizont für die Massenmenschhaltung und dahinter irrwitzige Paläste und die stillen Straßen der Macht, wo der Wind, wenn er anstößt Angst hat. Es ist, als würde Herta Müllers Prosa dieses Erinnerungsbild unmittelbar aufnehmen. Sie erzählt von Betonplattenschicksalen, zubetonierten Menschen und durch die aufgebrochenen Sätze dringen unaufhaltsam die Metaphern vor, verkrüppelt und eingestaubt, dann wieder von schmerzhafter Schönheit.

Im Bukarester Hotel stand ein Fernsehapparat, am Abend zwei Stunden Sendezeit, leerer als das Nichts, nur ein Hauptdarsteller, der Mann mit der Stirnlocke, der Mann mit den silbernen Gehirnzellen, der geliebteste Sohn des Volkes, eine Hauptdarstellerin nur, die geliebte Frau des geliebtesten Volkssohns, des Mannes mit der Stirnlocke. Aus der Auslage des Buchladens schauetn nur zwei Autoren, der Mann mit der Stirnlocke, der Mann mit den silbernen Gehirnzellen, der geliebteste Sohn des Volkes für die Sozialkunde und den Rest der Kulturdisziplinen, seine geliebte Frau für die Chemie und sonstigen Naturwissenschaften. Die Stirnlocke glänzt. Sie sieht jeden Tag ins Land. Der Bilderrahmen des Diktators ist jeden Tag in der Zeitung so groß wie der halbe Tisch. Unter der Stirnlocke ist das Gesicht wie beide Hände, wenn Adina sie auf den Handrücken nebeneinander legt, geradeaus ins Leere sieht und den eigenen Atem wieder verschluckt. Die Angler fischen ertrunkenes Gras aus dem Fluß, zerfressene Socken und verquollene Unterhosen. Und einmal am Tag, wenn die Ruten krumm und die Schnüre von Grund besoffen sind, einen schmierigen Fisch. Es könnte eine tote Katze sein.

Den Preis, so wie er ist, darf Herta M. in jedem Fall behalten, daran ist nicht zu rütteln, und vielleicht darf sie sogar daran denken zurückzukehren zu denen auf der anderen Seite, die den Preis nicht erhalten haben - zu Kafka, Musil, Robert Walser, Celan, Brecht, Benn, Bernhard, Sebald, Virginia Woolf - und die, wer weiß, schon darauf warten, sie als die ihre zu begrüßen.

Samstag, 3. Oktober 2009

Ein Sterben

nox est perpetua una dormienda

Das Leiden der Tiere sei der größte Skandal der Religionen, schreibt Leszek Kolakowski, ihr Tod ein kaum geringerer, muß man hinzufügen, wenn man sie, die Tiere, denn von den Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tode ausschließt, um Himmel und Hölle nicht auch mit ihnen noch zusätzlich zu der maßlosen Menschenzahl zu belasten. Da lag er nun auf dem Metalltisch. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert, von Krämpfen angetrieben, hechelnd, so als wolle er, auf der rechten Seite liegend, dem Tod doch noch enteilen, das linke Hinterbeinchen aber lag nach oben angezogen still die ganze Zeit. Die massive Überdosis eines Schlafmittels hatte zu einer augenblicklichen Befriedung geführt und wenig später nur, übergangslos und nicht erkennbar, in den Zustand, in dem man in einem wahrhaft gewaltigen und fassungslosen Frieden ruht.


Siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre sind es her, daß wir sie - denn es handelte sich um ein weibliches Tier, das ursprünglich auf den Namen Rieke ebenso willkürlich und selbstbestimmt hörte und nicht hörte wie später auf den Rufnamen Dackel (wie bei Orlando ließ sich das kulturelle Geschlecht nicht fixieren) – daß wir sie also das erste Mal gesehen hatten in einem größeren Rudel unterschiedlicher Hunde, edle Tiere, Rasseexemplare, ein Bernhardiner, ein Schäferhund, wenn ich es richtig erinnere, andere noch und ergänzend ein Wesen, bei dem es sich offenbar um eine riesenhafte zottige Kellerassel handelte, Rieke eben, eine Pudel-Dackel-Mixtur, wie später in den offiziellen tierärztlichen Annalen und auch auf dem Totenschein festgehalten wurde. Selbst war sie offenbar von ihrer extrem niedrigen, mißgeburthaften Bauweise nicht auf das geringste beeindruckt oder gedämpft worden und forderte von unten herauf nachdrücklich ihre Rechte ein, ohne den gegenläufigen Begriff der Pflicht auch nur ansatzweise begreifen zu wollen. Wenig später war sie dann für lange Jahre unser Familienmitglied geworden.

Sie war uns, wir waren ihr so nah und doch so fern in der anderen Welt. Vieles unterschied sie von anderen Hunden. Anders als Bauschan war sie an der Jagd kaum interessiert, umso weniger an dem zivilisierten Jagdsurrogat nach geworfenen Holzscheiten. Auf der Höhe noch jugendhafter Kraft mochte sie dem Werfer zu Gefallen ein niedriges Grundinteresse vortäuschen, im reifen Alter rief bereits das bei den Artgenossen beobachtete eitle Treiben ihr deutliches Mißfallen hervor. Dabei war sie des wilden Rennens durchaus fähig bis vielleicht in das vorletzte Jahr ihres Lebens und oblag ihm gern mit vom Fahrtwind rückwärts getriebenen Bart und ungezügelt fliegenden Ohren. Die Verantwortung für den Zusammenhalt von Wandergruppen übernahm sie ungefragt und stante pede, nicht nur für den Familienverband, sondern auch für größere Trupps von fünfzig Mann und mehr, ihr überwiegend völlig unbekannt, unter ständigem Galopp von der Tête zur Nachhut und zurück bei trauriger Nichtbeachtung des aufopfernden Tuns durch die Mehrzahl der Marschierenden, und wenn sich die Marschkolonne dann gar entgegen allem wölfischen Verhalten aufteilte in mehrere Untergruppierungen, wollte es ihr schier Leib und Verstand zerreißen. Wanderungen als solche sind ihr immer nur sinnvoll erschienen wegen der zwischenzeitlichen Nahrungsaufnahme und bald schon hatte sie alle nur denkbaren und irgend in Betracht kommenden Picknickplätze des Eifel- und Ahrgebirges in ihrem winzigen Schädel kartographiert, um sie mit herausfordernd auf uns gerichteten Blick zu verbellen.

Nach der Kilometerzahl haben die kurzen Beinchen sie sicher mehrfach um den Erdball getragen, und nach der Zahl der absolvierten Schrittchen fragt man sich besser erst gar nicht. Anweisungen schon immer wenig zugänglich, war ihr eine einsetzende oder vorgetäuschte Altersdemenz willkommener Anlaß für eine genüßliche Übertretung aller bis dahin geltenden Tabus, nicht selten auch zum eigenen Schaden, denn, zusätzlich begünstigt durch Taub- und Blindheit, kam sie vermehrt abhanden, so daß schließlich zu ihrer nicht geringen Verstörung auf das sinnreiche Instrument einer retroflexen Leine zurückgegriffen werden mußte. Die Küche, für lange Jahre das Tabu schlechthin, wurde schließlich zum bevorzugten Aufenthaltsraum.

Da lag er nun, der Dackel, auf dem tierärztlichen Metalltisch, genauso, wie er oft schlafend auf dem Teppich gelegen hatte. Fünf, schon fast sechs Stunden hatten die kleinen Beine gerudert und würden sich nun nie wieder mehr bewegen, die enorme Kilometerlebensleistung nicht mehr steigern. Das kleine, eifrige, widerborstige Leben war ausgelebt. Der Leichnam würde in den Kühlraum wandern und später entsorgt werden. Was für eine Zeit noch bleibt, ist die Erinnerung in den Köpfen einiger Menschen, über die caninen Kumpanen weiß man in dieser Hinsicht wenig. Nicht das geringste Indiz, wohin man auch schaut, bei uns Menschen würde es anders sein mit dem Sterben und dem Tod. Kein Wunder, wenn die Frommen und nicht weniger die Anbeter von Demokratie und Menschenrechten sich die Tiere gern vom Leib halten, wollte man sie einbeschließen in das traute Verhältnis von Mensch und Gott oder in den autistischen Kreis der menschlichen Selbstvergötterung, müßten die Karten völlig neu gemischt werden, und wer will sich schon stören lassen bei den gewohnten Spielen.

Sonntag, 2. August 2009

Im Turm der Dichter

Blocksatza hundred floors above me
in the tower of song


Bevorzugt am Beispiel und Sündenbock Martin Walser hat sich Reich-Ranicki gern immer wieder den Spaß erlaubt, das eine Werk in den Himmel zu preisen, um das nächste zu verdammen, und so fort, so als hätten die Dichter kein Dasein zwischen ihren Werken und würden jedesmal vom Straßenpflaster und der Grasnarbe aus wieder ganz neu beginnen ohne die geringste Prognose für den Ausgang. Tatsächlich aber wohnen sie auf einer bestimmten Ebene im Turm der Dichter, Franz Kafka hätte nie eine Zeile auf der Wohnebene von Franz Werfel schreiben können und in umgekehrter Richtung naturgemäß noch viel weniger der Franz Werfel, dessen Roman Verdi nicht mehr gelesen zu haben, vielleicht nicht der größte Verlust war, den der zu diesem Zeitpunkt nurmehr fünfundvierzig Kilo wiegende Kafka verschmerzen mußte. Das besagt natürlich nicht, die Produktion der Dichter würde keinen Schwankungen unterliegen.

Nehmen wir Virginia Woolf mit Wohnung ganz oben im Turm. Viele werden in The Voyage Out und Night and Day Vorübungen sehen, in Orlando einen Sonderfall. Die Behandlung der Zeit, ihre Wandlungen und Verheerungen, ist eines der auffälligsten Merkmale ihrer Prosa, the years changed things, destroyed things, all passes, all changes, she thought. Man mag zu der Einschätzung gelangen, daß diejenigen Werke die allergelungensten sind, in denen sie die Zeit bündelt und einsperrt in einen einzigen Tag, bei weit geöffneten Fenstern, durch die der Wind der Vergangenheit und der Hauch der Zukunft eindringen, daß also Mrs Dalloway, To the Lighthouse und Between the Acts vielleicht noch eine kleine Stufe höher zu stellen sind als Jacob’s Room, The Waves und The Years und selbstredend als Flush. In Between the Acts ist der Wurf vielleicht nicht ganz so groß, Mrs Dalloway ein reines Wunderwerk und To the Lighthouse mit dem einen Tag, der zehn Jahren später sich wiederholt und seinen Abschluß findet, ein Lichthaus von schlichtweg blendender Schönheit. Man schließt die Augen und weiß schon gar nicht mehr, liest man ein Buch oder hört man Kammermusik, vielleicht von Schostakowitsch - she lay there listening, she was happy, completely, time had ceased.

Die Dichter ganz oben im Turm dienen als Meßlatte für andere, meistens nicht zu deren Segen. Thomas Bernhard hat sich bekanntlich an einer Wiener Virginia Woolf namens Jeannie vergangen und auch sonst wüßte man im ganzen deutschsprachigen Raum keine zu nennen, die ohne Schaden an Leib und Leben auf diesen Stuhl gesetzt werden könnte. In Italien stößt man auf Natalia Ginzburg, eine andere und ausdrückliche Meisterin des Lessico famigliare – die Lexika der Levi (Lessico famigliare), der Ramsay/Stephen (To the Lighthouse), der Manzoni (La famiglia Manzoni), der Pargiter (The Years) - und auch das Stockwerk im Turm der Dichter dürfte in Ruf- und Klopfnähe liegen. Aber je höher im Turm, desto größer die Eigenart, die vergleichbare Höhe verbietet den die eine der anderen nachordnenden Vergleich, die italienische Virginia Woolf, die englische Vorläuferin der Natalia Ginzburg.

Südamerika benennt Clarice Lispector als die brasilianische Virginia Woolf, dann aber auch, wohl mit Hinblick auf die Kurzgeschichten, als brasilianische Katherine Mansfield, von der Hemingway wiederum meinte, ihre Geschichten würden, wenn man das klare Quellwasser der Erzählungen Tschechows gewohnt sei, schmecken wie Limonade. Und wiederum Virginia Woolf, als habe sie Tschechow eingeladen in ihre Romanwelt, um ihn zu befragen: When, she wanted to ask him, when will this new world come? When shall we be free? When shall we live adventourosly, wholly, not like criples in a cave? Anscheinend muß man sich den Turm der Dichter nicht als einen übersichtlichen Neubau vorstellen mit klarer Unterteilung der Stockwerke und Wohnbezirke, sondern eher wie in niederländischen Darstellungen den zerklüfteten Turm zu Babel, bei dem es letztenendes, sei es nun Zufall oder nicht, auch um die Sprache ging.

Clarice Lispector hatte 1944 im Alter von neunzehn Jahren mit ihren Erstlingsroman Nahe dem wilden Herzen einen Eintritt in die Literatur, der in der üblichen Kritikersprache und in diesem Fall völlig zu Recht als fulminant zu bezeichnen ist, schon arg fulminant, mag der eine oder andere denken, ein ganz erstaunliches Buch in jedem Fall, selbst kennt man Neunzehnjährige dieser Art nicht.

Die Brüste der Tante waren tief, man konnte die Hand hineinstecken wie in einen Sack und eine Überraschung herausholen, ein Tier, eine Schachtel, wer weiß was sonst noch. - Virginia Woolf? Eher schon als sei Clarice Lispector in der Ukraine, aus der sie bereits im Alter von zwei Monaten ausgewandert war, doch noch infiziert worden von Bruno Schulz. Bruno Schulz, der ganz oben ein kleines nur schwer auffindbares Zimmer bewohnt im Dichterturm, der einlädt zum ziellosen Herumschweifen mit seinen Korridoren und Treppen, die nirgendwo hinführen, mit den türlosen Räumen und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, mit Gängen, einmal links- und dann wieder rechts herum, und endlos geradeaus, unter vielen Türstöcken hindurch, über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigen und um einen Halbstock hinauf- oder herabführen in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt stehen, als habe jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen – Sackgasse und Stillstand, Anlaß, diese kleine Irrwegwanderung im Turm der Dichter für diese Mal abzubrechen.







Samstag, 1. August 2009

Jeśli Boga nie ma

He rose and stood in the bow of the boat, very straight and tall, for all the world, as if he were saying: There is no God.

No debemos concluir que todo es permetido, si Dios no existe, sino que nada importa. Los permisos resultan irisorios cuando los significados se anulan.


Falls es keinen Gott gibt, dieser Titel eines Buches des unlängst verstorbenen Leszek Kolakowski wird alle diejenigen neugierig machen, die befürchten, vermutlich ist es so, es gibt Gott nicht, daraufhin ihr metaphysisches Bedürfnis heimatlos sehen und in keiner Weise darauf vertrauen, der verabschiedete Gott habe der Menschheit mit Vernunft, Mündigkeit und ähnlichem zuguterletzt noch die passenden Werkzeuge hinterlassen, um ohne seine Hilfe zurechtzukommen.


Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Dostojewskis bekannter Satz, dem der Titel des Buches entliehen ist, zielt vor allem auf die moralischen Konsequenzen, Kolakowski beschäftigt sich stärker noch mit den erkenntnistheoretischen: Falls es keinen Gott gibt, gibt es keine Wahrheit, sondern nur noch Verfahren und Methoden zur Erzeugung von Wahrheitssurrogaten, insbesondere die der Wissenschaft. Sobald die Möglichkeit zugelassen ist, daß es einen Gott nicht gibt, werden Glauben und Skepsis zu ontologischen Optionen, die sich selbst nicht beweisen und die Gegenposition nicht wegbeweisen können. Das ist nicht neu, aber die souveräne gedankliche Sorgfalt in der Demonstration Kolakowskis ist wohltuend.

Wenn also dergestalt ein intellektuelles Unentschieden zwischen der Skepsis und dem Glauben, der Vernunft der Aufklärung und den religiösen Gewißheiten oder, noch einmal anders, zwischen dem Profanen und dem Heiligen besteht, so ohne die notwendige Folge einer friedlichen und irgendwie gleichberechtigten Koexistenz. Nach langen Jahrhunderte einer Dominanz der Gottesleute und des Heiligen triumphiert jetzt im nur noch zaghaft christlich genannten Europa die andere Seite. Die Aufklärung ist in ihren Methoden des Machterhalts inzwischen deutlich freundlicher als das Christentum zur Zeit der Inquisition, allerdings von einer besonderen Durchtriebenheit, wenn sie ihre gesamte Produktpalette - Demokratie, Menschenrechte, Emanzipation, EU, UNO, Schulpflicht, Ganztagskinderstätten – als neutral, gar nicht von ihr entwickelt, sondern, in einem seltsamen Crossing, gleichsam als gottgewollt darstellt, als gottgewolltes Endziel. Und tatsächlich ist die Aufklärung kaum vorstellbar ohne den Anschub des Christentums, derjenigen unter den Abrahamsreligionen mit der stärksten Tendenz zur Selbstsäkularisierung, vorgegeben in der Figur des menschgewordenen Gottessohns. Gleichzeitig werden die Bemühungen immer deutlicher und heftiger, dem Demokratieprinzip und den mit ihm verbundenen Werten, im Sinne ihrer gottlosen Autarkie, eine eigentümliche profane Sakralität zu verleihen.


Kolakowski versucht nicht, Proselyten von der einen auf die andere Seite abzuwerben, zu spüren ist aber eine gewisse Vorliebe für die Position der derzeit Schwächeren. Ähnliches mag Habermas durch den Sinn gegangen sein, als er vor einigen Jahren, überraschend und zum gelinden Entsetzen seiner Anhänger, die mit leichtem metaphysischen Gepäck, zu denen er sich selbst zählt, zu mehr Rücksicht auf die mit schwerer Last aufforderte. Fairneß mag der ihn leitende Begriff gewesen sein, schon als Kinder haben wir es mit den Indianern gehalten. Bei Kolakowski kommt hinzu, daß er die Stärken des Kommunismus lebensnah genossen hatte und die fundamentale Dichotomie zwischen dem prometheischen Atheismus und der Religion, als der Lehre vom immer scheiternden Menschen, sieht. Er scheitert mit oder ohne Gott, aber vielleicht nicht auf die gleiche Weise.

Todo es trivial si el universo no está comprometido en una aventura metafízica - Anders als Gómez Dávila, der hier aushelfen muß, geht Kolakowski auf die ästhetische Seite des Gottesverlustes nicht unmittelbar ein, streift sie aber, wenn er in den Mystikern die hellsten Sterne am geistigen Firmament der christlichen Kirche sieht. Dabei sieht er eine eigentümliche Konvergenz in der kognitiven Haltung des radikalen Mystikers und des radikalen Skeptikers, verkörpert in den Gestalten Wittgensteins und des Nikolaus Cusanus. Niklas Luhmann hat sich immer wieder gern mit dem Namensvetter aus Kues abgegeben: wenn Gott in der gleißenden Helle der mystischen Erkenntnis verschwindet, wird die unablässige Arbeit der Systeme sicht- und hörbar, und in den windstillen Nächten geht ein ständiges Huschen und Rascheln durch das ausgetrocknete Gehäuse der gottverlassenen Welt, und bisweilen erhebt sich auch ein aus Tausenden von winzigen Kehlen gepreßter pathetischer Gesang.

Falls es keinen Gott gibt – Kolakowski gibt keine Verhaltenslehren für den Katastrophenfall. Wenn man die Romantik als eine von metaphysischer Sehnsucht getragene Reaktion auf den sich abzeichnenden Gottesverlust versteht, sieht man sich berechtigt, auf Rüdiger Safranski und seine überraschende aber auch gewinnende Zweisphärentheorie überzuspringen: Das Romantische ist phantastisch, metaphysisch, versucherisch, überschwenglich, abgründig. Politik sollte sich auf das Prinzip der Verhinderung von Schmerzen, Leid und Grausamkeit gründen. Wir brauchen beides, die Abenteuer der Romantik und die Nüchternheit einer abgemagerten Politik. Wenn wir die Vernunft der Politik und die Leidenschaft der Romantik nicht als zwei Sphären begreifen und stattdessen die bruchlose Einheit wünschen, dann besteht die Gefahr, daß wir in der Politik ein Abenteuer suchen und der Kultur dieselbe soziale Nützlichkeit abfordern wie der Politik.

Eine verordnete Schizophrenie für die Individuen also, und wenn wir mit einfacher Zweiteilung davonkommen, können wir noch froh sein. Der Gottesglaube aber verliert gerade für den Skeptiker jeden Wert, wenn er sich einseitig und, wie Kolakowski schreibt, unterwürfig gegenüber den Forderungen der Moderne ganz auf die Seite der abgemagerten Politik schlägt. Menschgeworden hat der XRISTOS sich schon weit vorgewagt, mit einem bekannten Politiker, und sei es Obama, hat er in Grünewalds Erfassung zumindest keine Ähnlichkeit.


Samstag, 25. Juli 2009

Plaisir

Auch das Unglück der Heiligen ist ihr Geschlecht, ist die furchtbare Separation der Geschlechter


Gleichzeitig wollte ich überprüfen, warum mir dieser Autor oft gegen mein Empfinden war. Es ergab sich: es ist das Fornikatorische. Dies Fornikatorische, das als Ganzes, als existentieller Stoff medioker bleibt. Dieser Autor hat Sicherheit, Kontur und Überlegenheit, er wird mit seinem Thema fertig, er ist innerhalb der allgemeinen Romaninferiorität eine große Leuchte, er betreibt das Geschäft der Musen, aber dies Fornikatorische, das das ganze epische Oeuvre durchspinnt, vielmehr: trägt und bindet, entzieht ihm den Rang. Es tritt so sehr hervor in jeder seiner Äußerungen, daß es ganz offenbar für ihn das Mittel war, um zum Ausdruck zu gelangen,
das Mittel, mit dem er die Welt erfaßte. – So äußert sich Gottfried Benn über Fontane, nur daß in seinem Text anstelle von Fornikatorisch Pläsierlich erscheint. Der manipulierte Text zielt auf John Updike. Ruft man seine Erzählwelt auf im Kopf, so ist die erste Erinnerungsspur, daß jede und jeder mit dem Zutritt als Romanfigur auch gleich ein Freiticket über drei Ehescheidungen und beliebig viele Konkubinate erhält, all you can fuck. Der Autor leidet, könnte man meinen, unter Sexualzwang direkt am Schreibtisch, nicht umsonst war der Held seiner frühen Romanserie auf den Namen Rammler (Rabbit) getauft.

Wer in der Kunst vor allem ein Werkzeug der Befreiung und sonst wenig sieht und in der Sexualität der Freiheit schönstes Territorium, wird Updike zujubeln. Aber Befreiungsaktionen sind nur schön in der Morgenröte, vom triumphalen Gestus der
Lady Chatterley ist nichts zu spüren, und Updike versucht ihn auch auf keine Weise. Es geht hier nicht um Moral, die ist bei diesem Thema längst abgeschrieben, ästhetische Vorbehalte sind gleichwohl möglich: Es ist fraglich, ob Pornographie mit den Präzepten erzählerischer Prosa überhaupt vereinbar ist. Die künstlerische Verkürzung der imaginierten Realität, die jede Form von Prosa ins Werk zu setzen hat, nimmt im pornographischen Text, der, als die entsentimentalisierte Fiktion par excellence, nie geschwind genug zur Sache kommen kann, leicht Züge unfreiwilliger Komik an. Der hohe Grad der Explizität paßt einfach nicht zum Tempo und zu den offenkundigen Ellipsen in der beschriebenen Handlung. Nehmen wir einen anderen Roman, der gerade zur Hand ist, keinen geringen allerdings, Virginia Woolfs To the Lighthouse, nicht auszudenken, welche Verheerungen das Eindringen offener Fornikation in Wort und Bild in diesem lichtvollen Sprach- und Seelengewebe angerichtet hätte

In Updikes Band
The Maples fehlt überraschend die Fornikation vor dem Vorhang weitgehend, dahinter findet sie natürlich statt, aber das ist ein anderes Thema und in jedem Fall ästhetisch unbedenklich. The Maples ist eine Sammlung von Erzählungen das Ehepaar Mr. Richard & Mrs. Joan Maples betreffend, am Rande, nicht immer nur am Rande auch ihre Kinder. Es sind einzelne Episoden aus verschiedenen Ehe- und Nachehejahrzehnten, auch über lange Zeit hinweg niedergeschrieben vom Autor und gar nicht als ein Ganzes geplant. Kaum Fornikation und doch ein Updike ganz und gar, das zwingt, den Gedanken ein wenig tiefer zu legen. Offenbar ist es gar nicht so sehr die copulatio, die Updike umtreibt, sondern die copula, the couple, Couples heißt einer seiner bekanntesten Romanen. Updikes Romanwerk steht dieser Hinsicht in der Tradition der Ehe- und Ehebruchsromane des neunzehnten Jahrhundert, es wird unverdrossen geheiratet und deutlich vermehrt geschieden. Freilich singt Updike das alte Lied in neuem Ton als Spottlied. In einer der Maples-Erzählungen wird die Theorie entwickelt, jeder habe das Recht auf einen Ehepartner, einen Geliebten und auf einen Red Herring, jemanden, den die Leute für die Geliebte halten, der es aber nicht ist. Die drei Positionen werden ständig neu besetzt, aus sich heraus oder durch Neuzugänge von außen. Man weiß nicht recht, in welcher Tonart man das lesen soll. Commedia dell’Arte, Arlecchino & Colombina, monotoner Lebensvertreib oder Streiche der Spätgeborenen im Puritan Commonwealth - a musical illusion in which we all hear different things. *- Das Ganze also ein mitleidloses Spottlied, in brüderlicher Weise intoniert. Die kurze Erzählung Nakedness ist voller Echohall aus Kunst und Mythologie: Bosch, Masaccio, Adam & Ewa, Noah, Ham, Susanna, Rodin, Renoir, Molly Bloom, masters of shunga, Manet, Goya, Kate Chopin, wieder Rodin, Michelangelo, Munch und Ingres, ein Hall, der in seiner absurden Dichte keinerlei Entgrenzung bringt oder anstrebt, sondern wie Vogelspottruf durch das Geschehen gellt. Was wir bislang von den Maples erfahren hatten - nie überraschen wir sie beim Lesen eines Buches -, läßt bei dem Ehepaar ein Anspielungsreservoir dieser Art in keiner Weise erwarten, ganz allein Updike ist der Mockingbird, die Spottdrossel.

In extremer Raffung und aus einer hohen Vogelperspektive läßt sich sagen, daß das Thema der Ehe mit ihrer ökonomischen Fundierung, ihrer gesellschaftsstrukturellen Bedeutung und der religiösen und romantischen Überhöhung ihres sexuellen Kernbereichs die Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts dominiert hat wie kein anderes, um im zwanzigsten Jahrhundert dann rapide an Bedeutung verliert. Jane Austen kennt praktisch nichts anders, haargenau ist dabei aufgelistet, mit wieviel Pfund jedes Paar im Jahr rechnen kann, die einen hundert, die anderen zehntausend, kein geringer Unterschied, und natürlich fallen die zehntausend Elizabeth Bennet anheim, die an Geld nicht denkt und nur Sinn für die romantische Liebe hat; Tolstoi kniet sich in die Fragen der Ehe mit allem Ernst und unbändigem Erzählvermögen, bei Beckett, Bernhard und Sebald fehlt das Thema dann so gut wie ganz, auch wenn natürlich vereinzelt verheiratetes Personal auftritt.
To the Lighthouse könnte als herrlicher Spagat über den Zeiten gelesen werden, die feinen Bänder zwischen den Eheleuten Leslie & Julia Stephen alias Mr. & Mrs. Ramsay als Aus- und Nachklang eines großen Themas. Das Buch ist so fern von der Idylle wie denkbar und ihr doch so nahe, wie gerechterweise möglich. Mrs. Ramsay ist am Verheiraten junger und auch älterer Leute kaum weniger interessiert als Mrs. Bennet in Pride and Prejudice, alle fragen sich inzwischen aber, wieso denn nur, und die Ehe zwischen Paul und Minta, die, wenn man so will, unter ihren Dach geschmiedet wird, hat dann auch schon fast Updike-Format.

Updike, gestorben erst im einundzwanzigsten Jahrhundert, weigert sich untypisch, das Ringgeviert des Ehethemas zu verlassen, mit nicht nachlassendem und für den entfernten Beobachter nicht immer ganz verständlichen Vergnügen verfolgt er es bis zum Ende der Zeit und auch die Witwen von Eastwick sind naturgemäß ehemalige Ehefrauen. Auch die Maples sind irgendwann geschieden, und sofort neu verheiratet, es herrscht ein horror personae singularis. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Aufgaben der Ehe sind an der US-Ostküste erheblich reduziert, die religiöse Formung nicht mehr spürbar, und die Romantik wurde vielleicht in den USA ohnehin weniger entwickelt, man hatte keine Zeit, im neunzehnten Jahrhundert war der wilde Westen des Landes zu erobern – keim Wunder, daß angesichts der soziologischen Entkleidung des Ehebundes der sexuelle Nerv blank liegt. Updike, und das fällt auf, scheint aber wenig interessiert, ihn losgelöst vom Ehethema zu erforschen. Updike erzählt die Welt, die er im Osten der USA vorfindet, und in der er sich, when all is said and done, wohlgefühlt zu haben scheint. Tatsächlich ist es tief erheiternd, wenn Mrs. Maples sich in der Erzählung und über den Tod hinaus, denn die
Marching through Boston für die Bürgerrechtsbewegung engagiert, Mr. Maples spürbar weniger, froh stimmt die Geschichte vom Kohlkopf in Sublimating, auf besondere Weise ergreifend ist Plumbing, die Geschichte von dem verlassenen Haus. Mancher aber, der sich mit Virginia Woolf auf der Insel Skye oder mit Sebald in Norfolk besonders wohlfühlt hat, wird das alles in allem dann aber doch für die traurigen Tropen von Massachusetts halten, aber nichts spricht dagegen, Bücher über traurige Tropen zu schreiben und zu lesen, zumal wenn sie sich so ungeniert komisch geben wie in der letzten Maples-Erzählung Grandparenting.

Nobody belongs to us, except in memory, so schließt das Buch. Kunst ist immer Erinnerung und ein Bemühen, sich schadlos zu halten für die zugemuteten Unmöglichkeiten des Lebens.

* Hörprobe aus Wüstenhagen: Was die Maples betrifft, so lese ich sie als realistisches Bild der US-Gesellschaft dieser Jahre. Ich verstehe, daß man die "Tonart" nicht immer gleich findet, manchmal widerstrebt es einem, dieses Leben als echt und wirklich anzusehen, aber dann macht Updike eine kurze Beobachtung, ein Stocken in einem Satz, eine Geste, die einen inneren Vorgang verrät - und ich bin jedesmal von der Präzision dieser Schilderungen überwältigt. Selbst wenn die Gesellschaft anders lebt als die Updike-Figuren - die inneren Mechanismen der handelnden Personen stimmen immer. Das gilt m.E. bei Updike in fast gleicher Weise wie bei Proust. Vielleicht sollte man Updike lesen als wäre er Proust.

Freitag, 24. Juli 2009

Kynokyriologie

Wer die Tiere und vielleicht gerade die Hunde mehr liebt als die Literatur, wird Thomas Manns Herr und Hund dem Zauberberg vorziehen, Virginia Woolfs Flush der Mrs. Dalloway. Daran ist nichts Verwerfliches. Das Wunder der Begegnung über die biologische Gattungsgrenze hinweg, die einzige tiefe und unzweifelhafte Symbiose, die wir von Innen her erleben können, ist kein kleineres Wunder als das Wunder der Kunst, und die vergibt sich sicher nichts, wenn sie dem Thema nachgeht.

Wunderliche Seele! So nah befreundet und doch so fremd. They gazed at each other, Flush und Elizabeth Barrett - später dann Elizabeth Browning -, Elizabeth Barrett und Flush. Die Augen sind aufeinander gerichtet, die Stirnen dahinter aber verschlossen. Das ist, wenn wir auf den anderen Menschen schauen nicht anders, die Stirnen sind dicht, die Illusion des Verstehens gleichwohl erheblich stärker, und eine Illusion, an die man glaubt, ist schließlich keine bloße Illusion. Wollen wir uns in die Rolle des Hundes versetzen müssen wir die Augen nach oben richten zu einem Wesen über uns, aber in dieser Richtung hat Blickkontakt sich nie nachweislich herstellen lassen. Vielleicht verlassen wir uns auch zu sehr auf die Augen, to Flush religion itself was smell. In jedem Fall lernen wir in diesem Verhältnis, was es heißt der schwächere Teil zu sein, der die Hauptlast des Verstehens zu tragen und eine Theologie zu entwickeln hat. Fester Bestandteil einer vitaler Theologie sind Regeln, von denen man annimmt, sie seien vom Herrn gewollt oder ihm zumindest gefällig: Ein Gesetz seines Lebens ist, daß er nur rennt, wenn ich mich selbst in Bewegung befinde, sobald ich mich aber niederlasse, ebenfalls Ruhe beobachtet. Das hat keine erkennbare Notwendigkeit; aber Bauschan hält daran fest. Den selbstverordneten Regeln wird eindeutig der Vorzug gegeben gegenüber den von außen kommenden: Zäh in der gläubigen Treue, zeigte sich schon bald, daß er im Gehorsam durchaus nicht besonders stark war – und andererseits sind einige der selbstgesetzten Regeln dem Herrn durchaus nicht gefällig, aber das weiß nur der Herr: Er kommt zu mir, um sich abzuschütteln, so daß ein ganzer Sprühregen von Wasser und Schlamm mich anfliegt, was ihm gesetzmäßig scheint, darin läßt er sich nicht beeinträchtigen. – was sagt die offizielle Theologie zum Problem der von den Gläubigen befolgten, dem Herrn aber nicht gefälligen Gesetze? Wie im richtigen Leben wird die Theologie, oder sagen wir bescheidener, die Kyriologie in Herr und Hund entwickelt vom Geschöpf, als Kynokyriologie dann notgedrungen aber aufgeschrieben und kommentiert vom Herrn. Der Herr aber kann oft nur rätseln, für Blumenberg, der hartnäckig an der auf einen jugendlichen Übersetzungsfehler zurückgehenden Auffassung festgehalten hat, wonach Gott sich fürchtet und Gottes Ratschluß obendrein auch für ihn selbst unergründlich bleibt, hätte auch die Undurchsichtigkeit seiner Geschöpfe für Gott leicht zum Teil seiner Theologie werden können.

Die Darstellung von Landschaften und der sie besiedelnden Flora ist fester Bestandteil der Erzählprosa, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, bei Tolstoi mehr und bei Dostojewski weniger, bei Kafka weniger und bei Sebald mehr. Auch Bernhard ist ohne den Lärchenwald nicht denkbar, eine Prosa ganz ohne jeden Grashalm wäre in der Tat eine Wüstenei. Vögel fliegen durch die Bäume, ihr Gesang erklingt, aber aufs Ganze gesehen bleibt die Fauna wenig berücksichtigt, die Tiere sind, zumal dann, wenn sie die Augen auf uns richten, vielleicht zu sehr Konkurrenz im meistens auf das Menschengeschick konzentrierten Erzählvorgang. Man berichtet von der Jagd, und ist das Wild dann zur Strecke gebracht, tanzt Natascha Rostowa für uns auf unvergeßliche Weise.

Bei Sebald sind die Tiere, nimmt man die schiere Zahl der auftauchenden Motten, Heringe und Seidenwürmer, gegenüber den Menschen deutlich in der Überzahl, die Zahl der mit individualisierten und mit einem Personennamen versehenen Geschöpfe ist aber gering. Wir haben das Hündchen Toby im Roman Austerlitz, das in einer sonnendurchfluteten und meerzugewandten britischen Landschaft lebt, nicht unähnlichen Landschaften bei Virginia Woolf, ein Paradies und Toby ein winziger Teil davon, und wir haben den Dackel Waldmann in den Schwindel.Gefühlen. Aber ist ein Dackel, der Waldmann heißt, überhaupt individualisiert? Es wurde auch die Vermutung geäußert, seine Aufgabe bestehe nicht zuletzt nur darin, den Jäger Gracchus, in der Gestalt des Jägers Hans Schlag, an dessen Rucksack er angehängt ist, zu entkafkaeszieren mit seinem albernen Namen.

Bei Kafka selbst haben wir, neben einem Affen und verschiedenen Fabeltieren, unter anderem auch ein historisch verbürgtes Tier, Bucephalus, in seinem Äußeren erinnert aber nur noch wenig an die Zeit, da er noch Streitroß Alexanders von Macedonien war, und außerdem hat er sich bei der Advokatenkammer einschreiben lassen und ist damit in dem Zusammenhang, dem hier nachgegangen wird, nicht mehr verwendbar. Auch Hamsuns Äsop lebt kaum aus eigenem Recht, er ist vom Dichter von vornherein nur als grausam hingemeuchelte Opfergabe geplant. Eine ernstgenommene Romangestalt ist dagegen Fontanes Rollo in der Effi Briest, freilich nur in einer nachgeordnete Nebenrolle, wer wüßte schon den Namen seines Darsteller im Film noch zu nennen.

Der Hund Flush ist im gleichnamigen Buch Virginia Woolfs die Hauptperson, das Buch ist seine Biographie, komplett von der Wiege bis zur Bahre, auch wenn diese beiden Requisiten nicht tatsächlich in Erscheinung treten. Flush ist eine historische Gestalt, der Hund der Dichterin Elizabeth Barrett. Verschiedentlich wird auf die Ähnlichkeit der beiden, des Hundes und der Dichterin, angespielt, einleuchtend angesichts des auf allen überlieferten Bildnissen immer ein wenig leidend dreinschauenden und eng von Spanielohren durchaus vergleichbaren langen Drehlocken eingerahmten, dabei seltsam schönen Gesichts von Mrs. Barrett. Der Hund wird in dem Roman natürlich auch zu einem optischen Gerät der Richtungsänderung, das eine eigenwillige Beobachtung des Lebens von Elizabeth Garrett und Robert Browning aus der üblicherweise nach dem Frosch benannten Perspektive erlaubt.

Flush wird von der Dichterin Virginia Woolf zu nicht geringem Teil aus Briefen, Tagebucheintragungen und auch Gedichten der Vorläuferin im poetischen Beruf rekonstruiert. Damit liegt der Schleier des neunzehnten Jahrhunderts über der Tierpsychologie, die in einigen Passagen durchaus derjenigen des Katers Murr angenähert ist: When he watched her fingers for ever crossing a white page with a straight stick, he longed for the time, when he too should blacken paper as she did. Immerhin gelingt dieser Schritt Flush, anders als Murr nicht. Viele Passagen sind aber auch näher an der Wahrheit im Leben eines Schoß- und Stubenhundes: To resign, to control, to suppress the most violent instincts of nature – that was the prime lesson of the bedroom school. Dem auf einen gleichmäßigen Lebensverlauf angelegten Hundewesen kommt der Eintritt Robert Brownings in das Leben von Elizabeth Barrett, in dem er bis dahin die prominente Rolle spielte, schwer an. Er wird eingeführt in die schwer erträgliche Ambivalenz der Gefühle, hatred is not hatred, hatred is also love; here Flush shook his ears in an agony of perplexity. Die Flucht der drei nach Italien scheint zunächst kein Gewinn, to Flush all scenery was insipid, when they took him to Vallombrosa all the splendours of ist woods had merely bored him, das auch und nicht zuletzt für Hunde freiere Leben in Tuskien weiß er dann aber bald zu schätzen.

Ein Hundeleben währt noch kürzer als das einer Dichterin der Romantik, die aufgrund ihrer Konstitution und ihrer poetischen Berufung auf eine ausgedehnte Lebensspanne nicht hoffen konnte und sie auch nicht hatte. Mrs Browning went on reading. Then she looked at Flush again. But he did not look at her. He was silent. He had been alive; he was dead now. That was all. So bündig und leise schließt sich das Lebensbuch eines Hundes, daß aus der Stille die Frage nachhallt, wie es bei den Menschen denn anders sein könnte. The own little light might shine, not very brightly, for a year or two, ans would be merged into same bigger light, and that in a bigger still.

Der Hühnerhundbastard Bauschan ist in seinen besten Augenblicken das Inbild exzessiver Lebensfreude und vollkommenen Glücks. Seine Scheinabsicht, mir zwischen die Füße zu stoßen und mich zu Falle zu bringen, hat unfehlbare Täuschungskraft. Im letzen Augenblick aber weiß er zu bremsen und einzuschwenken, und nun beginnt er einen wirren Begrüßungstanz um mich herum zu vollführen, bestehend aus Trampeln, maßlosem Wedeln, das sich nicht auf das hierzu bestimmte Ausdruckswerkzeug des Schwanzes beschränkt, sondern den ganzen Hinterleib bis zu den Rippen in Mitleidenschaft zieht, ferner in einem ringelnden Sichzusammenziehens seines Körpers, sowie schnellenden, schleudernden Luftsprüngen nebst Drehungen um die eigene Achse. In Thomas Manns Erzählung steht niemand und nichts mehr zwischen den beiden einzig nennenswerten handelnden Personen, die auch gleich im Titel genannt sind, Herr (Thomas Mann) und Hund (Bauschan), andere schauen nur knapp hinein in das Geschehen, Familienangehörige, das Gesinde, die Fährleute, der Veterinärprofessor wegen okkulter Blutungen. Bauschan ist nicht irgendein Hund oder der Hund schlechthin, sondern ein Individuum mit allem Drum und Dran, am Ende sind seine Charakterkonturen nicht weniger scharf eingezeichnet als diejenigen Settembrinis oder Hans Castorps. Eine dritte Komponente allerdings, die erst das Ganze herstellt, tritt auffällig hinzu zu den ansonsten weitgehend einsamen beiden Protagonisten, die Landschaft nämlich, vom Dichter das Revier genannt, es handelt sich um einen Abschnitt in den Isarauen. Kann schon die Erzählprosa auf Landschaft und Flora kaum verzichten, Bauschan ist nichts ohne das Revier, das ihn als solches und als feuchter Dreck ebenso wenig interessiert, wie Flush der italienischen Szenerie irgendetwas abgewinnen konnte. Auf den täglichen Spaziergängen durch das Revier aber findet das gemeinsame Leben von Herr und Hund statt, für Bauschan das Leben schlechthin.

Durch das Fenster seines Arbeitszimmers hat der Dichter zuvor Bauschans karge und vergebliche Versuche einsamer Selbstverwirklichung beobachtet, er hebt das Bein und verharrt in dieser Position weit über jede Not und Vernunft hinaus, er dreht sich endlos um sich selbst, als könne die Wahl des Liegeplatzes nicht sorgfältig genug vonstatten gehen, um dann, hat er sich endlich niedergelassen, gleich wieder aufzuspringen, er streckt sich auf das ausführlichste, zunächst die Vorderpartie, dann die hintere, dann wälzt er sich auf dem Rücken und dann steht er regungslos, in starrer Weltverlorenheit auf dem Plan und weiß auch nicht das geringste mehr mit sich anzufangen. Abhelfen kann nur der gemeinsame Spaziergang, der seinerseits kulminiert in der Jagd, die einen Ausübenden, Bauschan naturgemäß, und im Herrn einen beobachtenden Teilnehmer hat. Aber auch für Bauschan hat die Jagd keinerlei Erwerbs- sondern ersichtlich nur Kunstcharakter. Allenfalls eine Maus wird dann und wann beklagenswertes Opfer, als sich einmal ein wilder Hühnervogel dank der besonderen Dummheit dieser Rasse arretieren läßt, bringt das den Hund nur in Verlegenheit. Die Jagd als Kunstausübung, das besagt aber nicht, daß sie nicht mit allem Ernst und aller Leidenschaft betrieben würde. Es ist die Leidenschaft, die gewollte, aufgesuchte und trunken genossene Leidenschaft selbst, die da durch die Landschaft gellt, und jedesmal wieder, wenn ihr wilder Schrei von fern oder nah an mein Ohr dringt, erschrecke ich auf eine heitere Weise, es fährt mir in die Glieder. – Bauschan als Künstler, es ist umsonst, es ist schön, aber vergeblich. Die Geburt der Kunst aus dem Geiste der Jagd? Höhlenmalereien sind so gedeutet worden. Ersichtlich lebt Bauschans Thomas Manns eigenes Kunstideal, ein Spiel, aber mit allem Ernst und aller Leidenschaft, ein Kunstideal, das der Dichter so irritierend mit der nur als aggressiv zu bezeichnenden bürgerlichen Gesetztheit seines Sprachstils kontrastiert.

Gerade in der deutschen Geistestradition fand der einsame und entsprechend eingestellte Wanderer gern zum Erlebnis der Einheit von Ich, Welt und Gott. Dieses hochfliegende Erlebnis läßt sich, sofern es sich überhaupt einstellt, nicht auf Abruf wiederholen. Anders der Gang mit dem Hund mit der gleichen Dreiklangstruktur, so lernen wir von Thomas Mann, wußten es aber auch bereits schon: Ich, Welt und das begleitende rätselhafte Wesen, der vertraute und doch wesensfremde Therapeut, zwei voneinander weit entfernte Wesen in der Welt, auf eine geheimnisvolle, ihnen keineswegs durchsichtige Art koordiniert. Als Bauschan zur Beobachtung okkulter Blutungen ins Spital verlegt wird, stellen sich beim Dichter sofort metaphysische Mangelerscheinungen ein: Meine Spaziergänge waren fortan, was ungesalzene Speisen dem Gaumen sind. Der Park schien mir öde, ich langweilte mich. Der Blick auf die Tiere als unsere kleineren Brüder ist der begrüßenswerte christlich domestizierte Blick. Kein Tier ist so weitgehend domestiziert, bei weiter bestehender Fremdheit, wie der Hund. Aufs ganze gesehen haben sich die Abrahamsreligionen aber nur wenig verdient gemacht um die Tierwelt, in den ursprünglicheren Religionen hatten die Tiere als Totem, heiliger Affe oder Kuh eine andere Stellung und haben sie an vielen Orten noch immer, unmittelbare und nicht selten bedrohliche Repräsentanten des Fremden und zugleich Gefährten bei seiner Bannung und Abwehr, Gefährten innerweltlicher Transzendenz.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Weiter, ihr Wellen, ihr wellen

Und eine solche Person getraut sich ohne weiteres zu sagen, daß sie noch besser schreibe als Virginia Woolf, daß sie in ihren Romanen weiter sei als die Wellen

In der Erzählliteratur hat England schon im neunzehnten Jahrhundert die Frauenquote ganz ohne staatlichen Zwang erfüllt, die Brontëschwestern, Jane Austen, Elizabeth Cleghorn Gaskell, George Elliot. Die aufblühende Kriminalliteratur haben die Damen praktisch allein in die Hand genommen, im zwanzigsten Jahrhundert dann Virginia Woolf.

Naturgemäß verhöhnt Thomas Bernhard seine Romangestalt mit realem Hintergrund (in der für ihn handelsüblichen zügellosen Weise: Nun saß ich der Wiener Virginia Woolf gegenüber, dieser abgeschmackten Gedichte- und Prosaschöpferin, die, das war jetzt auf einmal klar, zeitlebens nur in ihrem kleinbürgerlichen Kitsch gebadet hat), wenn er sie sagen läßt, sie sei weiter als Virginia Woolf, eine alte Frage aber ist und bleibt, gibt es dieses weiter überhaupt in der Kunst, in der Literatur? Nimmt man die herzerfrischenden Eheanbahnungsgeschichten der Jane Austen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert und hält die Wellen dagegen, so scheint die Rede von einem weiter nicht leicht von der Hand zu weisen, das Arsenal der künstlerischen Möglichkeiten ist ungleich reicher, der Blick geht ungleich tiefer. Verläßt man das Babje Zarstwo, das reine Frauenreich auf der Insel, und schaut etwa auf Tolstoi, jünger als Austen, älter als Woolf, wird man schon unsicher. Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert jedenfalls ist ein weiter in der Prosa nicht mehr festzustellen. Die Großen sind da, Proust, Joyce, Kafka, Woolf, es sind sicher mehr, aber diese zählen zum unumstrittenen Kern, neue kommen hinzu, wenige allerdings nur und jedenfalls nicht die Fünfhundert pro Jahr, die von den Verlagsanzeigen reklamiert werden. Jeder von ihnen ist neu und auch alt, denn ohne die Alten wären sie nicht. Jeder Künstler läßt uns die Welt neu sehen, aber es ist immer die alte Welt, die er uns neu sehen läßt. Ein weiter gibt es nur sehr bedingt im Bezirk der Kunst, den man sich andererseits auf keinen Fall vorstellen darf als eine Fläche mit leeren Flecken, die nach und nach auszufüllen wären. Jeder ausgefüllte Fleck, jede ergriffene Möglichkeit zieht zahllose weitere Möglichkeiten, bis dahin gar nicht einmal erahnbare, hinter dem Horizont hervor. Kunst entsteht dann, wenn eine solche Möglichkeit aus einer Notwendigkeit her ergriffen wird.

Bernhard ergießt seinen Hohn denn auch weniger über die ihm wehrlos ausgelieferte Wiener Virginia Woolf als über die Vorstellung des weiter. Er selbst hat die deutsche Sprache und ihre Syntax unter Hochtemperatur gezerrt, verdreht, verwunden und neu geformt, gleichzeitig ist sein Werk voll von den alten Meistern, Pascal, Novalis, Mendelssohn, Tintoretto. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, er sei in Amras weiter gegangen als Novalis. Jeder große Künstler besetzt ein neues Terrain, es muß aber nicht weiter draußen liegen, bei Sebald - den wir nie aus den Augen verlieren - vermuten nicht wenige, sein Terrain sei kein bißchen neu und er selbst ein durchaus nur retardierter Stifterepigone. Neu heißt nicht weiter, und weiter ist oft nicht neu. In den Waves, heißt es, sei Virginia Woolf besonders weit gegangen, habe sich sozusagen selbst übertrumpft. Wie muß man sich das vorstellen? Ist sie dabei über sich selbst erschrocken und hat in den Jahren und Zwischen den Akten den Rückzug angetreten, nicht zu reden von Flush? Vielleicht sogar. Bezüglich Joyce besteht stillschweigend Übereinkunft, daß er mit Finnegane's Wake vielleicht doch zu weit gegangen ist. William Gaddis’ Romane sind als Stimmenromane sicher radikaler noch und insoweit weiter als die Wellen, so schön und gelungen wie sie sind, möchte man aber doch nicht sagen, sie seien schöner oder gelungener als die Bücher der Virginia Woolf. Zugleich wird nicht jeder die Wellen als Virginia Woolfs gelungenstes und schönstes Buch ansehen – Schönheit dabei dreist und undefiniert als Quintessenz der Kunst verstanden.

Wenn es gesellschaftliche Aufgaben der Kunst gibt, dann vor allem die, sich dem harten und nahezu allumfassenden Diktat des Immerweiter, Immermehr nicht zu unterwerfen, immer mehr Freiheit, angeblich und was immer man jenseits eines unbestimmten Punktes darunter versteht, rastlose Weiterentwicklung der Technik, auch wenn sie uns dadurch insgesamt nicht fügsamer wird, immer mehr Güter, auch wenn die selbstzerstörenden Züge ihrer Produktion ständig deutlicher werden, immer mehr körperliche Höchstleistungen, auch wenn sie nur noch pharmazeutisch zu erzeugen sind. Auf der anderen Seite die Kunst, statisch, wie eine bedeutende Autorität schon vor einiger Zeit verordnet hat, auch wenn andere dem Ärgernis in ihren Augen abhelfen und sie, die Kunst, zum Gleichschritt immer nach vornhinaus bewegen wollen.

Der Roman Die Wellen besteht aus zwei separaten Erzählsträngen, alternierend vorgebracht in jeweils neun Kapiteln. Zum einen wird ein Sonnentag geschildert, die Bewegung der Sonne am Himmel und das Wellenspiel im wechselnden Licht. Die Sonne als Faktum und Symbol der unnachgiebig voranschreitenden Zeit und die Wellen als Faktum und Symbol der unablässigen Veränderung im ewig Gleichen. Vögel (the birds sang in the hot sunshine, each alone, each sang stridently, with passion, with vehemence) und Pflanzen (the topmost leaves of the tree were crisped in the sun, they rustled stiffly in the random breeze) kommen hinzu, auch Behausungen (the windows showed erratically spots of burning fire) aber geisterhaft, ohne ihre Bewohner. Der eine vergehende Tag, oft das Kleid einer von Virginia Woolf erzählten Menschengeschichte, hier menschenleer als er selbst geschildert, ein Weiter oder Mehr gibt es nicht. Und zum anderen das Leben von sechs Personen, drei Männern und drei Frauen: Bernard, Neville, Louis, Susan, Jinny und Rhoda, ihr Leben von der Kindheit bis zur Mitte des Lebens zu entnehmen allein ihren Stimmen und Worten. Hinzu kommt dann noch Percival who rode and fell in India und der seine Stimme nicht erhebt. Stimmen, aber keine Gespräche, Meinungsaustausch findet nicht statt, die sechs Protagonisten des Romans treten abwechselnd an die Rampe und tragen auf artifizielle Weise vor, der Einsatz jeweils in einem recht hohen Ton, entgegen der Unterweisung auf dem Einbanddeckel ganz und gar kein pure stream-of-consciousness style, nicht auszudenken, wenn unsere unbeaufsichtigten Bewußtseinsverläufe sich wohl bemessen in derart bedeutenden Bahnen bewegten. Im letzten Kapitel spricht dann nur noch Bernard, sein bisher gelebtes Leben und das der anderen spiegelt sich in seinen Wahrnehmungen und Erwägungen, diese nun in der Tat übergehend auch in ungeordnetere Bewußseinsbahnen.

The sun had not yet risen. The sea was indistinguishlable from the sky. The sun rose higher. Blue waves, green waves swept a quick fan over the beach. The sun rose. Light almost pierced the thin swift waves as they raced fan-shaped over the beach. The sun, risen, no longer couches on a green mattress darting a fitful glance through watery jewels, bared its face and looked straight over the waves. The sun had risen to its full hight. The waves broke and spread their waters swiftly over the shore. The sun no longer stood in the middle of the sky. The waves beneath were arow-struck with fiery feathered darts. The sun had now sunk lower in the sky. The waves no longer visited the farther pools. The sun was sinking. The waves, as they neared the shore, were robbed of light. Now the sun had sunk. Sky and sea were indistinguishlable.

Zwei Erzählstränge, wie gesagt, eins zu zehn das Umfangsverhältnis, welches ist der Hauptstrang? Natürlich der lange, wo es um die Menschen geht, wird man rufen, aber das muß nicht so sein. Philip Hoare hat unlängst ein Buch vorgelegt, in dem die Wale, Pottwale vor allem, im Vordergrund schwimmen, während die Menschen im Hintergrund stehen, wenn auch voller Mordlust. Wenn man die Waves öfters liest, kann man sie ruhig auch einmal von der Seite der Sonne und den Wellen her lesen, immerhin sind die für den Titel verantwortlich. Die Menschenstimmen sind dann kaum noch zu hören über den leise brechenden Wellen, the concussions of the waves breaking with muffled thuds, like logs falling, on the shore. Nur wir überhaupt hören den Stimmen zu, weil wir Menschen sind, niemand sonst, und auch wir hören die Stimmen der Menschen, als seien es Meereswellen, denen zuzuhören niemand je müde wird, weiter ihr Wellen. Time is issued in long white ribbons. Time seems endless, ambition vain. The waves broke on the shore.